Kerber / Zimpfer | Aus dem Koma zurück an die Universität | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 172 Seiten

Kerber / Zimpfer Aus dem Koma zurück an die Universität

Was leistet die Natur? Was kann die Medizin? Was kostet ein Mensch? Ein Erfahrungsbericht

E-Book, Deutsch, 172 Seiten

ISBN: 978-3-904123-26-6
Verlag: Seifert Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Beim Befahren einer Wehranlage kentert der Physiker Wolfgang Kerber am 13. 3. 1999 mit seinem Kajak. Als er geborgen wird, hat er eine Körpertemperatur von 24 Grad. Er ist klinisch tot. Nur drei Monate später arbeitet er wieder in seinem alten Beruf, unternimmt Klettertouren und Kajakfahrten. In diesem Buch berichtet er von seinem Nahtod-Erlebnis und der Rückkehr ins Leben und dankt zugleich für die sprichwörtliche zweite Chance. Kerber gelingt dabei mit wissenschaftlich geschulter Beobachtungsgabe eine frappierend genaue Schilderung seines Zustands, die nicht nur Einblick in die ärztliche Kunst gewährt, sondern auch Aufschlüsse über Extremsituationen und die Psychologie eines Betroffenen gibt. Glück oder Vorsehung oder Ergebnis medizinischer Höchstleistungen? Kerbers behandelnder Arzt Michael Zimpfer schildert diesen seinen spektakulären Fall aus medizinischer Sicht und stößt unweigerlich auf Fragen, die uns immer wieder bedrängen: "Was leistet unsere Natur?", "Was kostet ein Mensch?" und "Was kann unsere Medizin – wenn man sie lässt?"
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2
Der Unfall
Von nun an beginnt sich meine Erinnerung zu verdunkeln. Was in der Realität auf die Szene mit dem kleinen Jungen in unserem Boot folgte, die ich im letzten Kapitel geschildert habe, das ist auf dem Foto (siehe Bildteil) festgehalten, das mein Freund in einem der ersten Wehre oberhalb von Türnitz von mir aufnahm. Davon weiß ich schon nichts mehr. Ich erinnere mich nur an eine Brücke, die übrigens schon zum Ortsgebiet von Türnitz gehört. An jener Stelle befindet sich ein spezielles Wehr, eine Art Kastenwehr, in dem die Strömung zuerst hinunter und dann wieder hinauf führt. Die Fallenergie wird in einem Auffangbecken für das abfließende Wasser, dem sogenannten Tosbecken, gebrochen. Hier arbeitet sich das Wasser optimal ab und verliert an Energie. Durch eine zusätzliche Mauer entsteht im Becken eine sehr starke Walze ohne Grundabfluss. Manchmal sind sogar noch Betonblöcke im Tosbecken verteilt, um weitere Wasserwucht zu brechen. Für einen Schwimmer etwa bedeuten diese eine besondere Gefahr, er kann sich aus einem Kastenwehr kaum selbst retten. An jenes Kastenwehr, das wir passierten, kann ich mich sehr wohl erinnern. Solche Wehre gibt es häufig, sie sind für erfahrene Kajakfahrer normalerweise unproblematisch, wenn sich viel Gischt, aber kein Rücksog bildet. Anders ist es bei einem Wehr mit Walzenbildung. Der Effekt des abströmenden Wassers einerseits und des rückströmenden Wassers andererseits lässt ein fahrtechnisch sehr interessantes Spiel zu: Man kann die Walze gewissermaßen »reiten«. Das heißt, wenn ich mich mit dem Boot quer zur Strömung und parallel zur Walze positioniere, sodass das von oben kommende Wasser mich gegen das von unten kommende drückt, dann kann ich mit meinem Boot in einer solchen Walze regelrecht stehen, und das sogar relativ lange. Allerdings braucht man viel Erfahrung, um abzuschätzen, dass die Walze noch ein Entkommen zulässt. Wenn nicht, hilft allenfalls eskimotieren und den ganzen Vorgang noch einmal von vorne beginnen. Das Walzenreiten ist eine sehr beliebte, aber durchaus gefährliche Spielerei, wobei ich mir rückblickend wohl auch die Frage stellen muss, warum ich mich auf so ein Wagnis überhaupt eingelassen habe. Dazu später noch mehr. Im Weiteren gebe ich wieder, was ich von Gerhard Neuwirth weiß: Vor diesem bewussten Kastenwehr bei Türnitz fragte ich noch eine vorbeikommende Frau, ob dieses Wehr öfter einmal befahren werde. Es war nämlich sehr speziell konstruiert, sodass es nicht nur einen Rücklauf gab mit einer Wirbelbildung, eben einer sogenannten Walze, sondern es hatte auch eine leicht ovale Form, wodurch auf der Seite noch ein weiterer Wirbel entstand. Dieser Wirbel verursachte eine etwas eigenwillige Strömungssituation. Man konnte nicht am Rand fahren, weil man sonst zur Mauer getrieben wurde, und in der Mitte befand sich der Walzenbereich, den ich auf jeden Fall vermeiden wollte, um nicht darin gefangen zu werden. Die Frau erzählte uns, dass Leute hier häufig mit einem Raft hinunterfuhren. Ein Raft ist allerdings mit dem Kajak nicht vergleichbar. Im Raft sitzt man stabil drin, und es kann einem eigentlich gar nichts passieren. Wenn man jedoch ein Wehr mit einem Boot befährt, ist die Sache anders. Es ist dann ratsam, dass einer vorausfährt, während die anderen am Ufer warten und schauen, was passiert. Und zwar so lange, bis sie das Signal bekommen: Ich bin durch, alles ist in Ordnung! Dabei wird das Paddel hochgehalten, oder man nimmt einfach Blickkontakt auf. Unter Umständen haben die Wartenden auch schon ihre Wurfsäcke vorbereitet. Bei mir war das sicherlich nicht der Fall, denn ich war nach dem Gespräch mit der Frau überzeugt, wenn hier schon jemand gefahren ist, kann nichts passieren. Ich fuhr also ohne Zaudern hinunter – und stand sofort quer. Einen Augenblick später war ich auch schon gekentert. Ich eskimotierte schnell, aber es war beinahe unmöglich herauszukommen, denn der Fluss war ebenso breit wie das Boot lang. Allein dies hätte mir eigentlich schon im Voraus zu denken geben sollen. Peter Schier, unser tschechischer Freund, versuchte, mich zu bergen: Für solche Situationen sind Hilfsmittel vorgesehen: Eines davon ist der Wurfsack, ein Seil, das in einem Sack steckt, mit einem kleinem Behälter und einem Griff daran, sodass der im Wasser Treibende den Sack oder das Seil mit den Händen packen kann, nachdem es ihm vom Ufer aus zugeworfen wurde. Peter kletterte ohne Wurfsack in den Fluss, weil er dachte, er könne das Boot herausziehen, da die Stelle von der Uferseite aus gut erreichbar war. Nur war die Strömung so gewaltig und das Gestein auf dem Grund so glatt, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte, ausrutschte und ebenfalls ins Wasser fiel. Jetzt schwamm mein Boot mit dem »Retter« und mir im Wasser herum. Da kam Gerhard Neuwirth und schleuderte uns geistesgegenwärtig seinen Wurfsack zu, an dem wir uns beide festhalten und so wieder ans Ufer gelangen konnten. Damit hatten wir die erste schwierige Situation gemeistert. Peter Schier war nach diesem Zwischenfall so unterkühlt, dass er keine Lust mehr hatte. Er packte seine Sachen, holte sein Auto und fuhr zurück nach Hause. Für ihn war dieses Abenteuer beendet. Gerhard und ich trugen Schutzkleidung, Neoprenanzüge und Goretex-Jacken. Ein bisschen Wasser dringt immer durch den Anzug, so gut können Material und Verarbeitung gar nicht sein. Auch mir muss ganz bestimmt kalt gewesen sein, denn ich trug keine Trockenausrüstung, die für solche Fälle ideal gewesen wäre. Dennoch wollte ich unbedingt weitermachen, denn ich fuhr nicht bei strahlend schönem Wetter auf eine Tour, um dann zu sagen, das war’s, danke, ich kehre um! – Im Gegenteil, eine solche Situation reizte mich erst recht. All das war wohl auch ein Grund für den Unfall. Ich betone an dieser Stelle noch einmal: Ich folge hier in allem den Erzählungen von Gerhard, ich selbst habe keine Erinnerung an diese Ereignisse. Zu zweit machten wir also weiter. Wir übertrugen einige Wehre und paddelten einen Teil der Strecke neben Eiszapfen, die sich an den Uferwänden gebildet hatten. Die Eiszapfen in meiner Erinnerung. Auf unseren gemeinsamen Touren fährt immer einer vor und der andere hinterher. Der Nachfahrende sieht, was passiert, er beobachtet die kritischen Stellen und wartet auch am Ufer, wenn es notwendig ist, während sich der Vordermann zügig fortbewegt. Der Vordermann war diesmal ich. Im Ort Lilienfeld erreichten wir schließlich ein Wehr, das sich von seiner Höhe her von den anderen deutlich unterschied. Es war nämlich ausgesprochen niedrig. Der Rand wies keine gerade Kante auf, sondern eine leichte Krümmung, sodass sich nicht nur eine breite Walze in der Strommitte befand, sondern zudem noch zwei Wirbel am Rand. Auch bei diesem Wehr wurde alles, was im Wasser schwamm, festgehalten und gelangte nur schwer wieder heraus. Für den Bootfahrer ergibt sich die besondere Schwierigkeit, dass das Wasser durch die Wirbelbildung am Rand deutlich erkennbar in Richtung Walze strömt. Im Grenzbereich Randwirbel und Walze kann man an der Oberfläche die Strömungsverhältnisse sehen, aber nicht, was darunter geschieht. Ich vermute, dass ich schnurgerade in den Grenzbereich gepaddelt bin. Wenn man das Wehr schief befährt, steht man unversehens quer und kommt nicht mehr hinaus. Normalerweise sollte ein solches Wehr überhaupt nicht befahren werden, noch dazu, wenn man wie ich kaum Erfahrungen damit hat. Allerdings wusste ich bereits, wie es ist, wenn unter solchen Bedingungen ein Langboot, wie ich eines fuhr, mit der Spitze von der Unterströmung, die sich von der Wasserbewegung an der Oberfläche grundsätzlich unterscheidet, erfasst wird. Bei den neuen Kurzbooten gibt es einen Paddelschlag, den »Boofschlag«, der verwendet wird, um Stufen, Wasserfälle und größere Walzen so befahren zu können, dass dabei der Rücklauf erfolgreich vermieden wird. Das Boot bleibt waagrecht, und die Spitze taucht gar nicht erst ein. Mittlerweile fährt beinahe jeder schon mit einem Kurzboot – nur ich besitze nach wie vor alte Langboote und leihe mir sehr oft ein Kurzboot aus. Ob mit Lang- oder Kurzboot, ich halte mich immer an die Uferstrecke mit der geringsten Strömung, weil ich von dort aus natürlich leichter an Land komme. Im Notfall gelingt es dem Partner auch besser, einem den Wurfsack zuzuwerfen. Am Rand treffen der Strömungsbereich und der Rückzugsbereich in Form einer Grenzschicht zusammen, was zumindest an der Oberfläche sichtbar ist. Üblicherweise versucht man, diese sogenannte ­Abriss- oder Trennkante zu nutzen. Ich fuhr vermutlich auch so, dass ich in den Abrissbereich gelangte, in jenen Bereich, wo die beiden Strömungen aufeinandertreffen und man die besten Chancen hat durchzukommen. Mein Freund war zwanzig Meter hinter mir geblieben und konnte die Stelle aufgrund seines schlechten Blickwinkels nicht einsehen. Gerhard erzählte später, dass er mich in der Walze vermutete. Es hätte immerhin sein können, dass ich die Walze ritt, um meine Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen. Daher verhielt er sich noch eine kleine Weile abwartend. Es muss in diesem Zeitraum gewesen sein, dass ich aus dem Boot gespült wurde und neben dem Boot in die Walze geriet. In einem solchen Wehr treibt alles in Richtung der stärksten Strömung, und genau an diesem Punkt hatte sich mein Boot verfangen. Da...


Dr. Wolfgang Kerber, geb. 1942 in Wien. Studium der Mathematik und Physik mit Auszeichnung. Hochschulassistenz am II. physik. Institut der Universität Wien, Wechsel an das Institut für Anorganische Chemie an der TU als Leiter der Kernresonanzabteilung, dann Kustos und Bibliotheksleiter am Technischen Museum für Industrie und Gewerbe, zuletzt Leiter der Zentralbibliothek für Physik. Er ist heute im Ruhestand und lebt mit seiner Familie in Wien.
Univ.-Prof. Dr. med. Michael Zimpfer M.B.A., geb. 1951 in Innsbruck. Seit 1992 Ordinarius an der Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie, Med. Uni Wien. Seit 2002 Vorsitzender der Austrian Anaesthesiology and Critical Care Foundation. Seit 2007 Mitglied des Vorstandes der Österreichischen Gesellschaft der Freunde des "Weizmann Institute of Science". Seit 2008 Co-Editor des Journals "Medical Innovation & Business". Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen. Preise und Auszeichnungen: Zentraleuropäischer Anästhesiepreis, Sandozpreis, Hoechst-Preis. Großes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.


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