Jung | Wilhelm Dilthey zur Einführung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: zur Einführung

Jung Wilhelm Dilthey zur Einführung

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-057-2
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wilhelm Dilthey (1833-1911) ist ein Klassiker des hermeneutischen Denkens, und trotzdem greift das Schlagwort "Hermeneutik" für seine Intentionen zu kurz. Treibende Kraft seiner Arbeiten war die Überzeugung, dass weder die traditionelle Metaphysik noch die naturwissenschaftliche Denkweise dem menschlichen Weltverhältnis gerecht würden, das gleichberechtigt Vernunft, Wille und Gefühl einschließe. Matthias Jung stellt einen Denker vor, der auf der Suche nach einem Zugang zu unreduzierter, dem menschlichen Lebensvollzug entsprechender Erfahrung früh den Wahrheitsanspruch aller weltanschaulichen Systeme infrage stellte.
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1. Einleitung: Eine Kritik der historischen Vernunft?
Wilhelm Dilthey gilt zu Recht als Klassiker des geisteswissenschaftlichen und speziell des hermeneutischen Denkens, jener philosophischen Richtung also, die das geschichtliche Verstehen von kulturellem Sinn in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt hat. Mit seiner methodischen Konzeption der inneren Erfahrung und des Verstehens, der daraus resultierenden Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften, schließlich mit seinen Ansätzen zur Integration geschichtlicher und systematischer Analyse hat er die Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert mitbestimmt. Martin Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit wäre ohne Diltheys Einfluss so wenig denkbar gewesen wie Hans-Georg Gadamers Entwurf einer universalen Hermeneutik in Wahrheit und Methode. Wo immer die Philosophie sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert Themen wie der geisteswissenschaftlichen Methode, der geschichtlichen Verfasstheit menschlicher Subjektivität und Kultur, dem Verhältnis von Rationalität und Lebenspraxis gewidmet hat, war Diltheys Denken ein unentbehrlicher Bezugspunkt. Das Schlagwort Hermeneutik, unter dem die philosophischen Bemühungen Diltheys meist gefasst werden, birgt allerdings die Gefahr, dass wichtige Bestandteile des Dilthey’schen Werks ausgeblendet werden. Dilthey selbst hat erst in seinen letzten Schriften das eigene Denken mit dem Begriff Hermeneutik zusammengebracht, den er in einem recht engen Sinn verwendet: als Bezeichnung für die Wissenschaft von dem »kunstmäßigen Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen« (GS VII, 217). Über diesen eher technischen Begriff der Hermeneutik gehen die philosophischen Intentionen Diltheys jedoch weit hinaus. Sie lassen sich vielleicht am besten als Suche nach einem begrifflichen Konzept beschreiben, das menschlicher Erfahrung in ihrer geschichtlichen Eigenart besser gerecht wird als die kausalen Erklärungsmuster der Naturwissenschaften. Dilthey versuchte sein ganzes Leben lang, seine ursprüngliche Intuition zu explizieren, dass unverkürzte Erfahrung nicht nur kognitive, sondern gleichursprünglich auch affektive und voluntativ-praktische Dimensionen einschließt. Diese Ganzheit der Erfahrung wird ihm zufolge von der klassischen Metaphysik ebenso ausgeblendet wie von der Perspektive der dritten Person, von der die Naturwissenschaften ausgehen. Seine Hochschätzung der Geisteswissenschaften resultiert aus der Überzeugung, dass die Dreidimensionalität des vortheoretischen Erlebens eine reichere Wirklichkeitserfahrung ermöglicht, die dann durch die geisteswissenschaftlichen Methoden zugänglich gemacht werden kann. Ich werde daher Diltheys Gesamtwerk aus der Perspektive dieser Orientierung an ursprünglicher Lebenserfahrung und ihren Objektivationen darstellen. Der hermeneutische Zug des späten Dilthey ist in ihr als Teilaspekt enthalten. Diltheys theoretische Bemühungen galten der philosophischen Rechtfertigung und Begründung der Wissenschaften von der im menschlichen Erleben präsenten und durch menschliche Interaktionen erzeugten Realität – im Unterschied zur vom Menschen unabhängigen Natur. Der Ausdruck Geisteswissenschaften für die Erforschungen dieser Realitäten ist dabei, wie Dilthey selbst gesehen hat, nur ein Notbehelf. Geist darf nicht als etwas Selbständiges, vom Handeln realer Menschen und von natürlichen Bedingungen Unabhängiges gedacht werden, und die Unterscheidung, die Dilthey, auch aus wissenschaftspolitischen Gründen, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften trifft, darf nicht zu einer Trennung verdinglicht werden. Sein (nach der monumentalen Schleiermacher-Biografie) erstes großes Werk, die Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883, bezeichnete Dilthey in der Widmung als eine »Kritik der historischen Vernunft« (GS I, IX). Mit diesem an Kants Vernunftkritik anknüpfenden Programmtitel wollte er darauf hinweisen, dass die bisherige Selbstkritik menschlicher Rationalität durch Autoren wie Hume und Kant die Einbettung von kognitiven Akten in den historischen Lebensprozess der Menschen nicht genügend berücksichtigt hatte. Insbesondere ging es ihm darum aufzuzeigen, wie das im engeren Sinn Kognitive nur als unselbständiger, wenngleich zentraler Bestandteil eines reicheren Wirklichkeitsverhältnisses begreifbar wird, das Willensimpulse, Stimmungen und intentionale Gefühle immer einschließt. Aus Diltheys Interesse an einem nicht-reduktionistischen Erfahrungsbegriff, der vom Erleben, nicht vom Denken ausgeht, ergibt sich eine doppelte Abwehrhaltung, die sein Denken charakterisiert. Zum einen nämlich wendet er sich entschieden gegen alle Formen von Metaphysik, von theoretischen Systemen, die Wirklichkeit in ihrem Ansich-Sein zu erfassen beanspruchen; die Überzeugung, dass die geschichtliche Entwicklung jedes metaphysische Weltverhältnis obsolet gemacht hat, bildet eine Konstante im Denken Diltheys von den frühesten Arbeiten bis zum Spätwerk. Zum anderen aber argumentiert er immer wieder gegen den Anspruch naturwissenschaftlich orientierter Philosophen, mit dem methodischen Werkzeug der Naturwissenschaften die Wirklichkeit im Ganzen begreifen zu wollen. Dilthey war vielleicht der erste Theoretiker, dessen Analysen durchgängig von der Einsicht geprägt waren, dass die methodische Einstellung auf allgemeine Gesetze und kausale Beziehungen zwischen Ereignissen beim Verständnis der Welt sozialer und geschichtlicher Erscheinungen nur begrenzt fruchtbar sein kann. »Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft« (GS I, XVII): Diese Überzeugung, und mit ihr die Ablehnung aller metaphysischen Spekulation, teilte Dilthey mit dem philosophischen Empirismus. Während allerdings die Empiristen atomare Sinneserfahrungen als Bausteine aller Erkenntnis betrachteten, war Dilthey an einem lebensweltlichen, in Zusammenhängen zentrierten Erfahrungsbegriff interessiert, der das vorwissenschaftliche Weltverhältnis aufgreifen und vertiefen sollte: »Empirie, nicht Empirismus« (GS XIX, 17). Während er in seinem Frühwerk dabei noch davon ausging, dass das bewusste Erleben als solches den Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Verstehens bilden muss, rückt er später die Verkörperung des Erlebens in Ausdrücken (Bildern, Sprache, Handlungen, Institutionen etc.) ins Zentrum und erklärt Erlebnisse ohne Ausdruck schlicht für unverständlich. Indem Dilthey das wissenschaftliche Verstehen auf Erlebnisausdrücke bezieht, die immer Kognitionen, Volitionen und affektive Wertungen einschließen, erweitert er den methodischen Geltungsbereich der Geisteswissenschaften über das rein Kognitive hinaus. Mit der Beschreibung als »Kritik der historischen Vernunft« ist Diltheys umfangreiches und vielfältiges Lebenswerk seiner Intention nach vielleicht am besten getroffen. Das Adjektiv »historisch« hat dabei zwei verschiedene Bedeutungen: Historische, auf das Verstehen geschichtlicher Prozesse abzielende Vernunft ist Gegenstand der Kritik, die die Möglichkeiten und Probleme geschichtlicher Erkenntnis aufzeigen soll. Wenn die Kritik reflektiert wird, zeigt sie sich aber dann ihrerseits als geschichtliche Selbstkritik der Vernunft. Es gibt kein Außen, keinen Gottesstandpunkt, von dem aus die Leistungsfähigkeit historischer Vernunft beurteilt werden könnte. Der Ausdruck »historische Vernunft« ist dabei nicht so zu verstehen, als ob es neben ihr etwa noch eine unhistorische, systematische Vernunft geben könnte. Vernunft ist für Dilthey vielmehr durch und durch historisch in dem Sinn, dass ihr Gebrauch eine soziale Geschichte hat und in Wirkungszusammenhängen verläuft, von denen sie entscheidend geprägt ist. Es ist der zu rekonstruierende historische Prozess selbst, der die Einsicht in diese geschichtliche Bedingtheit der Vernunft hervorgebracht hat. Indem die Vernunft versucht, ihre Genese reflexiv einzuholen, kritisiert sie sich selbst und versetzt sich in die Lage, ihre Reichweite und Grenzen zu erkennen. Diese Fähigkeit der menschlichen Rationalität, sich auf sich selbst zurückzuwenden und die eigenen Bedingtheiten zu realisieren, ist für Dilthey die einzige Form, in der Subjekte sich, in ihrer Geschichte stehend, über diese erheben können. So verstanden ist die Historisierung der Vernunft ein Akt der Selbstaufklärung und steht keineswegs im Gegensatz zum Vernunftvertrauen der historischen Aufklärung. Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen sind nun nicht nur historisch bedingt, sie stehen auch mitsamt der Geschichte in einem funktionalen Verhältnis zum Leben. Dieser wohl wichtigste Begriff im Gesamtwerk Diltheys übergreift geistige und organische Zusammenhänge und meint den Vollzug der Interaktion zwischen dem Organismus und seiner physischen wie kulturellen Umwelt, der nur teilweise kognitiv aufgehellt werden kann. Damit sind drei charakteristische Begriffe umrissen, die für das Verständnis Diltheys zentrale Bedeutung haben: »Hermeneutik«, »Historismus« und »Lebensphilosophie«. Sie sollen im Folgenden kurz erläutert werden. – Hermeneutik: Diltheys Philosophie weist dem Verstehen (von Sinnzusammenhängen) eine methodisch zentrale Rolle zu und...


Matthias Jung ist Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau.


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