Kaniuk | 1948 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Kaniuk 1948

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-8412-0558-2
Verlag: Aufbau digital
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



'Wir waren wie Kinder, geradezu unverschämt jung. Einfaltspinsel waren wir, Partisanen.' Dies ist die Geschichte eines jungen Mannes, der voller Heldenmut die Schule verlässt und kurz darauf dem Tod in die Arme läuft. Der im Mut die Sinnlosigkeit erkennen muss, die historische Schuld bei allem Recht, die Naivität im Heroismus. Fünf Jahrzehnte konnte der große israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk nicht über seine Erlebnisse im Unabhängigkeitskrieg von 1948 schreiben. Jetzt erzählt er in unwiderstehlich schönen Bildern und schockierenden Momentaufnahmen von dem Kampf, der zur Entstehung des Staates Israel führte. Mit historischer Karte, Zeittafel, Glossar und einem Porträt des Autors im Anhang. 'Kaniuk hat sich nie gescheut, bis an die Grenze des Sagbaren zu gehen, und manchmal darüber hinaus.' FAZ.

1930 in Tel Aviv geboren, verkörpert Yoram Kaniuk zionistische und israelische Geschichte. Er wurde im Unabhängigkeitskrieg verwundet, zog für zehn Jahre nach New York, kehrte 1961 nach Israel zurück. Für seine Romane, Geschichten und Kinderbücher erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt den renommierten Sapir-Preis für '1948'. Die Universität Tel Aviv verlieh ihm 2011 die Ehrendoktorwürde. Sein Roman 'Adam Hundesohn' wurde in 20 Sprachen übersetzt und 2008 verfilmt.Yoran Kaniuk starb am 8. Juni 2013 in Tel Aviv.
Kaniuk 1948 jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1
Es war einmal oder auch nicht, so oder anders, keine Erinnerung hat einen Staat, kein Staat hat eine Erinnerung. Ich kann mich erinnern oder eine Erinnerung erfinden, dabei gleichzeitig einen Staat erfinden oder denken, er sei früher anders gewesen. Ein Staat kann nicht anders sein, wenn ihm kein nicht-anderer vorangegangen ist. Am wichtigsten ist jedoch, ob der verwirrte Mann vorm Krankenhaus mir tatsächlich ungefragt unter Tränen gesagt hat, dass alles im Leben und vielleicht auch im Tod (den er allerdings noch nicht erlebt hatte, wie er mir gestand) auf drei Grundsätzen beruhe: Rache, Untreue und Neid. Ich fragte ihn, was mit der Liebe sei, und er sagte, Liebe – nur wenn sie betrogen wird oder scherzhaft ist. Die Liebe kommt nach der Untreue, aber bei dir wird sie vorher kommen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, das Gegenteil eines würdigen Buches zu schreiben und es »Das Komischste, was mir im Krieg passiert ist« zu nennen. Letzten Endes habe ich es unter diesem anderen Titel, »1948«, verfasst, der kein bisschen komisch ist, denn ich wollte tatsächlich über das Komischste, was mir im Krieg passiert ist, schreiben. Gleich nach dem Gespräch mit dem verwirrten Mann im umkämpften Jerusalem, vor dem Krankenhaus, einem italienischen Kloster, das man in ein Schlachthaus für Soldaten verwandelt hatte, kam ich in ein richtiges Bett und war selig, weil ich nach all diesen Monaten auf einem Leintuch lag. Mein Bein tat sehr weh, aber als ich die richtige Lage gefunden hatte, ging es mir gut. Mein Rücken berührte das Leintuch, ein Glas Wasser stand am Bett, ich trank daraus, und gerade als ich mich wie ein Mensch fühlte, gab es einen furchtbaren Knall. Eine Granate schlug durch die Zimmerdecke, die in Fetzen hing, zwei Nonnen hasteten herbei und legten mich auf eine Trage, und auf dem Weg zum Keller bestäubte mich alter christlicher Putz, der unaufhörlich von der Decke rieselte. Die eine Schwester sah mich an, ich war halbnackt, und sie sagte auf Hebräisch mit deutschem Akzent, der Versuch, den Satan zu überwinden, gleiche dem Höllenfunken, der auf das Hochzeitskleid der Seele falle. Laut dem Talmud – so hat sie gesagt, das weiß ich noch! – habe Ben Asai auf die Aufforderung, sich fortzupflanzen, erwidert: »Was soll ich tun, wenn meine Seele nach der Thora gelüstet; die Welt kann durch andere erhalten werden.« Es bestand durchaus ein Zusammenhang. Ich war jung. Sie war jung. Ich war halbnackt. Sie trug Nonnenkleidung. Aber sie hatte sich freiwillig entschieden, jungfräulich zu bleiben, und ich war es notgedrungen. Weiter sagte sie, warum, weiß ich nicht mehr: Die Ärzte spielen Gott! Die Erinnerung scheint also zu erwachen. Den grauenhaften Schmerz kann man ja nicht im Gedächtnis behalten, aber ich erinnere mich, dass ich Schmerzen hatte. Die Schwestern legten mich staubbedeckt auf eine Matratze, diesmal ohne Leintuch. Ich lachte komischerweise, und eine der Nonnen – die, weil es im Himmel angeblich keinen Humor gibt, wohl noch nie ein Lachen gehört hatte und nicht recht wusste, was dieser Laut war, der mir da entfuhr, und wieso meine Miene sich plötzlich löste – reinigte mich mit beachtlicher Gründlichkeit und fragte, woran ich dächte, wenn ich so den Mund verzöge. Sie sprach gut Hebräisch, und ich antwortete ihr, das sei bloß so, ich würde nichts denken, nix weiter. Aber du siehst mir nun gerade aus wie einer, der denken kann, beharrte sie, und ich sagte ihr, ich versuchte es vielleicht, und sie erwiderte: Aber du kannst es, du bist ein Lieber. Dann verstummte sie plötzlich, weil sie nicht wusste, was sie einem Achtzehnjährigen sagen sollte, dem man bald ein Bein abnehmen würde. Ich erklärte ihr, mein Lachen rühre daher, dass mir erst jetzt, wo ich nicht mehr kämpfen würde, aufging, dass ich kaum wusste, an welchem Krieg ich teilgenommen hatte und was mir dabei passiert war und warum ich auch dann noch weitergekämpft hatte, als kaum noch Aussicht bestand, wieder nach Hause zu kommen. Ich sagte ihr, ich wüsste eindeutig nicht genau, wer ich sei, was ich täte oder wo ich mich aufgehalten hätte. Sobald sie mich auf der muffigen Matratze in dem Keller versorgt hatte, der sich rasch mit Verwundeten füllte, rannte sie auf den Flur, um noch wen zu holen. All die Tage im Gefecht hatte ich mir keine Gedanken gemacht, keine Pläne geschmiedet. Ich tat, was man mir sagte, und ergriff nur dann die Initiative, wenn nichts anderes übrigblieb, als zu improvisieren. Hieß es »schlafen«, schlief ich, hieß es »aufstehen«, stand ich auf. Gab es was zu essen, aß ich. Gab es nichts, kannte ich keinen Hunger. Es kann gut angehen, dass man uns Natron ins knapp bemessene Trinkwasser getan hat, denn ich dachte nicht an die Mädchen, die mich im Jahr zuvor schier verrückt gemacht hatten mit ihrer erblühenden Weiblichkeit. Ich weiß noch sehr wohl, dass ich nichts in meinem angeschlagenen Schädel hatte. Wir waren wie Kinder, geradezu unverschämt jung, hatten uns freiwillig gemeldet. Einfaltspinsel waren wir, Partisanen. Außer mir hatte sich keiner in einer Jugendbewegung engagiert. Deren Mitglieder wurden erst später einberufen, als wir ihnen den Staat schon beinah fix und fertig hingestellt hatten. Wir waren ein zusammengewürfelter Haufen, einer von hier, einer von dort, besaßen noch keine Papiere, außer der Geburtsurkunde aus Palästina/Erez Israel, die wir natürlich nicht bei uns trugen. Warum habe ich dann in diesem durstgeplagten Loch ausgeharrt, warum bin ich nicht nach Hause gegangen, als die Belagerung noch durchlässig war? Ja, warum bin ich nicht einfach heimgekehrt? Schließlich hätte kein Mensch gewusst, was mit mir passiert war, und es hatte auch keiner Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich hätte man angenommen, ich sei in jordanische Gefangenschaft geraten oder gestorben und an unbekannter Stelle begraben worden, sei vielleicht ein Galmud – ein Alleinstehender, wie es auf dem Totenacker in der Tel Aviver Trumpeldor-Straße auf manchen Gräbern steht, und vielleicht würden sie meinen Leichnam finden, wenn ich tatsächlich an einem Ort gestorben war, wo kein Mensch mich vermutet hätte. Ich war ein Tor, der sich aufgemacht hatte, ein Held zu werden und den Feind zu schlagen. Das war ich. Bin ich so früh, mit siebzehneinhalb Jahren, eingerückt, weil ich ein Held war, oder weil ich Angst hatte und vor etwas weglief? Und wenn ja, wovor? Ich war sicher ein Angsthase. Phantasiebegabte Menschen fürchten sich. Sie können auch so dumm sein, sich freiwillig für aussichtslose Missionen zu melden. Aus Angst wurde ich ein Held, der seine Ängste überwand. Früher war ich nämlich ein ziemliches Angstbündel. Hatte Angst vor der Dunkelheit. Vor dem Tod. Vor Menschen. Vor dichtem Gedränge. Vor krankheitsübertragenden Fliegen, vor diesen Malaria verbreitenden Anopheles-Mücken, von denen meine Mutter Sarah redete, weil sie in ihrer Jugend in Erez Israel Bekanntschaft mit ihnen geschlossen hatte. Ich war kein so edler Recke wie viele meiner Kampfgenossen. Ich war einer, der nicht aufgab. Einer, der dem Tod trotz aller Angst ins Auge sah, ohne den Kopf zu beugen. Ich wusste, dass Tausende obdachlose Holocaustüberlebende an Bord kleiner Schiffe auf dem Meer umhertrieben, weil kein Land sie haben wollte. Ich hatte gelesen, dass Herr Goebbels drei Jahre zuvor gesagt hatte: Wenn die Juden so schlau und so begabt seien und so schön musizierten – wie komme es denn dann, dass kein Staat sie haben wolle? Und ich erinnere mich, dass mich das auf die Palme brachte und ich mithelfen wollte, diese Juden ins Land zu bringen. Aber bin ich wirklich deswegen im November 1947, kurz vor dem UN-Teilungsbeschluss, eingerückt? Abgehauen eines schönen Tages im ersten Trimester der zwölften Klasse am Neuen Gymnasium, wo es doch nicht schöner hätte sein können? Mit der hinreißenden Direktorin Tony Halle, die wie eine prächtige Maus aussah und einmal auf einen Stuhl stieg, die Augen schloss und dabei Tränen vergoss, die mit ihrer schönen, tiefen Stimme wie gebannt zu schildern begann, wie Heinrich IV. im Jahr 1077 vor der Felsenburg in Canossa ankam, in der Papst Gregor VII. sich hinter einem Vorhang versteckte, wie der arme Heinrich in Kälte und Schnee barfuß auf der kahlen Erde ausharrte, wie er ohne Schuhe und Strümpfe, ohne Unterwäsche, Hemd oder Mantel weinend dastand, während sich der Papst, warm angezogen, den brennenden Kamin im Rücken, verbarg und Heinrich IV., den schönen Helden und hohen, geliebten, von ihm wahrhaft geliebten König, beobachtete, der halb erfroren um sein Leben flehte. Und wir alle, die ganze Klasse, weinten, als wir von Heinrichs IV. Schicksal hörten. Ich erinnere mich nur, dass ich eines Tages einfach so von dieser wunderbaren Schule abging, mit einem Ausspruch, den ich selbst nicht glaubte: Mit Quadratwurzelziehen würden wir die Briten nicht aus dem Land kriegen. Und dann meldete ich mich zur Paljam, der Marineeinheit der Sturmtruppe Palmach, weil ich sagte, ich wolle die Überlebenden an die Küsten des Landes bringen, ohne richtig zu überlegen, wohin die Flüchtlingsschiffe tatsächlich gelangen würden. Und gleich nach den Übungen auf See ging’s ja ab zum Kämpfen ins Bergland von Jerusalem und Judäa. Ich war vorgeblich eingerückt, um Juden an Land zu holen – und dann? Dachte ich etwa, die Schiffe würden im Hafen von Jerusalem einlaufen, der zwischen Wüste, grüner Flur und dem Bab el-Wad, dem »Tor der Schlucht«, lebendig begraben lag? Und vorher hatten unsere lächerlichen Lehrer uns doch noch mühsam eingetrichtert, dass wir »das Land erbauen und von ihm erbaut werden« sollten, wobei wir kaum richtig begriffen, was sie damit meinten. Wir waren ja hier geboren. Mitten rein zwischen Disteln und Schakalen, zwischen Karren, die von Mauleseln mit...


Achlama, Ruth

Ruth Achlama, geboren 1945, lebt seit 1974 in Israel und übersetzt seit Anfang der 80er Jahre hebräische Literatur, darunter Werke von Amos Oz, Meir Shalev, Yoram Kaniuk und Ayelet Gundar-Goshen. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem mit dem deutsch-israelischen Übersetzerpreis und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Kaniuk, Yoram
1930 in Tel Aviv geboren, verkörpert Yoram Kaniuk zionistische und israelische Geschichte. Er wurde im Unabhängigkeitskrieg verwundet, zog für zehn Jahre nach New York, kehrte 1961 nach Israel zurück. Für seine Romane, Geschichten und Kinderbücher erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt den renommierten Sapir-Preis für „1948“. Die Universität Tel Aviv verlieh ihm 2011 die Ehrendoktorwürde. Sein Roman „Adam Hundesohn“ wurde in 20 Sprachen übersetzt und 2008 verfilmt.Yoran Kaniuk starb am 8. Juni 2013 in Tel Aviv.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.