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E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

Kincaid Mister Potter

E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

ISBN: 978-3-311-70205-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mr. Potter ist Analphabet und verdient seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer auf den Straßen Antiguas. Er dreht seine Runden, vorbei an dem Friedhof, auf dem er begraben werden wird. Die Sonne steht direkt über ihm, das Meer umgibt ihn, unterdrückte Leidenschaften erfüllen die Luft. Mr. Potter will mehr erreichen als sein Vater, ein armer Fischer, und seine Mutter, die Selbstmord begangen hat. Er will in besseren Verhältnissen leben, ein Auto besitzen, Freundinnen haben und die Schulden seiner Töchter tilgen. Eine von ihnen wird nach seinem Tod seine Geschichte erzählen – mit ebenso viel Distanz wie Mitgefühl.
Mit Mr. Potter lässt Jamaica Kincaid nicht nur eine schillernde literarische Figur entstehen, die so einzigartig wie typisch ist, so real wie fiktiv – im Schreiben nähert sie sich auch jener Person an, die ihr im Leben am meisten fehlt.
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Und an jenem Tag stand die Sonne dort, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel, und sie schien wie auch sonst so grell, dass selbst die Schatten verblassten, dass selbst die Schatten Schutz suchten; an jenem Tag stand die Sonne da, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel, doch Mr. Potter bemerkte es nicht, so sehr war er daran gewöhnt, die Sonne dort zu sehen, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel; wäre die Sonne nicht dort gewesen, wo sie auch sonst stand, hätte das Mr. Potters Tageslauf sehr verändert, es hätte bedeutet, dass es regnete, vielleicht nur für ganz kurze Zeit, aber es hätte Mr. Potters Tageslauf verändert, so sehr war er gewohnt, die Sonne dort zu sehen, wo sie auch sonst immer stand, hoch oben und mitten am Himmel. Mr. Potter atmete wie gewohnt, sein Herz schlug wie gewohnt unter seiner schwarzen Haut, schlug unter dem weißen Baumwollunterhemd, das er direkt auf der tiefschwarzen Haut trug, schlug unter dem schlichten weißen Baumwollhemd, das er über dem Unterhemd trug, es schlug also wie gewohnt. Er zog seine Hose an, und in die Hosentasche steckte er ein weißes Taschentuch. All dies war so normal wie sein Pulsschlag; wie er seine Kleider anzog, war so normal wie sein Pulsschlag, sein Herz schlug normal, und die Kleidung flößte Mr. Potter und Dingen jenseits von ihm Zuversicht ein, Dingen, die gar nicht wussten, dass sie Zuversicht brauchten. Auf dem Weg zu Mr. Shouls Garage schützte er sich vor der Sonne, indem er durch enge Straßen und Gassen ging; Tag für Tag beförderte er in Mr. Shouls Wagen Fahrgäste (er war Chauffeur, es machte ihm nichts aus, Chauffeur zu sein). Er sah eine Hündin, die Zitzen prall und geschwollen, der Bauch prall und geschwollen, die im Schatten eines Baumes lag, der in den weiten trockenen Ebenen Afrikas heimisch war, doch er dachte nicht, dass diese Hündin, die vor dieser Sonne Schutz suchte, trächtig und erschöpft von den Welpen in ihrem Bauch, irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte, nicht das Geringste; und Mr. Potter sah einen Mann in einem Hauseingang sitzen, und dieser Mann war blind, doch er hatte gute Ohren und horchte aufmerksam auf Schritte, die sich ihm näherten oder sich von ihm entfernten, und als er Schritte näherkommen hörte, richtete er sich auf, um den Herannahenden um Geld zu bitten; dieser Mann kannte das Geräusch von Mr. Potters Schritten und hatte ihn noch nie um irgendetwas gebeten. Und als Mr. Potter den Blinden mit seinem Becher in dem Hauseingang sah, sah, wie er einen Mundvoll zähflüssigen pappigen weißen Schleim, den er langsam in seiner Kehle angesammelt hatte, auf den Boden spuckte, da dachte er nicht, dass dieser Anblick irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte. Unterwegs zu Mr. Shouls Garage sah Mr. Potter einen Jungen auf dem Weg zur Schule, er sah die an einem Draht zum Trocknen aufgehängte Wäsche, fast alle Kleidungsstücke einer einzigen Familie. Er sah eine Frau, die eine Zigarette rauchte, er roch den Gestank einer gräulichen Flüssigkeit, die sich im Rinnstein sammelte, er sah ein paar Vögel auf einem Zaun sitzen, und nichts davon erinnerte ihn auch nur im Geringsten an sich selbst, und zwar deshalb, weil alles, was er sah, so eng mit ihm zusammenhing; zwischen ihm und dem, was er sah, gab es keinerlei Distanz. Und so bog Mr. Potter in die Corn Alley ein, ging weiter und bog dann in die Nevis Street ein und stand nun vor Mr. Shouls Garage. Mr. Shoul war nicht da und brauchte auch nicht da zu sein. Und an dem Tag, als Mr. Potter Dr. Weizenger zum ersten Mal begegnete, stand die Sonne da, wo sie auch sonst immer stand, hoch oben und mitten am Himmel, sie schien wie auch sonst, so gleißend und grell, dass selbst die Schatten verblassten und Schutz suchten, sodass Mr. Potter den Weg zu Mr. Shouls Garage durch eine Reihe schmaler Gassen und schattiger Seitensträßchen nahm; an so einem Tag begegnete Mr. Potter Dr. Weizenger zum ersten Mal. In Mr. Shouls Garage standen drei Autos, und alle gehörten Mr. Shoul, aber Mr. Shoul selber war nicht in der Garage bei seinen Autos. Mr. Shoul war in seiner eigenen Wohnung über der Garage, wo die drei Autos standen, und Mr. Shoul hatte inzwischen, das heißt, bis Mr. Potter in der Garage mit den drei Autos ankam, Eier und Porridge und Brot mit Butter und Käse gegessen und einige Tassen Lyons-Tee getrunken und unfreundliche Dinge auf unfreundliche Art zu einer Frau gesagt, die die Kleidung seiner Familie wusch, und dann unfreundliche Dinge auf unfreundliche Art zu der Frau, die ihm gerade das Frühstück gemacht hatte. Diese beiden Frauen waren in keiner Weise mit ihm verwandt, er kannte sie überhaupt nicht, sie gehörten, wie Mr. Potter, zu den Leuten, unter denen er lebte, seit er jenen so weit entfernten Ort verlassen hatte, Libanon oder Syrien oder so ähnlich, dürre alte Länder. Und im Libanon oder in Syrien, in diesen dürren alten Ländern, wäre Mr. Shouls Frühstück nicht so üppig und frisch gewesen (die Eier waren am Vortag gelegt worden, und das ganze Frühstück war mit Sorgfalt zubereitet), aber Mr. Shoul konnte sich an alles anpassen und passte sich an alles an, wie es gerade kam, und vieles kam, Gutes und Schlechtes, und er blieb, wenn es gut war, und verschwand bald, wenn die Dinge schlecht liefen. Aber jetzt standen die Dinge gut, und Mr. Shoul blieb bei seinem Frühstück sitzen, denn Mr. Potter war ja in der Garage und wusch die Autos, zuerst das, mit dem er, Mr. Potter, an diesem Tag fahren würde, also das, mit dem er jeden Tag fuhr, und dann wusch er das Auto, das sein Freund Mr. Martin fuhr, und dann wusch er das Auto, das Mr. Joseph fuhr. Mr. Joseph war kein Freund von Mr. Potter, Mr. Joseph war nur ein Bekannter. Und an jenem Tag fuhr Mr. Potter den Wagen von Mr. Shoul zum Landungssteg, wo ein großer Dampfer aus irgendeiner düsteren Ecke der Welt erwartet wurde, irgendeinem weit entfernten Ort, wo Aufruhr, Vertreibung, Mord und Terror herrschten. Mr. Potter waren Aufruhr, Vertreibung, Mord und Terror nicht fremd; sein ganzes Dasein in der Welt, in der er lebte, verdankte er solchen Dingen, aber er hielt sich nicht damit auf und konnte sich ebenso wenig damit aufhalten wie mit dem Atmen. Und so begegnete Mr. Potter zum ersten Mal Dr. Weizenger. Und wer war Dr. Weizenger? Und wer konnte diese Frage korrekt beantworten, oder wer konnte sie vollständig beantworten? Eigentlich niemand, jedenfalls nicht dieselbe Person, die eine genaue Beschreibung irgendeines Menschen auf dieser Welt liefern konnte und all dessen, woraus er bestehen mochte. Dr. Weizenger konnte keine genaue Beschreibung von sich selbst geben, denn eine genaue Beschreibung seiner selbst wäre zu viel für ihn gewesen. Aber der Mann namens Dr. Weizenger begegnete Mr. Potter an jenem Tag, einem Tag wie die meisten Tage im Leben Mr. Potters: Lange vor Mittag stand die Sonne schon mitten am Himmel und dann lange nach Mittag, denn Zeit, wie Dr. Weizenger sie bemessen mochte und wie er sie kannte, hatte für Mr. Potter eine andere Bedeutung; dies war nicht ihr erstes Missverständnis, es war nur eines von vielen. Dr. Weizenger war neu hier, aber seit vielen Jahren war Dr. Weizenger ständig irgendwo neu. Dreihundert Jahre lang lebten er und alle seine Leute in einem Land, das einst Tschechoslowakei hieß, er und alle seine Leute lebten dort in den Dörfern, in den Städten, in der Hauptstadt und in den Provinzen dieses Landes, und auf einmal konnten er und alle seine Leute nicht mehr in der Tschechoslowakei und Umgebung bleiben. Und deshalb war Dr. Weizenger einmal hier, einmal dort, einmal überall gewesen, und jetzt stand er vor Mr. Potter, und das war jetzt endgültig der Ort, an dem er bleiben würde, und das erklärte vielleicht seinen Hass und seinen Mangel an Sympathie für Mr. Potter (und alle, die wie Mr. Potter aussahen). Dieser Satz sollte damit beginnen, dass Dr. Weizenger aus der Barkasse stieg, die ihn von seinem Schiff an Land brachte, das im tiefen Teil des Hafens vor Anker lag, aber es geht um Mr. Potters Leben, und deshalb darf man niemals einen Satz mit Dr. Weizenger beginnen. Das entscheide nicht ich als Autorin oder weil es der Verlauf der Handlung bedingt, ich sage dies nur, weil es wahr ist: Mr. Potters Leben gehört ihm allein, und niemand anderes sollte Vorrang vor ihm haben. Und deshalb beginnt dieser Satz, dieser Abschnitt folgendermaßen: Als Mr. Potter Dr. Weizenger zum ersten Mal sah, dachte er an eine Frau, sie hieß Yvette und war vor Kurzem bei der Geburt von Mr. Potters erstem Kind, einem Mädchen namens Marigold, gestorben; den Namen erhielt das Mädchen von Yvettes Verwandten, und er hatte für diese Verwandten keinerlei Bedeutung und hatte mit Mr. Potter nicht das Geringste zu tun, ohnehin hatte Mr. Potter mit Yvette nicht viel zu tun. Und als er an diese Frau dachte, an Yvette, die gerade sein erstes Kind mit dem Namen Marigold zur Welt gebracht hatte, dachte er nicht, dass die Welt jetzt von Glück erfüllt war, dachte er nicht an den goldenen Schimmer, der die Welt bei ihrer Entstehung verwandelte, nicht an das neue, satte, durchsichtige Licht, nicht an das Wunder, das Geheimnis, das nie Erforschbare, die Kränkungen, auf die Zorn folgen würde, und wie der dann zu Leere führen würde, und wie es kam, dass er, Mr. Potter, in dieser Leere lebte. Die Gedanken, die Worte,...


Kincaid, Jamaica
JAMAICA KINCAID, 1949 als Elaine Potter Richardson in St. John’s/Antigua geboren, ging mit 17 als Au-pair nach New York, wo sie zur Schriftstellerin wurde, zu Jamaica Kincaid. Viele ihrer preisgekrönten Erzählungen und Romane handeln von ihrer besonderen Rolle als Tochter, als Frau, als Schwarze, als Angehörige einer ehemaligen Kolonie am Rande der Welt. Kincaid hat zwei Kinder und ist wegen ihres Mannes 1979 zum Judentum konvertiert. Sie lehrt in Harvard und lebt in Vermont.

JAMAICA KINCAID, 1949 als Elaine Potter Richardson in St. John's/Antigua geboren, ging mit 17 als Au-pair nach New York, wo sie zur Schriftstellerin wurde, zu Jamaica Kincaid. Viele ihrer preisgekrönten Erzählungen und Romane handeln von ihrer besonderen Rolle als Tochter, als Frau, als Schwarze, als Angehörige einer ehemaligen Kolonie am Rande der Welt. Kincaid hat zwei Kinder und ist wegen ihres Mannes 1979 zum Judentum konvertiert. Sie lehrt in Harvard und lebt in Vermont.


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