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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Imgrund Eine kleine Geschichte des Scheiterns

Von Sisyphos bis Donald Trump

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-7453-1439-7
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das menschliche Scheitern hat viele Facetten: Sie reichen von der totalen Niederlage über die gewöhnliche Peinlichkeit bis zum sportlichen Knock-out. Bernd Imgrund folgt den Scheiternden durch die Geschichte, im Kleinen wie im Großen, von Napoleons Waterloo bis zu Jesus von Nazareth, vom sich sinnlos mühenden Sisyphos zu Donald Trump, der der Welt nach der verlorenen US-Präsidentschaftswahl eine eindrucksvolle Lektion in schlechtem Verlieren erteilte. Ein unterhaltsamer Streifzug, eine fröhliche Ode ans Scheitern – und natürlich gilt es, dabei »etwas zu lernen«. Und sei es bloß, sich vom König der Scheiternden, dem Lucky Loser, der allen Niederschlägen noch etwas Positives abgewinnen kann, ein Scheibchen abzuschneiden.
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ABSICHTLICH SCHEITERN
Anfang der Nullerjahre kam dem amerikanischen Künstler Kent Rogowski eine skurrile Idee. Er fragte sich, ob Puzzle-Produzenten wohl immer wieder dieselbe Stanzmaschine benutzten, um ihre Teile in Form zu bringen. Rogowski besorgte sich ein paar dutzend Spiele eines einzelnen Herstellers und stellte fest: Das ist so! Der Mann aus Brooklyn, geboren 1980, begann zu experimentieren. Wie wäre es, dachte er sich, diese Blume aus Vorlage 1 in Nummer 2 zu implantieren? Oder die Wolke von 3 mitten in den stahlblauen Himmel von 4 zu setzen? »In meinem Atelier verteilten sich zeitweise über 20 000 Puzzlestücke« erzählte er später, manchmal drohte er, den Überblick zu verlieren. Im Jahr 2008 jedoch war es dann so weit – Rogowski präsentierte seine Ausstellung Love = Love der Öffentlichkeit. Die idyllischen Landschaften der Ur-Puzzles hatten sich in irritierende Mosaike verwandelt, die eine neue, befremdliche Schönheit ausstrahlten. Hier wuchsen künstlich arrangierte Blumensträuße aus einer natürlichen Wiese, dort hing der Himmel voller floraler Kirchtürme, und wiederum woanders mutierte ein grasendes Pferd zu einem fantastischen Wesen aus Blüten und Wolken. Streng genommen war Rogowski gescheitert. Schließlich entsprachen seine Ergebnisse nicht den Vorgaben auf dem Deckel der Puzzle-Packung. Ziele werden nicht gesteckt, um sie zu verfehlen, hatte schon der griechische Philosoph Epiktet (um 50–138) festgestellt. Ebenso werden weder Fußballregeln noch Friedensverträge formuliert, um gebrochen zu werden. »Ordnung muss sein«, sonst drohen Chaos und schlimmstenfalls Krieg. Rogowski jedoch scherte sich nicht um die bestehenden Raster, sondern schuf eine neue, seine eigene Ordnung. Er hatte sich kreativ verpuzzelt, wenn man so will. Anstatt idyllische Naturaufnahmen zu reproduzieren, hatte er Bilder montiert, die dem Betrachter die Aufgabe stellen, sie zu entschlüsseln. To be puzzled, das meint im Englischen: verwirrt, verdutzt, perplex sein. Und genau dieser gelenkte Effekt schuf den Mehrwert gegenüber den Originalen. Massenware wurde durch Manipulation zu Kunst. Was normalerweise als billiger Zeitvertreib für Kinder und pensionierte Buchhalter gehandelt wird, erzielte plötzlich Preise von mehreren Tausend Dollars. FRAGMENTE UND TORSI
Dass Künstler permanent scheitern, ist eine banale Tatsache. Nur Genies werfen ihr Werk aufs Papier und sind fertig. Alle Sterblichen hingegen probieren aus, wägen ab, verwerfen, verzweifeln, setzen neu an und kommen dann vielleicht irgendwann zu einem vorzeigbaren Ergebnis. Mit anderen Worten: Scheitern ist der Kunsterzeugung immanent, es geht nicht ohne. Oder positiv gewendet und mit den Worten Truman Capotes: »Scheitern ist die Würze, die dem Erfolg Geschmack verleiht.« Auf dem Weg zum Ziel kann Scheitern zur Methode werden. Manche Regisseure legen die Messlatte absichtlich zu hoch, um ihre Darsteller an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu treiben. Die deutsche Frühromantik erhob das Scheitern gar zum Kunstprinzip. Für sie wurde das Fragment zur bedeutendsten literarischen Gattung. Das theoretische Fundament lieferte die von den Gebrüdern Schlegel gegründete Zeitschrift Athenäum, vor allem das Athenäumsfragment 116 mit seiner Entwicklung einer »Progressiven Universalpoesie«. Die stete Progression der Poesie bedinge eine permanente Unabgeschlossenheit. Zwangsläufig müsse also auch jedes literarische Werk als vorläufig, fragmentarisch verstanden werden: »Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches Wesen, dass sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann«, schrieb Friedrich Schlegel. In diesem Sinne lobte er Novalis und dessen – wohl unabsichtlich – unvollendeten Heinrich von Ofterdingen, und er selbst schrieb den fragmentarischen Roman Lucinde. Jenseits dessen blieben einige der bedeutendsten Schriften der deutschen Literatur unabgeschlossen, ohne das man je an ihrem Status gekratzt hätte. Dazu zählen etwa Georg Büchners Woyzeck, Robert Musils Mann ohne Eigenschaften oder auch Franz Kafkas Prozess. Ähnliches vollzog sich im 19. Jahrhundert auch in der Bildenden Kunst. Bezeichnete der Torso bis dato vor allem den Überrest einer alten Plastik, so erhob ihn Auguste Rodin (1840–1917) in den Rang einer eigenen Gattung. Und dort rangiert er bis heute – das Unfertige wird als fertig deklariert, und niemand stört sich dran. Zumal sich immer wieder Kunsttheoretiker fanden, die genauso dachten. Walter Benjamins komplettes Werk ist fragmentarisch montiert. Sein Kollege der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, schrieb in seiner posthum erschienenen Ästhetischen Theorie: »Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische.« Und die amerikanische Diskursqueen der Popkultur Susan Sontag vermutete 1978: »Das Fragment scheint die angemessene Kunstform unserer Zeit zu sein.« Da befand man sich dann bereits in der Hochphase der alle Tradition in fragmentierte Stückchen reißenden Punk-Ära. NO FUTURE
Der eingangs erwähnte Kent Rogowski erregte mit einer weiteren Werkreihe Aufsehen, die ebenfalls auf Verfremdung und De- beziehungsweise Rekonstruktion setzte. Für Bears entfernte er die Füllung herkömmlicher Teddybären, um sie sodann eigenhändig neu zu stopfen. Rogowskis Resultate belegen, dass dies nicht so einfach ist, wie es sich anhört. Offenbar ist es einem Laien unmöglich, den Füllstoff so zu verteilen, dass das ursprüngliche Äußere wiederhergestellt wird. Was einst als Schmusetier für Kinder gedacht war, kommt bei Rogowski als verunstalteter Freak daher. Manche seiner Exemplare sind von mitleiderregender Zottigkeit – Kandidaten für den Tierschutz. Andere erinnern eher an Missbildungen aus dem Labor des Dr. Frankenstein. Der Künstler hatte einen größtmöglichen Kontrast kreiert. Sein Vorgehen erinnert an den provokanten Dresscode der Punkbewegung. Wie man Teddybären normalerweise mit süß, flauschig oder knuddelig assoziiert, so Jugendliche mit propper, rosig und frisch. Die frühen Punks Mitte der 1970er-Jahre jedoch traten bewusst vollkommen anders auf. Sie trugen zerrissene Hosen, ranzige, von Badges übersäte Lederjacken und struppig-ungekämmte Haare. Anstatt »der Zukunft zugewandt« durchs Leben zu gehen, schrieben sie sich einen Slogan der Sex Pistols aus »God save the Queen« aufs Banner: No Future! »Don’t be told what you want Don’t be told what you need There’s no Future No Future No Future for you.« Mit ihrer inszenierten »Hässlichkeit« konterkarierten die Punks wie Rogowskis Bären die allgemeinen Erwartungen. Ihr Anderssein forcierte die Abgrenzung vom Spießbürger. Was dieser als asozial verachtete, war jenen eine Feier nihilistischer Verweigerung. Der Kapitalismus, der 9-to-5-Mensch und seine Werte waren ihnen nur einen müde erhobenen Mittelfinger wert. Sogar die Natur, Zufluchtsort des gebeutelten Industriemenschen, bekam ihr Fett weg. »Ich hasse das Land. Wenn ich eine Kuh sehe, könnte ich kotzen«, sagte Mick Jones einst. Der Gitarrist von The Clash war damals Anfang zwanzig, da haut man sowas schonmal raus. »Zurück zum Beton« sangen zur gleichen Zeit die Deutschpunks von S.Y.P.H., und sie meinten damit: Wir sind Stadtkinder. Der deutsche Wald, dieser ganze braune Mystikmüll kann uns mal. Wir lieben den Mief, der aus den U-Bahnschächten aufsteigt. Ein graffitibeschmiertes Hochhaus toppt jede verdammte Eiche – Pennerasyl statt Yggdrasil, die Weltesche der Germanen! Hinter der punkigen Totalverweigerung steckte nicht nur ein »Dagegen«, sondern auch ein sehr vitales »Dafür«: Wir leben uns aus, ohne Rücksicht auf Verluste, die Schule, den Job oder die Zukunft. »Live hard«, und wenn’s denn sein soll: »die young.« Aber die aggressive Anti-Haltung erschöpfte sich. Die ersten Punkbands, Sprachrohre der Bewegung, lösten sich auf oder machten kodex-widrig Karriere in der Musikindustrie. Zerrissene Jeans gab es in den Kaufhäusern schneller en masse, als man sie zu Hause zurichten konnte. Wie so oft erntete der Kapitalismus die Früchte der Revolution, die ihn eigentlich hatte vom Sockel stoßen wollen. Die einst rebellischen Punks sanken herab zu obdachlosen Jugendlichen, die äußerlich eher an Rogowskis Berber-Bären erinnern als an die grölende Bande von einst. Die offensive Verneinung bürgerlicher Tugenden erschöpfte sich bald im Schnorren von Geld, Tabak oder Hundefutter – das aktive war zu einem passiven Scheitern verkommen. Den eklatanten Wandel spiegelt bereits die Körperhaltung: Während der Ur-Punk Pogo tanzte und rempelnd, hüpfend über sich selbst hinauswuchs, sitzt der Post-Punk unten auf dem Trottoir. Und schaut auf zu jenen, die er doch eigentlich verachtet. EIN FREIWILLIGER ABSTIEG Im Jahr...


Bernd Imgrund wurde 1964 in Köln geboren und mit Kölsch getauft. Er war Messdiener, Kriegsdienstverweigerer und Redakteur. Seine 30 Romane und Sachbücher beschäftigen sich u. a. mit Köln, historischen Gaststätten, Tischtennis und Skat. Im riva Verlag veröffentlichte er im Jahr 2020 Eine kleine Geschichte der Kneipe. Imgrund lebt mit seiner Frau in der Kölner Südstadt.


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