Kartographie, Kulturtransfer und Raumerschließung im Zarenreich (1797–1919)
E-Book, Deutsch, 444 Seiten
ISBN: 978-3-11-073171-2
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
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Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geowissenschaften Geographie | Raumplanung Geschichte der Geographie
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geowissenschaften Geologie Geodäsie, Kartographie, Fernerkundung
- Geowissenschaften Geographie | Raumplanung Geodäsie, Kartographie, GIS, Fernerkundung
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1 Einleitung
1.1 Gegenstand und Fragestellung
„Trotz einer schwach entwickelten Technik, Industrie und Wirtschaft war in Russland mehr als anderswo der Bedarf nach topographischen Aufnahmen und Karten hauptsächlich militärisch geprägt.“1 Mit diesen Worten wird im Jahr 1923 die Leistung des Militär-Topographen-Korps (KVT, Korpus Voenno-Topografov), das 100 Jahre zuvor gegründet worden war, zusammengefasst. Die Einschätzung stammt von Jakov Ivanovic Alekseev (1872–1942), Inspektor des Militär-Topographen-Korps der Roten Arbeiter- und Bauern-Armee, in einer Zeit, als die Elektrifizierung des gesamten Landes (GOELRO) angestrebt und die durch Krieg zerrüttete Industrie und Wirtschaft der soeben gegründeten Sowjetunion durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) wiederbelebt werden sollte. Angesichts der Herausforderungen klingt in seinen Worten kritisch an, dass im Unterschied zu anderen Staaten die Herstellung topographischer Karten im Zarenreich zu sehr von militärischen Interessen geleitet und daher viel zu wenig Rücksicht auf die Landesentwicklung genommen wurde. Diese Erkenntnis war keineswegs neu, war sie doch Gegenstand von Diskussionen innerhalb des Militärs, die über die Ausrichtung der russischen Landesaufnahmen (gosudarstvennye s''emki) bereits ein Jahrhundert zuvor in den 1820er Jahren aufgekommen waren. Die folgenden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zeigen eine sukzessive Verengung der Vermessung und Kartographie des Russländischen Imperiums auf militärische Bedarfe, woran zahlreiche Initiativen aus der Ziviladministration und Wissenschaft dauerhaft nichts zu ändern in der Lage waren. Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Geschichte der topographischen Vermessung und kartographischen Erschließung des Russländischen Reiches im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die geodätische Erfassung des größten Landes der Erde, an der zahlreiche staatliche und wissenschaftliche Institutionen mitwirkten, wird als Aspekt der Territorialisierung Russlands verstanden und hinsichtlich der Bedeutung von Kulturtransfers aus dem westlichen Europa untersucht. In dem Moment als das Russländische Imperium zusammenbrach, lag von seinem ausgedehnten Territorium keine einheitliche, detaillierte, gedruckte topographische Karte vor. Stattdessen war der Grad der kartographischen Raumerschließung regional höchst unterschiedlich. Genauere topographische Aufnahmen erfassten bis 1917 lediglich rund 15 Prozent des europäischen Russland, ca. 50 Prozent des Kaukasus sowie rund acht Prozent Sibiriens und Turkestans.2 Dies wird in den Übersichtskarten (otcetnye karty) von 1917 und 1918 (Abb. Vor- und Nachsatz) deutlich, welche die Abdeckung des Russländischen Imperiums durch verschiedene gedruckte, sich teilweise überlappende topographische Kartenwerke des Generalstabs in unterschiedlichen Maßstäben zeigen. Sichtbar wird darin die starke Konzentration der detailliertesten Karten in großen Maßstäben (Flächensignaturen in Rot, Braun und Hellbraun) auf westliche und südliche Grenzgebiete, während Karten für den Norden und das Landesinnere, sowohl des europäischen, als auch des asiatischen Russland nur in mittleren mittlerem (Blau) und überwiegend kleinen Maßstäben (Grün, Gelb, Graubraun, Ocker, Grau, Hellgrün) vorlagen.3 Am Kartenrand heißt es zur Erläuterung: „Jede Farbe zeigt den größten verfügbaren Karten-Maßstab des jeweiligen Gebietes, unabhängig davon, dass für das gleiche Gebiet noch andere Karten in kleineren Maßstäben existieren.“4 Diese Übersichtskarten hatte das Militär im Anhang eines Berichtes an eine interministerielle Kommission gerichtet, die angesichts des Ersten Weltkrieges gebildet wurde, um für die Kriegswirtschaft dringend benötigte heimische Bodenschätze zu erschließen.5 Diese Dokumente veranschaulichten den Experten die Ergebnisse der topographisch-kartographischen Arbeiten, die seit dem frühen 19. Jahrhundert beim Generalstab ausgeführt worden waren. Grundsätzlich bestand die Aufgabe des zarischen Generalstabs in der Erfassung und Darstellung von Gegebenheiten und Daten, welche die oberste Militärführung für ihre Entscheidungen bzw. Kriegsvorbereitungen benötigte.6 Dabei spielten taktische und strategische Planungen eine zunehmend wichtige Rolle. Nach den viel zitierten Worten des preußischen Militärreformers Carl von Clausewitz (1780–1831) ist: „[…] die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges.“7 Gefechte beziehen sich demnach auf kleinräumige Schlachtfelder, während die Strategie großräumige Kriegsschauplätze ins Auge fasst. Dies erforderte unterschiedliche topographische Karten. Denn als allgemein gültig kann angenommen werden: Taktik und Strategie erheben an Karten verschiedene Forderungen. Für taktische Handlungen benötigt man Karten in großen Maßstäben. Strategen, die mit vielen zahlreichen Teilen operieren, die in einem weiten Raum verteilt sind, brauchen Karten in kleinen Maßstäben. Nur in einer kompakten Karte kleinen Maßstabs kann man den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Faktoren militärischer Operationen in ihrem Ganzen begreifen. Kriegserfolg ergibt sich aus dem Gelingen von taktischen und strategischen Handlungen. Folglich braucht man für den Krieg Karten in großen und kleinen Maßstäben.8 Aus den Abbildungen auf Vor- und Nachsatz geht klar hervor, dass der zarische Generalstab vor allem das westliche und südliche Grenzgebiet des Russländischen Imperiums für militärische Aktionen vorbereitet hatte. Das dicht besiedelte Zentralrussland und die weniger bevölkerten Gebiete im Norden und Osten des Landes wurden bei detaillierten topographischen Neuaufnahmen und Aktualisierungen spätestens seit den Großen Reformen praktisch nicht mehr berücksichtigt. Mit dieser starken Fokussierung auf die Peripherien zum Zweck der Grenzsicherung und Expansion ging de facto eine Ungleichbehandlung und kartographische Fragmentierung des gigantischen Territoriums einher. Die vorliegende Analyse zielt auf die Frage, warum es der Zarenregierung letztlich nicht gelang, ein umfassendes, auf Vermessungsdaten basierendes Kartenbild des ganzen Reiches zu erstellen, bzw. welche Prozesse diese Form der Territorialisierung des Reiches behinderten. Die leitenden Fragestellungen sind dabei: Wie wurde der Vermessungsprozess des physischen Raumes institutionell und organisatorisch bewältigt? Welche Rolle spielten dabei ausländische Vorbilder und Kulturtransfers aus dem westlichen Europa? Welchen Logiken und welchem Nutzenkalkül folgte die Vermessung und kartographische Erschließung des Reiches in den unterschiedlichen Phasen der historischen Entwicklung? Inwiefern unterstützten oder behinderten sich die verschiedenen staatlichen und wissenschaftlichen Institutionen, die an der Vermessung des Landes mitwirkten? Welche Gebiete des Reiches wurden früher und welche später, welche detaillierter oder weniger detailliert erfasst und was sagt dies über räumliche Hierarchien auf den mentalen Landkarten (mental maps) des Reiches aus? Und schließlich: was zeigen die typischen Kartenbilder und inwiefern trugen sie im „langen 19. Jahrhundert“9 wirklich zum Prozess der Territorialisierung des größten Landes der Erde bei? Der Blick der Studie konzentriert sich im ersten Teil auf die Organisation der Vermessung sowie deren wissenschaftliche Grundlagen. Im zweiten Teil stehen fünf Kartenwerke im Mittelpunkt, die den Hauptinteressen der Zeit entsprechend, ganz oder teilweise das europäische Russland, das Großherzogtum Finnland, (Kongress-) Polen sowie den Kaukasus beinhalten. Karten vom asiatischen Russland oder Russisch-Amerika werden in dieser Studie dagegen nicht berücksichtigt. Mit dem Untersuchungszeitraum von 1797 bis 1919 wird ein Prozess in den Blick genommen, der vom systematischen Aufbau staatlicher Institutionen und deren Ringen um Wege und Kompetenzen bei der topographischen Vermessung und Kartierung des Reiches geprägt war. Bewusst wird die Betrachtung über die Epochenschwelle des Jahres 1917 hinaus ausgedehnt, um zu zeigen, dass es auch nach der Machtübernahme der Bolschewiki kaum gelang, das folgenschwere institutionelle Ungleichgewicht aufzulösen, das durch die Vereinnahmung der topographischen Vermessung und Kartographie durch das Militär im Zarenreich entstanden war. Schließlich erreichte die sowjetische Administration erst Ende der 1980er Jahre ein vollständiges detailliertes topographisches Kartenwerk im Maßstab 1?:?25.000 von ihrem gesamten ausgedehnten Territorium fertigzustellen. Es umfasste sagenhafte 201.442 Kartenblätter.10 Damit gelang es den Bolschewiki ebenso wenig wie der Zarenregierung dieses gigantische Unterfangen auf absehbare Zeit abzuschließen. 1.2 Forschungsstand und Erkenntnisperspektiven
Die Auseinandersetzung mit Herrschaft und Territorium sowie der Wahrnehmung von Raum in der russischen Geschichte hat sich seit der Auflösung der UdSSR und dem einsetzenden spatial turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften intensiviert.11 Karl Schlögel hat das 19. Jahrhundert – auch mit Blick auf das Zarenreich – als „Jahrhundert der Exploration,...