Natur, Technologie und Gesellschaft im 21. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-593-45488-7
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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Einleitung. Leben Regieren
Katharina Hoppe, Jonas Rüppel, Franziska von Verschuer und Torsten H. Voigt Leben ist im 21. Jahrhundert auf bemerkenswerte Weise zum Gegenstand gesellschaftlicher Reflexion und Auseinandersetzung geworden.1 Nicht nur individuelles und öffentliches Leben sind dabei in den Fokus der Debatte gerückt, sondern auch die Voraussetzungen, Dynamiken und Interdependenzen von Lebensprozessen in einem viel grundlegenderen Sinne. Auf gravierende Weise anschaulich machte dies die Covid-19-Pandemie, die in vielerlei Hinsicht zur Herausforderung und Bedrohung für das Leben wurde: für individuelle Leben ebenso wie für kollektive Lebensformen; für lebenswissenschaftliche und alltagsweltliche Gewissheiten ebenso wie für politische Prozesse des Schützens und Regulierens von Leben. Eine zentrale Ursache dafür sind die mannigfaltigen Verwobenheiten des Lebens im 21. Jahrhundert. Zwar entfaltet sich Leben schon immer in einem Netz aus Relationen (vgl. Margulis und Sagan 1997) und unterläuft nicht erst heutzutage die vermeintlich fein säuberliche Trennung von natürlichen und sozialen Prozessen, die die moderne Vorstellung vom Leben geprägt hat (vgl. Latour 1995; Bonneuil und Fressoz 2016). Die essenzielle Relationalität verschiedener Sphären und Entitäten, heterogener menschlicher sowie mehr-als-menschlicher Leben tritt aber in gegenwärtigen Krisenerfahrungen besonders deutlich zu Tage. So offenbarten die Entstehung, die globalen Verbreitungsdynamiken und die politischen und ethischen Herausforderungen bei der Bewältigung der Pandemie, dass Leben aus Gefügen fragiler, biologischer Prozesse besteht, die untrennbar mit sozialen Dimensionen verknüpft sind: Es wurde deutlich, wie sehr diese Prozesse von Praktiken der Pflege und Sorge abhängen, verbunden sind mit psychosozialen Aushandlungsprozessen und die Möglichkeiten und Begrenzungen der materiellen Reproduktion des Lebens bestimmen (vgl. Mezes und Opitz 2020). Anders gesagt: die »biosoziale« (Rabinow 2014 [1996]) Existenz des Menschen wurde auf besonders aufdringliche Weise erkenn- und erlebbar. Auch retrospektiv entfaltet diese Erfahrung der biosozialen Verfasstheit des Lebens Wirkung, etwa in der Reflexion über die Bewältigung der Pandemie und deren Ursprünge in der komplexen Verwobenheit nicht nur menschlicher Leben (vgl. Lemm und Vatter 2022). So ist inzwischen weitgehend akzeptiert, dass es sich bei Covid-19 um eine Zoonose handelt, das heißt eine Erkrankung, die im Kontext massiv verengter Lebensräume von Wildtieren auf den Menschen übergegangen ist. Diese Auffassung unterstreicht, dass nicht nur menschliches Leben global interdependent ist, sondern dass sich menschliches und nicht-menschliches Leben in untrennbaren und wechselwirkenden Zusammenhängen entwickelt. Dass mehr-als-menschliches Leben immer mehr (Selbst-)Gefährdungen ausgesetzt ist, die zunehmend zu existenziellen Herausforderungen werden, unterstreicht auch die geologische Zeitdiagnose des Anthropozäns (Crutzen und Stoermer 2000; Lewis und Maslin 2015). Seit dessen Ausrufung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die These vom »Zeitalter des Menschen« in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften – aber auch über die Grenzen der akademischen Wissensproduktion hinaus – zum Gegenstand weitreichender Debatten geworden (vgl. Rees 2018; Folkers 2020; Barla 2023). Viel Resonanz erfährt dabei die Kritik an der Zentralsetzung des »Anthropos«, welcher die global und historisch ungleich verteilte Verantwortlichkeit und Vulnerabilität hinsichtlich der ökologischen und klimatologischen Zerstörungen und Destabilisierungen verschleiert (vgl. Barla und von Verschuer 2022). Diese Kritik wurde zur Quelle einer ganzen Reihe alternativer Neologismen, welche anstelle eines undifferenzierten »Anthropos« unterschiedliche gesellschaftliche Zusammenhänge zum Eponym machen, aus denen die sozial-ökologischen Verheerungen der Gegenwart erwachsen und ungeachtet derer sie nicht zu begreifen, geschweige denn zu bekämpfen sind. Besonders prominent sind die Diagnosen des Kapitalozäns (Moore 2015) und des Plantagozäns (Mitman et al. 2019). Erstere betont die Herausbildung einer kapitalistischen »Weltökologie«, in der natürliche Ressourcen ebenso wie menschliche Arbeitskraft als »billige Natur« ausgebeutet werden. Letztere rückt die in der kolonialen Moderne entstandene Plantagenwirtschaft in den Fokus und unterstreicht deren Bedeutung für die Konstitution eines ökozidalen Systems der radikalen Simplifizierung und Ausbeutung menschlichen und mehr-als-menschlichen Lebens entlang rassifizierter Marker.2 Jenseits dieser Kritik an der vereinheitlichenden Geste des »Anthropos« ist die dem Diskurs um das Anthropozän zugrundeliegende These unumstritten, dass zumindest ein Teil der Menschheit oder bestimmte Formen der Organisation gesellschaftlichen Lebens zu einer Kraft von geologischem Ausmaß geworden sind. Letztere evoziert inzwischen so tiefgreifende Transformationen des Planeten, dass jener zunehmend »zurückschlägt« (Wallace-Wells 2018; siehe auch Latour 2017). Globale Erwärmung, der massive Verlust biologischer Vielfalt, die Übersäuerung der Ozeane und die Erosion fruchtbarer Böden sind nur einige der meistdiskutierten Beispiele für die gravierenden Veränderungen der Bedingungen mehr-als-menschlichen Lebens auf der Erde. Insofern diese Transformationen mit Praktiken des Aneignens, Nutzbarmachens und Ausbeutens von nicht-menschlichem ebenso wie menschlichem Leben zusammenhängen, sind die ökologischen Herausforderungen und Gefährdungen der Gegenwart stets nur in ihren jeweils spezifischen Verflechtungen von Natur und Gesellschaft angemessen zu begreifen. Vor dem Hintergrund dieser und vieler weiterer Entwicklungen sind Prozesse des Lebens in den vergangenen Jahrzehnten auch zum zentralen Gegenstand von Technologieentwicklung geworden. Technologische Innovationen in den Gesundheits- und Umweltwissenschaften, im Bereich der Künstlichen Intelligenz, in den Neurowissenschaften, der Genomik oder der Reproduktionsmedizin werden als Antworten auf die Herausforderungen und Fragilitäten des Lebens verstanden. Sie eröffnen heute neue Möglichkeiten und Freiheiten in der Gestaltung des Lebens und dessen Anpassung an veränderte Bedingungen – und produzieren zugleich neue Grenzen und Zwänge. Während diese Ambiguitäten in einigen Fällen Gegenstand öffentlicher Debatten um neue Technologien sind, wie beispielsweise im Kontext der assistierten Reproduktion (Rödel 2015; Lemke und Rüppel 2017) oder der Vision einer Robotisierung von Sorgearbeit (Hauck und Uzarewicz 2019; Erhard 2022), werden technologische Entwicklungen in anderen Bereichen weitgehend ungebrochen mit gleichsam heilsbringenden Versprechen assoziiert. Dies wird etwa am Beispiel der Konservierung vom Aussterben bedrohter Lebensformen und der Phantasie, Leben von der Sterblichkeit zu befreien, deutlich (Radin und Kowal 2017; Verschuer 2019; Braun et al. 2023). Ähnliches zeigt sich aber auch im Fall von Technologien des Geoengineerings angesichts einer scheinbar aus der Kontrolle geratenen sowie zunehmend katastrophischen Welt (Baskin 2019; Möller 2023) oder des Human Enhancements angesichts eines Lebens innerhalb körperlicher Grenzen, die als Behinderung oder Beschränkung der persönlichen Entfaltung erfahren werden (Heinemann 2010; Wehling 2011; Wagner 2017). Wie die hier zitierten sozialwissenschaftlichen Studien in verschiedenen Feldern herausarbeiten, wird in solchen Formationen von Natur und Gesellschaft, Mensch und Maschine, Körper und Geist neu verhandelt, was überhaupt als Leben gilt, wie Leben regiert wird und was sich einer solchen Regierung des Lebens entzieht. In der beschriebenen Gemengelage ist es kaum verwunderlich, dass »das Leben« und die verschiedenen Formen seiner Regierung zu einem zentralen Gegenstand sozial- und gesellschaftstheoretischer Reflexion geworden sind. Einen wichtigen Anknüpfungspunkt dafür bieten oftmals die Arbeiten von Michel Foucault, der bereits Mitte des 20. Jahrhunderts die Technologien der Regierung des Lebens in den Fokus rückte (1977; 1999). Im Anschluss an seine Analytik der Biopolitik sind seither vielfältige Formen des regierenden Zugriffs auf das Leben beschrieben und so dessen Verankerung und Hervorbringung in Macht-Wissen-Komplexen veranschaulicht worden (vgl. Folkers und Lemke 2014). Wie die oben skizzierten Beispiele verdeutlichen, differenzieren sich die technologischen Möglichkeiten des Zugriffs auf Leben jedoch immer weiter aus. So...