Hristov | Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 170 Seiten

Hristov Facetten tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie

Erfahrungen, Techniken, Schlüsselmomente

E-Book, Deutsch, 170 Seiten

ISBN: 978-3-17-039796-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wie läuft eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in der Praxis ab? In diesem Buch nehmen elf Therapeutinnen und Therapeuten die Leserinnen und Leser mit in ihre Therapiestunden. Sie zeigen anhand von Behandlungssequenzen, Verläufen und Interaktionen die Vielfalt des therapeutischen Arbeitens und erläutern die Grundbegriffe der Tiefenpsychologie. Psychodynamische Therapieansätze werden verständlich vermittelt und mit Fallbeispielen veranschaulicht. In persönlichen Einblicken schildern die Therapeutinnen und Therapeuten, wie sie ihre Sitzungen und ihre Arbeit erleben. Der hohe Praxisbezug macht die Texte auch für Anfängerinnen und Anfänger nachvollziehbar.
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2
Die ersten Begegnungen in der Psychotherapie
Kerstin Neuthe
Eine junge Patientin sprach erstmals über dramatische Erinnerungen und wollte sich ihrer endlich entledigen, indem sie versuchte, alles zu erzählen und sich nicht mehr stoppen konnte. – Eine Frau hielt ihrem stattlichen Mann im Wartezimmer die Hand mit den Worten »Damit er auch wirklich mit reingeht« und er stand zögernd auf. – Eine ältere Patientin gab mir gleich nach der Begrüßung ihren Klinikbericht in die Hand. Aus diesen einzelnen Szenen meiner ambulanten psychotherapeutischen Praxis lässt sich erahnen, wie lebendig die Begegnung zwischen Patient*in und Therapeut*in in den ersten Psychotherapiestunden sein kann. Die ersten Kontakte in der Psychotherapie sind außergewöhnlich und intensiv: Zwei Unbekannte treffen aufeinander und eine*r spricht über sich. Für Psychotherapeut*innen hingegen nimmt mit jeder der vielen ersten Begegnungen die Erfahrung zu und es sinkt die Unsicherheit gegenüber dieser besonderen menschlichen Situation. Über die Berufsjahre hinweg ertappe ich mich immer wieder dabei, die Brisanz – vor allem der allerersten Begegnung – für die Patient*innen zu unterschätzen. Doch was genau passiert in den ersten Begegnungen in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie? Was gibt den Anstoß für einen inneren Entwicklungsprozess und lässt unsere Patient*innen irgendwann sagen: »Dieses Gefühl quält mich nicht mehr.« »Jetzt verstehe ich, was ich da tue.« »Die Therapie ist wie eine zweite Geburt.« Es ist schwierig, in Worte zu fassen, was genau heilsam ist. Heilsam ist nicht allein die Intervention – Heilung oder Entwicklung hängt vorrangig mit der therapeutischen Beziehung zusammen, dem wichtigsten Wirkfaktor der Psychotherapie. Wie Forschungsergebnisse belegen und in diversen Psychotherapielehrbüchern (Boessmann & Remmers, 2018; Körner, 2018) herausgearbeitet ist, hat die Qualität der Therapiebeziehung – aus Patient*innensicht – den höchsten Einfluss auf das Ergebnis der Behandlung. Die hilfreiche therapeutische Beziehung ist wie ein unsichtbares Fundament, es wird in den ersten Begegnungen gelegt und trägt über die gesamte Zeit der Behandlung. In den folgenden Ausführungen verdeutliche ich die Bedeutung der ersten psychotherapeutischen Begegnungen und beschreibe weniger theoretische Inhalte, sondern mehr den praktischen Umgang. Anfangs spanne ich den therapeutischen Beziehungsraum auf, veranschauliche den auftauchenden Konflikt zwischen Versuchung und Versagung und die besondere therapeutische Haltung. Im Mittelteil charakterisiere ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – wesentliche Bestandteile der ersten Begegnungen, die einen Zugang zur unbewussten Psychodynamik begünstigen: das Verstehen von Szenen, von Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamiken sowie die Anwendung der Probetherapie. Schließlich geht es im letzten Teil um das Zeichnen eines Bildes. 2.1       Aufspannen des therapeutischen Beziehungsraums
2.1.1     Versuchung und Versagung
Der Beginn einer Psychotherapie ist eine regelrechte Zumutung für Patient*innen. Einesteils kann es für sie eine offensichtliche Kränkung und Beschämung bedeuten, etwas nicht alleine bewältigen zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein. Doch damit nicht genug: Die Hilfesuchenden werden bereits bei Aufnahme des therapeutischen Kontakts in einen elementaren, unvermeidbaren Konflikt zwischen dem Wunsch nach Beziehung und einer möglichen Frustration hineingestoßen. Die therapeutische Begegnung stellt sowohl eine Versuchungssituation als auch eine Versagungssituation dar. Die treffenden Begriffe Versuchung und Versagung wurden von Harald Schultz-Hencke (1892–1953) geprägt. Die bewusste Versuchung (Anziehung, Anreiz) in der Psychotherapie ist die Hoffnung, psychisch gesund zu werden. Die unbewusste Versuchung ist oft mit Beziehungswünschen verknüpft, wie etwa endlich verstanden, akzeptiert und geborgen zu sein. In jeder möglichen Versuchung oder in jedem Beziehungswunsch steckt gleichzeitig eine Angst vor dessen Versagung (Absage, Ablehnung). Die Versagung ist unvermeidbar: Die durch den gesetzlich-formalen Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien geregelte therapeutische Beziehung ist immer nur ein begrenztes Angebot. Schon Hermann Hesse (1877–1962) ermutigt in seinem Gedicht »Stufen«, sich immer wieder auf diese Versuchung der Begegnung einzulassen, da jedem Anfang ein Zauber innewohne und er betont, gleichzeitig zum Abschied bereit sein zu müssen, also Versagungen anzunehmen. Dieses kulturübergreifende, menschliche Thema machen sich Tiefenpsycholog*innen zunutze. Nachfolgend das Beispiel einer Patientin mit emotional instabiler Neurosendisposition und ihrem Umgang mit dieser Konflikthaftigkeit in der therapeutischen Beziehung. Eine Patientin brach immer wieder die Therapie mit der Begründung ab, ich sei »zu sachlich«, beende die Sitzung immer »überpünktlich« – sie könne sich deshalb »nicht einlassen«. Nach jedem Abbruch meldete sie sich einige Tage später wieder und wollte die Therapie unbedingt fortführen – nur ich könne ihr helfen. Hier ist sichtbar, wie sehr sie zwischen der Versuchung einer idealen Therapiebeziehung und der Versagung, der Begrenztheit der emotionalen Beziehung hin- und hergerissen war. Intrapsychisch sind Versuchung und Versagung nicht integriert, sondern voneinander abgespalten. Versagungen erlebte sie als vollständige Ablehnung. Um das Gefühl des Abgelehnt-Seins abzuwehren, projizierte sie es auf mich und spaltete Beziehungswünsche aus ihrem Erleben; solange, bis ihre starken Wünsche nach emotionaler Beziehung wieder in ihr Bewusstsein drängten. Allein das Angebot einer Therapiebeziehung traf bei dieser Patientin auf so starke innerpsychische Ambivalenzen bzw. Unvereinbarkeiten, dass sie das Zustandekommen einer stabilen Therapiebeziehung boykottierte. Psychodynamisch arbeitende Behandler*innen eröffnen von Beginn an freie Situationen der Begegnung. Sie lassen sich mit allen Sinnen auf die Interaktion mit ihren Patient*innen ein. Sie vergessen zunächst alle Theorien und sind offen für alles, was innerlich wie äußerlich passiert oder eben auch nicht. Gerade dann kann sich die jeweils eigene Beziehungsdynamik in dem unvermeidbaren Konfliktpotential zwischen Versuchung und Versagung entfalten. Im Erkennen der im therapeutischen Kontakt auftauchenden Beziehungsdynamik liegt eine große therapeutische Chance. Ähnlich wie aus einem unter dem Mikroskop betrachteten Tropfen Blut direkt Rückschlüsse auf den Zustand des ganzen Körpers gezogen werden können, so können aus einzelnen therapeutischen Begegnungen Rückschlüsse auf innere Vorstellungen der Patient*innen von Beziehungen und die darin manifestierte Psychopathologie gezogen werden. 2.1.2     Die therapeutische Haltung
Vor einem Jahr sammelte meine damals dreijährige Tochter täglich Gegenstände wie Blätter oder Stöcke und gab sie mir. Ich sollte alles in meiner Hand halten. Einige Teile legte sie dann in eine Schatzkiste. Besonders zufrieden war sie, wenn ich mich auch für ihre Schätze interessierte. Einmal zeigte sie mir zwei Papierschnipsel und einen Mandarinenkern; ich habe es zwar bestaunt, dann aber gewohnheitsmäßig in den danebenstehenden Papiereimer fallen lassen. Sie rief empört: »Mama!«. Ich entschuldigte mich und angelte alles wieder aus dem Papierkorb. Heute, ein Jahr später, sammelt sie Schätze in ihren eigenen Jackentaschen. Dieses Halten oder Aufbewahren von Gesammeltem muss zunächst von den Bezugspersonen übernommen werden, bevor Kinder es selbst können. Zudem ist es ein Äquivalent für das spätere Wahrnehmen und Bewahren von eigenen Gedanken und Gefühlen. Ähnlich wie Eltern die Funde ihrer Kinder aufbewahren, gemeinsam betrachten und benennen, ist gerade in den ersten Begegnungen der Behandlung eine ähnliche therapeutische Haltung förderlich. Durch dieses Aufbewahren entsteht ein Raum für die in der Therapie zentrale Selbsterfahrung. Tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Psychotherapeut*innen sammeln und bewahren aber nicht nur das offensichtlich Präsentierte. Sie sind darauf spezialisiert, die verborgenen unbewussten Schätze und Potentiale, aber auch das Unerträgliche zu entdecken und innerlich zu bewahren. Es ist das Abgewehrte – den Patient*innen ist es nicht möglich, es als Teil ihrer selbst wahr- oder anzunehmen. Der von Wilfred Bion geprägte Fachbegriff dazu lautet Containing und bedeutet, zunächst die Äußerungen und Projektionen der...


Julia Hristov ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in einer psychiatrischen Ambulanz sowie als Dozentin an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie tätig.

Mit Beiträgen von:
Julia Hristov, Kerstin Neuthe, Anna Radon-Wolf, Frank Stula, Cornelia Leistner, Lalenia Zizek, Meike Pudlatz, Sabine Hoffmann, Lena Kuhlmann, Martin Kaschke und David Roth.


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