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E-Book

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

Hummel Gute Nacht, Liebster

Demenz. Ein berührender Bericht über Liebe und Vergessen

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

ISBN: 978-3-7325-0087-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Hilda und Hans sind seit dreißig Jahren verheiratet. Doch langsam beginnt Hans sich zu verändern. Zuerst wundert sich Hilda über ihn, findet sein Verhalten manchmal unverschämt. Als ein Neurologe ihn dann fragt: "Wie heißen ihre Töchter?", weiß Hans die Antwort nicht. Die erschreckende Diagnose: Demenz. Schon bald kann er seiner Frau Hilda kein Partner mehr sein und wird zum Schwerstpflegefall. Obwohl die Belastung fast unmenschlich erscheint, entscheidet Hilda, dass sie sich zu Hause um ihren Mann kümmern wird. In diesem sehr persönlichen Buch spricht sie über ihren Alltag, ihre Ängste und ihre intimsten Gedanken. Ihr Bericht ist ein bewegendes Plädoyer für die Liebe.
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1955
Hans hatte einen schwarzen Parallelo an – einen Pullover mit Fledermausärmeln und U-Boot-Ausschnitt, der von rechts nach links gestrickt war – man fing an einem Ärmel an und hörte am Bündchen des anderen auf. Parallelos waren Mitte der Fünfziger gerade modern und sehr teuer. Das wusste ich deshalb so genau, weil ich selbst nicht viel Taschengeld bekam und mir nie viel kaufen konnte. Im Vergleich zu heute besaß ich nur wenig zum Anziehen. Meine besten Stücke waren ein dunkelblauer Faltenrock aus Schurwolle und ein roter, kurzärmeliger Angorapulli. Beides trug ich, als ich Hans zum ersten Mal begegnete. Ich lernte ihn durch seinen Cousin Peter kennen, der mit meiner Schwester Franziska angebandelt hatte. Peter war neunzehn, und Franziska schwärmte für ihn; er war zwei Jahre älter als sie und hatte schon einen Führerschein. »Das ist mein Vetter Hans, und das ist die Hilda«, sagte Peter und legte den Arm um Franziska. Es war offensichtlich, dass er Hans mitgebracht hatte, weil er mit ihr allein sein wollte. Ich musterte Hans verstohlen, obwohl ich mich damals für Jungen noch nicht interessierte. Ich war vierzehn und noch nicht richtig in der Pubertät. Trotzdem fiel mir auf, dass er sehr gut aussah – groß, schlank und sportlich, mit dichten dunkelbraunen Haaren. Als sich unsere Blicke trafen, schaute ich schnell weg. Während Franziska und Peter spazieren gingen, stiegen Hans und ich in den offenen Heuschober und rutschten die Heuhaufen hinunter, etwa fünf Meter tief. Wieder und wieder, es machte einen wahnsinnigen Spaß. Doch auf einmal hatte Hans in seinem schicken schwarzen Pullover ein Loch. »Oh«, sagte er nur, »da wird meine alte Dame sauer sein. Da krieg ich Prügel.« »Was? Die schlägt dich?«, fragte ich ungläubig. Solche Erziehungsmethoden gab es bei uns zu Hause nicht. Er nickte, und ich spürte ein Ziehen in der Magengegend. Ich wollte ihm anbieten, den Pullover zu stopfen. Doch dann biss ich mir auf die Zunge. Ich ahnte, dass mir die Arbeit nicht gut von der Hand gehen und seine Mutter meine stümperhaften Versuche bemerken würde. Also schwieg ich. Peter erlaubte Hans, mit seinem Mercedes die Feldwege entlangzufahren, auch wenn das Wahnsinn war, weil Hans erst fünfzehn war und noch keinen Führerschein hatte. Hans fuhr schnell; wenn ich dabei die Augen schloss, fühlte es sich an, als würde ich fliegen oder als stünde mir die Welt offen -so beschwingt und berauscht war ich. Hans’ Mutter wusste nichts von seiner heimlichen Leidenschaft für schnelle Autos, das erzählte er mir. Für sie war es in Ordnung, wenn ihr Sohn stundenlang unterwegs war – sie war mit der Arbeit in der Firma beschäftigt. Hans war schon damals ein guter Autofahrer. Er rangierte im Unternehmen seines Vaters immer heimlich die Lastwagen rückwärts in die Hallen. Die Firma stellte Erntemaschinen her, sein Vater war einer der Inhaber. Es war ein großer Betrieb mit etwa fünfhundert Mitarbeitern. An dem Abend, nachdem Hans und Peter bei uns gewesen waren, lag ich länger wach als sonst. Ich roch noch den Duft des Heus, spürte den Rausch der Geschwindigkeit in meinem Kopf. Und auch an Hans dachte ich. Ich wünschte mir, er möge bald wiederkommen. Er gefiel mir, ohne dass ich schon hätte sagen können, warum. Das heißt, vielleicht hätte ich es sogar sagen können. Aber dazu hätte ich über ihn nachdenken müssen, und so weit war ich noch nicht. Im darauffolgenden Jahr kam er oft allein oder mit einem Freund zu uns, ohne dass einer von uns ausgesprochen hätte, warum. Ich war stolz, dass er das meinetwegen tat, denn immerhin musste er mit dem Fahrrad etwa fünfzehn Kilometer fahren, eine Strecke, auf der es ständig bergauf und bergab ging. Meistens spielten wir auf dem Hof Fußball mit meinen Schwestern und deren Freunden. Einmal aber hatten wir uns eine Höhle im Heu gebaut und waren hineingekrochen. Drinnen war es dämmrig, das Heu duftete und kitzelte in der Nase. Durch ein Fenster im Heuschober fielen Sonnenstrahlen herein, in denen der Staub tanzte. Von draußen hörte man gedämpft die Geräusche eines Traktors. Fliegen surrten. Wir lagen nebeneinander in unserer Höhle, auf die Ellenbogen gestützt. Heute sind die Jugendlichen in dem Alter schon viel weiter, doch wir waren noch sehr kindlich damals, sodass uns die Nähe des anderen nicht befangen machte. Ich erzählte Hans, dass ich nie wüsste, warum ich beichten gehen sollte, und dass ich dem Pfarrer daher in meiner Not bei der letzten Beichte erzählt hätte, ich hätte getötet. »Als er mich dann gefragt hat, wen ich denn getötet hätte, hab ich gesagt: ›Ameisen und Käfer. Ich bin aus Versehen draufgetreten«, sagte ich, und wir mussten lachen. Hans fing eine Spinne, die über meinen Kopf krabbelte, und hielt sie mir vor die Nase. »Lass sie laufen«, sagte ich. Ich ekelte mich kein bisschen, immerhin kam ich vom Bauernhof. Wir blickten der flüchtenden Spinne nach. Als sie verschwunden war, begann Hans von seinem Vater zu erzählen, der vor kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und dessen Platz er nun ausfüllen sollte. Seine beiden Brüder waren noch zu klein dafür. »Ich kann das nicht«, stieß er hervor. »Ich will nicht beim Essen auf seinem Platz sitzen, und ich will auch nicht seine Rolle einnehmen.« Ich nickte und bemerkte, dass er mit den Tränen kämpfte. »Tut sie dir weh?« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Er schüttelte den Kopf. »Aber ich soll meinen kleinen Bruder manchmal schlagen, wenn er frech war.« »Deinen eigenen Bruder?« Wieder nickte er. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut oder Hilflosigkeit. Um ihn zu trösten, legte ich meine Hand auf seinen Arm. Er tat mir leid, gleichzeitig war ich froh, dass er mir solche Geheimnisse anvertraute. Und noch etwas ging mir durch den Kopf, als ich ihn berührte: dass dies etwas anderes war als die Berührungen, die wir sonst austauschten. Ich konnte die Härchen auf seinem Arm spüren, seine warme Haut. Er gefiel mir, dieser Arm, auf eine Art, die ich vorher nicht gekannt hatte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Hans stützte den Kopf in die Hände und blieb ganz still liegen. Und ich streichelte ihn weiter und fühlte mich seltsam dabei. Nicht mehr wie ein Mädchen, noch nicht wie eine Frau. In jenem Sommer waren wir außer an diesem einen Tag nie allein, auch wenn ich es mir manchmal wünschte. Einmal brachte Hans einen Austauschschüler aus Amerika mit. Das war damals etwas Besonderes, und es beeindruckte mich, wie gut Hans sich mit ihm verständigen konnte. Ein anderes Mal fuhren wir gemeinsam mit Freunden mit dem Fahrrad zum Baggersee und überboten uns mit Mutproben: bis zur Insel und zurück schwimmen, vom Floß aus in den See springen, sich trotz der Blutegel in den Sumpf trauen. Die Wochen waren erfüllt von einer atemlosen Spannung. Hatten diese Minuten im Heu bei Hans die gleichen Gefühle ausgelöst wie bei mir? Ich wünschte mir, mit ihm zu reden, und hatte doch Angst davor. An einem warmen Sommertag Anfang August 1957 passierte es dann. Am Morgen hatte ich im Radio gehört, dass Oliver Hardy gestorben war, und ich war bestürzt darüber gewesen, weil ich die »Dick und Doof«-Filme sehr gemocht hatte. Hans fuhr mit seinem neuen roten Mofa bei uns vor, einem schrecklichen Ding mit langem Rennsattel, auf dem er lag wie ein Affe. Aber ich sah ein, dass das Mofa bequemer war als das Fahrrad. Hans hatte eine Umhängetasche dabei, er trug sie über seiner Lederjacke. Sie fiel mir deswegen auf, weil sie sehr damenhaft aussah – cremefarbener Lack mit goldenen Schnallen. Ich vermutete, dass sie seiner Mutter gehörte. »Was ist da drin?«, fragte ich, als er das Mofa abstellte. »Ich hab was für dich«, sagte er bloß, und schon begann mein Herz zu pochen. Aber noch bevor ich ihn bitten konnte, die Tasche zu öffnen, kamen meine Schwestern Franziska und Christa dazu. Sie nahmen sein Mofa in Augenschein, bemängelten hier eine Kleinigkeit und lobten da etwas. Ich beobachtete, wie die beiden sich mit Hans unterhielten. Sie behandelten ihn, als sei er schon in ihrem Alter, dabei war Franziska zwei Jahre älter als er und Christa sogar vier. Es schmeichelte mir, dass sie ihn akzeptierten, denn die beiden waren viel reifer als ich. Franziska war kurz davor, ihr Medizinstudium aufzunehmen, sie las in ihrer Freizeit dicke Fachbücher und ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich ihrem künftigen Beruf mit Leib und Seele verschreiben würde. Sie war kurzsichtig und hatte sich eine Hornbrille ausgesucht, hinter der ihr hübsches Gesicht beinahe verschwand. Sie hätte damals mehr aus sich machen können. Christa hingegen war in meinen Augen eine richtige Dame. Ich beneidete sie um ihr hinreißendes Gesicht und ihre Figur, schlank und doch mit Kurven. Ich fand, dass sie sich kleidete wie ein Filmstar, auch wenn unsere Mutter immer die Augen verdrehte und ausrief: »Kind, wie siehst du denn wieder aus?« Christa hatte viele Verehrer, die ihr zu Füßen lagen. Jeden Abend ging sie mit einem anderen aus, wobei mit keinem wirklich etwas lief. Als die beiden das Mofa genug bewundert hatten, gingen Hans und ich hinunter in den Obstgarten und setzten uns auf eine Bank. »Jetzt zeig schon. Bitte.« Ich wies auf die Tasche. »Warte noch«, sagte er. »Wahrscheinlich bist du gleich enttäuscht. So toll ist es nun auch wieder nicht.« Ich lehnte mich zurück und erzählte ihm den neuesten Klatsch aus der Schule. Wir gingen auf unterschiedliche Schulen, er auf eine Jungenschule, ich auf eine Mädchenschule, aber dennoch kannten wir die meisten Klassenkameraden des anderen. Wir fuhren mit dem Zug zur Schule, und man begegnete sich morgens auf dem Bahnsteig. Viele kannten...


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