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E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Hurtig Paradise Lost

Vom Ende der Vielfalt und dem Siegeszug der Monokultur

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-96238-715-0
Verlag: oekom verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Ein Blick in die Historie der Landwirtschaft erklärt uns viel über gesellschaftliche Entwicklungen. Florian Hurtig führt uns durch die Geschichte der Menschheit und des Anbaus ihrer Nahrungsmittel – von den Baumgärten der frühen Jomon-Kultur in Japan über die Anfänge der staatlichen Disziplinierung des Landbaus in Mesopotamien bis hin zur kolonialen Plantagenwirtschaft und zur Agrarindustrie unserer Tage.

Er zeigt dabei eindrucksvoll, wie die Bildung hierarchischer Gesellschaften und Staaten zum Verlust vielfältiger Systeme geführt hat. So wurde der Weg geebnet für die bis heute vorherrschenden Strukturen: Monokultur, Monotechnik, Monopol.

Das Buch blickt dabei nicht nur zurück, sondern erzeugt eine klare Vorstellung davon, wie wir unsere Landwirtschaft und unsere Gesellschaften verändern müssen, um den aktuellen Krisen zu begegnen.
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2.
KAPITEL Pflugscharen zu Schwertern Göbekli Tepe – Monumentalbauten und Plantagenarbeit
Wodurch genau der Anbau von Getreide im Nahen Osten motiviert wurde, darüber besteht bis heute unter Archäolog*innen keine Einigkeit. Weit verbreitet ist bisher die These der »leer geschossenen Savanne«, die davon ausgeht, dass aufgrund überjagter Wildbestände, eines sich wandelnden Klimas und einer wachsenden Bevölkerung Druck entstand, neue Subsistenzstrategien zu finden. Sie wird heute immer mehr angezweifelt, vor allem deshalb, weil die Orte, an denen Getreide erstmals kultiviert wurde, keine Orte der Knappheit waren, sondern Orte des Reichtums an potenzieller Nahrung.1 Man muss sich angesichts dieser Erkenntnis also die Frage stellen: Wieso gingen Menschen in einer Zeit der Fülle auf einmal zum deutlich arbeitsintensiveren Ackerbau über? Anhaltspunkte dafür, wo wir mit der Suche nach der Lösung dieses Rätsels beginnen sollten, bietet die Genanalyse des Weizens. Durch einen Abgleich mit dem Genom von Wildpopulationen kann genau bestimmt werden, wo Kulturweizen erstmals angebaut wurde. Dieses Vorgehen führt uns in die unmittelbare Umgebung von Göbekli Tepe am mittleren Euphrat im Südosten der heutigen Türkei. Göbekli Tepe war sicherlich die archäologische Überraschung um die letzte Jahrtausendwende. Im Jahr 1995 machte ein deutsches Team von Archäolog*innen unter Leitung von Klaus Schmidt hier Funde, die den ursächlichen Hergang der erstmaligen Kultivierung von Getreide in ein ganz neues Licht rückten. Es wurde eine monumentale Tempelanlage ausgegraben, die schon um 12.000 v. Chr. erbaut wurde, also deutlich früher als Stonehenge, dessen auffälligste Monolithe zwischen 2500 und 2000 v. Chr. errichtet wurden. Und vor allem wurde das Heiligtum von Göbekli Tepe erbaut, noch bevor Menschen Getreide oder wilde Tiere domestiziert hatten – was später aber genau im Umfeld dieses Tempels passieren sollte. Die Anlage besteht aus mehreren Tempeln, welche alle nach dem gleichen Muster erbaut wurden: In der Mitte der Anlage stehen zwei große T-Pfeiler, aus Stein geschlagen, bis zu sechs Meter hoch und zwanzig Tonnen schwer. Um diese Pfeiler ist ein Kreis aus bis zu zwölf weiteren, konzentrisch angeordneten T-Pfeilern errichtet, die durch Mauerwerk verbunden sind. Die T-Pfeiler werden als Darstellungen männlicher Gottheiten gewertet. Es wurde also eine Szene geschaffen, in der sich verschiedene Götter um zwei sie überragende Gottheiten gruppieren. Wurden die bisher ausgegrabenen Teile des Tempels in etwa um 10.000 v. Chr. erbaut, werden die ältesten Teile der Tempelanlage, welche noch nicht freigelegt wurden, noch zweitausend Jahre älter geschätzt, reichen also bis ins Paläolithikum zurück. Die Menschen, die mit dem Bau des Tempels begonnen hatten, waren Wildbeuter*innen und kannten nachweislich noch keinen Getreidebau. Erst als der Tempel in Betrieb war, waren die Menschen im Umland zu Ackerbäuer*innen geworden. Dass der Bau der Tempelanlagen dabei mehr als nur eine zufällige Bedeutung für die ackerbauliche Revolution hatte, scheint sehr wahrscheinlich. Denn der genetische Ursprung des Einkorns (eine Linie des Weizens) liegt direkt in dieser Region. Das lässt wenig Zweifel an der Tatsache zu, dass Tempelbau und Getreidebau eng miteinander verbunden waren. Die Tempelanlage diente vermutlich seit ihrer Entstehung als überregionales spirituelles und kultisches Zentrum, möglicherweise für eine jägerische Machtelite, wie der Ausgrabungsleiter Klaus Schmidt vermutete.2 Die zahlreichen Tierdarstellungen an den Säulen deuten zumindest darauf hin, wobei auffällt, dass besonders häufig Symbole von Schlangen und giftigen Hundertfüßlern verwendet wurden. Das brachte Schmidt zu der Vermutung, dass Göbekli Tepe als ein Ort für Übergangsriten fungiert haben könnte. Denn in vielen Jägergesellschaften war es üblich, dass die jungen Jäger für den Übertritt ins Erwachsenenalter einer Marter unterzogen wurden, in der sie von Skorpionen, Schlangen und anderen Gifttieren gebissen wurden. Schmidt mutmaßte, dass die Abbildung der Tiere als Erinnerung an diese Riten gedient haben und damit die reale Marter ersetzt worden sein könnte. Demnach könnte der Übergangsritus zwar ohne Marter, nicht aber ohne die spirituelle Erfahrung eines Rausches ausgekommen sein, wofür Rauschmittel wie Bier vonnöten gewesen sein könnten. In der Anlage selbst wohnten wohl zu keinem Zeitpunkt Menschen. Aber in ihrer Umgebung wuchsen mehrere Siedlungen zu größeren Dörfern heran. Der Bau der Tempel erforderte unglaubliche Mengen an Arbeitskraft. Die bauliche Leistung wird verglichen mit dem Bau der ägyptischen Pyramiden, die nur durch den massiven Einsatz von Sklavenarbeit errichtet werden konnten. Und hier wurde nicht nur einmal ein Tempel gebaut: Die Tempel von Göbekli Tepe wurden immer wieder mit Erde zugeschüttet, um sodann auf den entstehenden Hügeln neue Tempel zu errichten, die von Mal zu Mal größer wurden. Es ist also davon auszugehen, dass in regelmäßigen Abständen ein enormer Arbeitskraftbedarf entstand: im Steinbruch, beim Behauen der Steine oder für die Gravur der sehr aufwendigen Tierfiguren. Allein für den Transport eines Monolithen wurden schätzungsweise fünfzig Menschen benötigt, insgesamt wird die Anzahl der benötigten Arbeiter*innen auf fünfhundert bis eintausend geschätzt. Alle diese Arbeiter*innen mussten versorgt werden. Selbst wenn diese Menschen nicht in der Region sesshaft waren, sondern in spiritueller Mission kamen, um den Tempel zu errichten, so stellte die Anwesenheit so vieler Menschen an einem Ort über einen längeren Zeitraum wohl doch ein ziemliches Novum dar. Die gesellschaftliche Elite – deren genaue Ausformung wir nicht kennen –, welche die Individuen zur Arbeit an den Monumentalbauten bewegen konnte, kam dabei sicherlich nicht ohne den Verweis auf eine mythische Kraft aus. Da es noch keine domestizierten Arbeitstiere gab, war die zu verrichtende Arbeitsleistung durch Menschenhand enorm. Und das über einen langen Zeitraum hinweg. Denn auch wenn die Zeitdauer der Bauarbeiten nicht genau zu bestimmen ist, muss man davon ausgehen, dass es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauerte, bis ein Tempel fertiggestellt war. Über einen so langen Zeitraum hinweg so viele Menschen an einem Ort zu konzentrieren, erzeugte unweigerlich ein Versorgungsproblem. Die mit dem Tempelbau beschäftigten Menschen konnten ihren gewöhnlichen Subsistenzstrategien nicht mehr nachgehen.3 Die Funde der frühen Nahrungsreste am Ort des Tempels bestehen aus einer damals im Nahen Osten üblichen Mischung: aus Tierknochen, aber auch aus Pistazien, Mandeln und wilden Getreiden. Um den großen Nahrungsbedarf zu decken, intensivierten die Menschen von Göbekli Tepe wohl die Landnutzung und gingen von der Ernte wilden Getreides zur Anlage von Getreidefeldern in der Umgebung über. Der Ackerbau hatte hier also seinen ganz eigenen sozioökonomischen Ursprung. Er entwickelte sich nicht schrittweise aus den vorherigen Subsistenzformen – sei es Gartenbau oder das Sammeln wilden Getreides –, sondern liegt näher an der heutigen Plantagenwirtschaft. Einiges spricht dafür, dass der Anbau des Getreides von Beginn an in großen Dimensionen unternommen wurde. Schmidt, der Ausgrabungsleiter, schreibt: »An den Hängen des Karacadag stehend, beginnt man allerdings zu erahnen, daß frühester Ackerbau, besonders frühester Getreideanbau, möglicherweise ganz anders vonstatten ging, als wir uns das vielleicht vorstellen würden. Es waren wohl nicht bescheidene Gärtchen, die am Beginn der Ackerkulturen angelegt wurden, sondern riesige, von Horizont zu Horizont reichende Flächen, die der Planung des Menschen unterworfen wurden. So mußte er vor allem verhindern, daß die Wildgetreidestände Opfer grasender Herdentiere wurden. Er mußte verhindern, daß Gazellen und Wildesel nicht in die Sammelgebiete seiner Wildgetreideernte gelangten. Zugleich unternahm er alles, das Wachstum der Pflanzen zu fördern und einen größtmöglichen Ertrag vorzubereiten.«4 Es war also ein sozioökonomischer Aspekt, der zum Anlegen der »Plantagen« führte, nicht etwa eine höhere Flächenproduktivität des Ackerbaus, beispielsweise gegenüber Nussbäumen – denn die bestand so nicht. Der Vorteil der »Getreideplantage« bestand stattdessen in der Gleichmäßigkeit der Arbeitsschritte: Auf dieser – vielleicht allerersten – Plantage war sowohl eine einheitliche gleichmäßige Bearbeitung der gesamten Fläche möglich und erforderlich als auch eine (relativ) gleichmäßige Verteilung des Arbeitskraftbedarfs während des gesamten Jahres. Für die Priester oder Anführer, die für den Bau der Tempel eine große Anzahl Arbeiter*innen befehligten oder zumindest organisierten, war es durch diese Gleichmäßigkeit des Arbeitsanfalls auf den Plantagen möglich, auch die Nahrungsversorgung in ihre zentrale Planung aufzunehmen. Auch mit Blick auf die Ideengeschichte des Heiligen ist es kein Zufall, dass die ersten Monokulturen mit dem Bau der ersten Tempel zusammenfielen: Wo das Heilige zentriert wird, von seinen bisherigen Wohnorten in der Vielzahl von Bäumen, Bergen und anderen Naturorten getrennt wird, um es im Tempel zu kasernieren, dort kann in einem zweiten Schritt die entheiligte Landschaft einer rationalisierten Planung unterworfen werden. Ging man bisher davon aus, dass am Anfang der Ackerbau stand, sich aus ihm die Sesshaftigkeit ergab und dann in den Dörfern Tempel entstanden, zeigt Göbekli Tepe, dass es genau andersherum war: Erst kam der Tempel, dann der Ackerbau, erst die Arbeitsteilung, dann der monokulturelle...


Hurtig, Florian
Florian Hurtig ist Permakulturdesigner Baumpfleger und Klimaaktivist. Erkenntnisse aus seiner langjährigen Beschäftigung mit Gartenkulturen übertrug er auf die Menschen und entwickelte daraus seine Theorie poly- und monokultureller Sozialstrukturen. Hauptamtlich bewirtschaftet er einen Waldgarten, in dem sich verschiedenste Kulturen zum gegenseitigen Nutzen verbinden.


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