Kalcher / Lauermann | Zeit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 4, 136 Seiten

Reihe: Internationale Pädagogische Werktagung

Kalcher / Lauermann Zeit

E-Book, Deutsch, Band 4, 136 Seiten

Reihe: Internationale Pädagogische Werktagung

ISBN: 978-3-7025-8034-6
Verlag: Verlag Anton Pustet Salzburg
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Zeitfragen stellen, Zeitfragen klären

Das Phänomen Zeit nimmt im pädagogischen Diskurs eine besondere Rolle ein. Wie viel Zeit erlauben wir Kindern und Jugendlichen für Entwicklungs- und Lernprozesse? Wie verändert sich der Umgang mit Zeit durch Erwartungen der Leistungsgesellschaft? Wie wirken sich digitale Medien auf das Zeiterleben aus? Diesen Fragen wird aus psychologischer, pädagogischer und philosophischer Perspektive nachgegangen: Die Autorinnen und Autoren stellen aktuelle Forschungsergebnisse und Konzepte vor. Der Sammelband bietet damit vielfältige Reflexionsmöglichkeiten und Implikationen für die pädagogische Arbeit.

Autoren und Autorinnen:
- Prof. Dr. Clemens Hellsberg | Wien (A)
- Assoz.-Prof. Dr. Dipl.-Ing. Lisa Kaltenegger | Ithaca, NY (USA)
- Univ.-Prof. Dr. Peter Heintel | Klagenfurt (A)
- Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Hede Helfrich | Köln (D)
- Univ.-Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort | Hamburg (D)
- Dr. habil. Gabriele Haug-Schnabel | Kandern (D)
- Assoz.-Prof. Dr. Dorothé Bach | Charlottesville, VA (USA)
- Assoz.-Prof. Dr. John Baugher | Baltimore, MD (USA)
- Günter Funke | Berlin (D)
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Weitere Infos & Material


Clemens Hellsberg Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Gedanken zur Zeit in der Musik
Zusammenfassung
In der Musik ist Zeit eine in vielerlei Hinsicht entscheidende Komponente. Vom (scheinbar linearen) Ablauf eines Musikstücks, bei dem Zeit einer gängigen Definition zufolge als bewusst wahrgenommene Abfolge von Veränderungen verstanden wird, über die (scheinbar banale) Schaffung von »Zeitgewinn« für die sichere Bewältigung ausführungstechnischer Probleme bis hin zur (scheinbar sublimen) Überhöhung einer musikalischen Ausdrucksform zur »platonischen Idee« und dem damit verbundenen Begriff der Überzeitlichkeit – die Befassung mit dem Phänomen Zeit bedeutet in der Musik keineswegs die Beschränkung auf Fragen wie Tempo und Rhythmus, sondern führt nicht zuletzt zu einer Erkenntnis des Heiligen Augustinus: »Zeit wohnt in der Seele.« Diese und weitere Aspekte werden in den folgenden Ausführungen entfaltet. Es ist für einen ehemaligen Orchestermusiker ein Ding der Unmöglichkeit, einen Vortrag über die Bedeutung der Zeit in der Musik anders zu beginnen als mit einem Zitat aus dem »Rosenkavalier«. Dies gilt umso mehr, wenn man den Vortrag in der Stadt Salzburg halten darf, gegenüber dem Großen Festspielhaus, das am 26. Juli 1960 mit dem »Rosenkavalier« eröffnet wurde und in dem ich die Oper rund vierzigmal spielte. Und zudem drehte sich Rüdiger Safranskis Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele 2015 mit dem Titel »Macht der Zeit – Macht über die Zeit« ebenfalls um den »Rosenkavalier«. In zwei Passagen des ersten Aufzugs lässt Hugo von Hofmannsthal die Marschallin, Maria Theresia Fürstin Werdenberg, über die Zeit nachdenken, in einem Monolog und in einer Szene mit Octavian, die aber ebenfalls ein Monolog ist: Die Fürstin erreicht ihren Gesprächspartner nicht – der »Bub mit seine siebzehn Jahr’« hat noch kein Sensorium für diese Thematik. Von der Schönheit der Sprache abgesehen, fasziniert die erste Passage durch die fast naiv wirkende Selbstverständlichkeit, mit der die Fürstin scheinbar banale Erkenntnisse aneinanderreiht. Dichterisch grandios ferner, wie sie mit einem einzigen Wort – »geheim« – zum Phänomen Zeit Stellung nimmt und dann eine zwar nicht wissenschaftliche, aber in ihrer schlichten Weisheit überraschende und vor allem zutiefst menschliche Lösung findet. Der Wortlaut der Passage mit den Regieanweisungen Hugo von Hofmannsthals: »Kann mich auch an ein Mädel erinnern, das frisch aus dem Kloster ist in den heiligen Ehstand kommandiert word’n. (nimmt den Handspiegel) Wo ist die jetzt? Ja, (seufzend) such’ dir den Schnee vom vergangenen Jahr! Das sag’ ich so: (ruhig) Aber wie kann das wirklich sein, dass ich die kleine Resi war und dass ich auch einmal die alte Frau sein werd? Die alte Frau, die alte Marschallin! ›Siegst es, da geht die alte Fürstin Resi!‹ Wie kann denn das geschehn? Wie macht denn das der liebe Gott? Wo ich doch immer die gleiche bin. Und wenn er’s schon so machen muss, warum lasst er mich zuschaun dabei mit gar so klarem Sinn! Warum versteckt er’s nicht vor mir? Das alles ist geheim, so viel geheim. Und man ist dazu da, dass man’s ertragt. Und in dem ›Wie‹ (sehr ruhig) da liegt der ganze Unterschied«. Die Geradlinigkeit und berührende Unmittelbarkeit des Gedankengangs erinnert ein wenig an die Erkenntnis des heiligen Augustinus hinsichtlich der Zeit: »Wenn mich niemand fragt, dann weiß ich es; sobald ich aber gefragt werde, kann ich es nicht erklären« (Augustinus 1989, S. 14). In der Vertonung berühren das Einfühlungsvermögen, mit dem Richard Strauss auf Hofmannsthals Gedanken eingeht und die liebevolle Aufmerksamkeit, die er dieser zentralen Passage widmet: Der Meister der Instrumentation, der dem vollen Orchesterklang eine differenzierte Farbenpracht abgewinnen konnte wie kaum ein anderer Komponist, reduziert die Partitur auf Kammermusik, die intimste Form der Instrumentalmusik; er hält bei »geheim« inne und eröffnet bei »Wie«, dem zweiten entscheidenden Wort, durch seine Kunst der Instrumentation eine neue Welt.1 »Unsere Erfahrung der Zeit konfrontiert uns also mit dem Altern und der Sterblichkeit«, kommentiert Rüdiger Safranski (2015) den Monolog der Marschallin. »Aber es kommt noch etwas hinzu: Wir erleben ja nicht nur die lineare Zeit des Nacheinander, des Früher und Später, sondern wir erleben eine dreidimensionale Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das bedeutet: Wir erfahren das Nicht-Mehr und das Noch-Nicht, was gewiß eine Bereicherung ist, aber doch auch eine schwierige Berührung mit dem Nichtwirklichen, entweder, weil es vergangen ist oder weil es künftig ist. Vollkommen wirklich ist eigentlich nur die Gegenwart« (Safranski 2015). Der Gedanke von der Dreidimensionalität der Zeit bewegt die Menschheit seit Langem. Schon Augustinus hielt fest: »Aber auf welche Weise können denn diese beiden Zeiten sein, die Vergangenheit und die Zukunft, wenn doch das Vergangene schon nicht mehr und das Zukünftige noch nicht ist? Eine Gegenwart aber, die immer gegenwärtig bliebe und nicht überginge in die Vergangenheit, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit« (Augustinus 1989, S. 314). Mit anderen Worten: Ereignisse in der Vergangenheit und Zukunft müssen genauso real sein wie Ereignisse in der Gegenwart – und es gibt in der Tat physikalische Erkenntnisse, denen zufolge eine Aufteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinnlos ist. »Eine Gegenwart aber, die immer gegenwärtig bliebe und nicht überginge in die Vergangenheit, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit« (Davies 1995, S. 79). Der Gedanke führt zu Hermann Minkowski, einem der Professoren Albert Einsteins an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, der bei einem Vortrag über die drei Jahre zuvor veröffentlichte Relativitätstheorie seines früheren Studenten unter Hinweis auf die Zeit als Vierte Dimension anregte, diese »nach Art des Raumes darzustellen« (ebd., S. 80). Das und die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft führten zum Begriff des »Zeitbildes«, also zur Vorstellung, die Zeit wie ein Bild zu sehen, das vor uns liegt. Dieses philosophische Gedankenexperiment der »statischen Zeit« wird in einigen Schlüsselwerken der Musikgeschichte Wirklichkeit. In seinem 1995 erschienenen, lesenswerten Buch »Die Unsterblichkeit der Zeit. Die moderne Physik zwischen Rationalität und Gott«, das aufgrund seiner Zusammenfassung und Erklärung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nach Einstein und der peniblen Quellenangaben eine wichtige Grundlage für diesen Vortrag bildete, stellt Paul Davies, Professor für mathematische Physik und Wissenschaftsphilosophie an der Universität von Adelaide, die Frage: »Kann ein Mensch der Zeit wirklich entfliehen und die Ewigkeit schauen?« (Davies 1995, S. 24). Einer, der dies konnte, ist das neben Joseph Haydn verkannteste Genie der Musikgeschichte: Franz Schubert. Es gibt viele Stellen in seinem Œuvre, die Ewigkeit erahnen lassen – nicht zufällig hat Robert Schumann von der »himmlischen Länge« (Schumann 1854, S. 201) bei Schubert gesprochen. Ich möchte nur auf ein einziges Beispiel hinweisen, die letzte Nummer des Liederzyklus »Die schöne Müllerin«. Der arme Müllerbursche hat seine Wanderung vollendet, sein Selbstmord wird durch kein Menschen- oder Engelswort kommentiert, sondern durch »Des Baches Wiegenlied«: »Gute Nacht, gute Nacht! Bis alles wacht, Schlaf aus deine Freude, Schlaf aus dein Leid! Der Vollmond steigt, Der Nebel weicht, Und der Himmel da oben, wie ist er so weit!« So schließt das Gedicht, schließt Schubert den Zyklus (den Wilhelm Müller mit einem Epilog beendete). Der Komponist überhöht noch diesen genialen dichterischen Einfall in der für ihn charakteristischen Doppelbödigkeit, die es so schwer macht, ihn zu begreifen: Es ist die herrlichste Musik, ein Wiegenlied, das die Zeit stillstehen lässt und in die Unendlichkeit weist – aber gleichzeitig suggeriert das tranceartige Insistieren auf derselben Tonfolge, wie weit, weit weg dieser »Himmel da oben« ist. Woher kommen wir? Wozu sind wir? Wohin gehen wir? Die Angst hinter dieser dreidimensionalen, wichtigsten Frage der Menschheit (die übrigens auch bereits eine der ältesten erhaltenen Dichtungen der Welt, das babylonische Gilgamesch-Epos, zum Gegenstand hat) wird in dieser Vertonung auf einzigartige Weise sublimiert. Aber es wäre nicht Schubert, würde er nicht (zumindest) eine zusätzliche Dimension eröffnen: Ist »der Himmel da oben« wirklich so weit weg – oder führt uns Schubert in die Weite des Himmels?2 Befassen wir uns noch ein wenig mit dem Begriff des »Zeitbildes«. Wird durch die Interpretation »nur« die...


Anna Maria Kalcher, Mag. Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mozarteum Salzburg, Lehrende an der Abteilung für Musikpädagogik sowie Mitarbeit im Bereich Evaluierung; Planung und Organisation der Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg.

Karin Lauermann, Prof. Mag. Dr., Direktorin des Bundesinstituts für Sozialpädagogik in Baden; Lehrbeauftragte an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien; Chefredakteurin von "Sozialpädagogische Impulse" Baden; Vizepräsidentin der Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg.


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