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E-Book

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Keller Schabowskis Zettel

Roman

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-8392-5956-6
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die DDR ist in Aufruhr, aber der junge Volkspolizist Juri Hoffmann glaubt noch fest an den Sozialismus. Als er die Oppositionelle Nadja kennenlernt, gerät sein Weltbild ins Wanken. Die junge Journalistin recherchiert schmutzige Machenschaften der Stasi und gerät dabei in Lebensgefahr. Es gibt nur einen Weg, Nadja in Sicherheit zu bringen: Sie muss das Land verlassen. Aber wie kann ein einfacher Volkspolizist ihr dabei helfen?
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2
Christinenstraße, Berlin, sechs Tage zuvor … Nadja Worzyn fluchte, als sie von der Fehrbelliner Straße in die Christinenstraße einbog. Der Koffer mit ihren Büchern und Platten wog schwer. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, ihn zu tragen, stattdessen zerrte sie ihn wie ein störrisches Kind hinter sich her. Ein übergewichtiges, störrisches Kind! Rene Bintrup ging vor ihr, die unvermeidliche Kamera um die Schulter gehängt, in beiden Händen zwei Tüten, eine mit ihrem Hausrat, die andere mit ihren Klamotten. Ein Jutebeutel hing über der anderen Schulter. Er begutachtete neugierig die alten, düsteren Fassaden rechts und links der abschüssigen Straße, erzählte etwas über Jugendstil und Gründerzeit, was sie nicht verstand, weil er nach vorne sprach. Außerdem war Nadja mehr damit beschäftigt, den schweren Koffer festzuhalten, damit er nicht die Straße herunterpolterte und seinen Inhalt, von dem nicht weniges ihr eine Menge Ärger einbringen konnte, auf dem Kopfsteinpflaster verteilte. Die Schwerkraft überzeugte schließlich selbst das störrischste Kind. Rene drehte sich zu ihr um, ergriff mit einer Hand den Koffer und half ihr, ihn zu halten. Die Tüte, es war die, in der sie heute Morgen ihre Klamotten gestopft hatte, baumelte lose am Handgelenk. Vor dem dritten Haus auf der rechten Seite blieb sie stehen. »Hier ist es?«, fragte er. Nadja nickte. Vorgestern Abend hatte sie die Wohnung im Dachgeschoss entdeckt, dunkle Fenster ohne Vorhänge, kein Licht. Auf dem obersten Klingelschild am Eingang stand kein Name. Sie war ins Haus gegangen und das alte hölzerne Treppenhaus hinaufgestiegen, dessen Stufen unter ihren Schritten knarzten und die so ausgetreten waren, dass sie einmal fast ausgerutscht wäre. Oben hatte sie an der Tür gelauscht, geklingelt, geklopft. Niemand hatte ihr geöffnet. Sie hatte durch das Schlüsselloch geschaut und nichts gesehen, nicht einmal Gerümpel. Die Wohnung stand wie so viele in den Innenstadtvierteln Berlins leer. Offiziell galt sie vermutlich als unbewohnbar, aber Wohnraum war knapp, und Nadja, allein lebend, von Abitur und Studium ausgeschlossen, stattdessen unfreiwillig Arbeiterin in einer chemischen Fabrik, befand sich auf der Warteliste des Amtes für Wohnungswesen gewiss nicht an vorderster Stelle. Ganz im Gegenteil: Ihre Chancen auf eine legale Wohnung in Berlin standen gleich null. Was ihr blieb, war nur diese illegale Besetzung, schwarzwohnen. Streng genommen beging sie damit eine Straftat. Aber gegen »streng genommen« hatte sie schon immer rebelliert. Gemeinsam mit Rene schleppte sie den Koffer in das Dachgeschoss des alten und maroden Gebäudes. Über die Mittagszeit war alles ruhig. Nur im dritten Stock hörte sie ein Husten hinter dem dünnen hölzernen Türblatt einer Wohnung. Ansonsten herrschte Stille im Haus, überhörte man die gurrende Taube hinter dem alten Fenster in den Hinterhof, in dessen verblichenem Holzrahmen eines der vier Fenstergläser fehlte. Nadja mochte Tauben. Sie stellten den Koffer auf dem obersten Treppenabsatz ab und die beiden Plastiktüten vorsichtig daneben. Die Kamera baumelte vor Renes Bauch. Er grinste sie noch einmal an, legte ihr die Hand auf den Arm. Sie trat einen Schritt nach vorne, drückte den Türknauf, obwohl sie wusste, dass sich die Tür so einfach nicht öffnen ließ, allein, um die Hand loszuwerden, doch Rene ließ sie dort. Nadja dachte an seine Frau Gerda und den kleinen Leo, die in einer Wohnung auf der nahen Schönhauser Allee auf ihren Mann und Vater warteten, und streifte die Hand langsam ab. »Du musst mehr Kraft einsetzen«, erklärte Rene, ihre Geste unkommentiert lassend, und deutete auf die Tür. »Einfach gesagt!« »Versuch’s!« Sie stellte sich vor die Tür, lehnte sich mit der Schulter dagegen, schob dann den Oberkörper ein Stück weit zurück und warf sich gegen das Holz. Die Tür rappelte leicht, als wollte sie ihr freundlich zu verstehen geben, dass sie ihren Versuch durchaus wahrgenommen hatte. Sie versuchte es erneut, diesmal mit mehr Schwung. Die Tür rappelte ein wenig lauter, hielt weiter stand. Auch Nadjas dritter Versuch scheiterte. Die Tür blieb verschlossen. Nur ihre Schulter schmerzte. Sie sah Rene an. Sie hasste es, von Männern abhängig zu sein. Noch mehr hasste sie es, von Rene abhängig zu sein, bei dem sie in den letzten drei Wochen Unterschlupf gefunden hatte. Eine Situation, die für alle Beteiligten – außer vielleicht für Leo, der mindestens ebenso sehr in sie verliebt war wie sein Vater – unerträglich geworden war. Nicht zuletzt deswegen war sie an den letzten Abenden regelmäßig durch die Straßen gewandert, um eine leer stehende Wohnung zu finden. Natürlich wollte sie unbedingt in der Nähe bleiben, im Prenzlauer Berg, wo Künstler, Literaten, Oppositionelle lebten und wirkten, wo sie sich das erste Mal in ihrem Leben willkommen und angenommen gefühlt hatte. »Ich fürchte, du musst mir helfen.« Rene trat einen Schritt nach vorn, schlug mit der flachen Hand einmal fest gegen die Tür oberhalb des Schlosses. Mit einem lauten Krachen flog sie auf, als wollte sie ihren Protest gegen Renes Aggression ins Treppenhaus hinausschreien. Der Fotograf nahm davon unbeeindruckt den Koffer, grinste zufrieden und trug ihn hinein. »Turner«, erklärte er betont gelassen. »Da steckt mehr Kraft drin, als man denkt.« »Du hast geturnt?« »Turbine Potsdam, am Reck«, erwiderte er von drinnen. Sie nahm die beiden Tüten vom Boden, lauschte noch einmal das Treppenhaus hinunter, ob irgendwer außer der Taube von dem Lärm der auffliegenden Tür aufgeschreckt worden war, und folgte Rene in ihr neues Heim. »Beneidenswert! Ich bin über das Reck kaum rübergekommen.« »Ich war froh, als ich aufhören konnte«, sagte er nur. Es war klar, dass er das Thema nicht weiter vertiefen wollte. Als Erstes drückte sie den Lichtschalter neben der Tür. Manchmal hatte man ja ein wenig Glück. Sie juchzte bester Stimmung, als eine Glühbirne flackernd ansprang und die einzige Kammer erhellte. Rene schüttelte grinsend den Kopf. »Nicht zu fassen, du hast Strom!« Sie schauten sich um. Vergilbte, von Rahmen verschwundener Bilder verfärbte Tapeten mit einem kaum mehr zu erkennenden Blumenmuster, fleckige Streifen roter Rosen, durch grüne Banderolen voneinander getrennt, ein an manchen Stellen offen einzusehendes Ziegeldach, zwei kleine Fenstergauben zur Straße hin. Immerhin schienen die Fenster dicht zu sein. Sie stellte die Tüten ab, ließ den Raum auf sich wirken. Wer hatte hier zuletzt gelebt? Vor ihrem inneren Auge sah Nadja eine alte Frau in dieser Kammer sitzen, eine Frau, die vielleicht Jahrzehnte hier gewohnt hatte, zuletzt allein, die vielleicht auch hier gestorben war. Sie sah Beamte des Amtes für Wohnungswesen, die etwas verlegen in dem niedrigen Zimmer standen, sich umsahen und entschieden, dass hier niemand mehr leben konnte, ehe sie die Tür von außen zuzogen. »Du hast Glück«, sagte Rene und zog sich eine Fluse aus dem dichten roten Vollbart, die er mit einer lässigen Bewegung wegschnippte. Nadja sah, wie sie in dem Licht der Glühbirne tanzte und langsam zu Boden sank. »Möbliert.« Er deutete auf den kleinen Tisch an der einen Wand und das Bett auf der anderen Seite. Sogar eine Matratze fand sich noch darin. Weder das eine noch das andere hatte sie am Vorabend durch das Schlüsselloch erkennen können. Sie hatte wirklich Glück. Rene setzte sich demonstrativ darauf, wippte, der Lattenrost unter der Matratze quietschte. »Und bequem! Probier’s aus!« Er rückte ein Stück zur Seite und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Nadja bückte sich nach den Tüten und zog zwei Vorhänge heraus. »Ich kümmere mich mal lieber um die Wohnlichkeit«, antwortete sie und lief zu den Gauben, um den Stoff zu befestigen. Rene erhob sich und kramte in seinem Jutebeutel. Nach einigem Suchen zog er ein Türschloss hervor und hielt es hoch. »Das müsste passen.« Er holte noch einen Schraubenzieher aus dem Beutel, legte die Kamera beiseite und ging zur Wohnungstür. Binnen fünf Minuten hatte Nadja ihr eigenes Türschloss. Rene drückte ihr den Schlüssel in die Hand. Gemeinsam gingen sie hinaus. Nadja schloss die Tür und schloss sie zur Probe gleich wieder auf. Alles funktionierte tadellos. Zufrieden steckte sie den Schlüssel in die Tasche ihrer Jeans. Dann zog sie ein Klingelschild hervor und befestigte es über der alten, runden Klingel neben der Tür. »Worzyn«, las Rene, »jetzt ist es deine Wohnung. Vergiss aber nicht, die Miete zu bezahlen.« Sie vermied es, mit den Augen zu rollen. Nadja wusste selbst, dass sie die Miete für die Wohnung einfach überweisen musste – zumindest einen Betrag, den sie für angemessen und realistisch hielt –, um sie irgendwann legalisieren zu können. »Noch nicht ganz«, antwortete sie stattdessen. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Rene trug nur noch seine Kamera und den Jutebeutel. Am Hauseingang brachte Nadja ein weiteres Namensschild an. Niemand lief auf der Straße an ihnen vorbei, der misstrauisch werden könnte. Und selbst wenn: Vermutlich sahen sie aus wie ein junges Paar, das seine erste gemeinsame Wohnung bezog. »Du weißt, was du als Nächstes zu tun hast?«, fragte Rene, während Nadja das Schild prüfend musterte. Sie seufzte. »Natürlich. Als Erstes besuche ich heute Abend den Hausbuchverwalter und lasse mich ins Hausbuch eintragen.« »Der wird aber feststellen, dass du keine Zuweisung für die Wohnung hast.« »Aber natürlich...


Keller, Stefan
Stefan Keller lebt und arbeitet als Schriftsteller, Dozent und Dramaturg in Düsseldorf. Nach seiner Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist und Theaterdramaturg schrieb er unter anderem Hörspiele, Fernsehshows, Drehbücher und Bühnenstücke. Zudem lektorierte er für Filmproduktionen und Fernsehsender. Seit mehreren Jahren unterrichtet er Schreiben an den Universitäten in Köln und Düsseldorf. »Schabowskis Zettel« ist sein siebter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.

Stefan Keller lebt und arbeitet als Schriftsteller, Dozent und Dramaturg in Düsseldorf. Nach seiner Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist und Theaterdramaturg schrieb er unter anderem Hörspiele, Fernsehshows, Drehbücher und Bühnenstücke. Zudem lektorierte er für Filmproduktionen und Fernsehsender. Seit mehreren Jahren unterrichtet er Schreiben an den Universitäten in Köln und Düsseldorf. »Schabowskis Zettel« ist sein siebter Kriminalroman im Gmeiner-Verlag.


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