Kingsley | Die neue Odyssee | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 333 Seiten

Kingsley Die neue Odyssee

Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise

E-Book, Deutsch, 333 Seiten

ISBN: 978-3-406-69228-4
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Europa ist mit der größten Migrationsbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert – und niemand hat intensiver über diese Krise berichtet als Patrick Kingsley. Der erst 26 Jahre alte Reporter des "Guardian" hat 2015 drei Kontinente und 17 Länder bereist, Hunderte von Migranten getroffen und mit ihnen die Fluchtrouten durch Wüsten, über Berge und Meere zurückgelegt. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte. Patrick Kingsley legt ein hohes Tempo vor. Er reist mit dem Syrer Hashem al-Souki auf dem Zug, trinkt selbstgebrannten (und verbotenen) Schnaps mit dem libyschen Menschenschmuggler Haji, der einmal Jurastudent war, marschiert mit Fattemah Abu al-Rouse, der schwangeren syrischen Lehrerin, die Angst hat, ihr Kind zu verlieren, durch die Wildnis des Balkans, ist an Bord eines Bootes im Mittelmeer. Er schildert, wie das Multi-Millionen-Dollar-Geschäft mit dem Menschenhandel in Libyen, der Türkei und Ägypten organisiert wird. Er zeigt, wie lokale Kaufleute und korrupte Politiker in Italien vom Elend der Menschen profitieren. Er beschreibt die Fluchtrouten, hinterfragt die Ursachen der Krise und die Gründe für die bedrückende Reaktion so vieler Europäer. "Die neue Odyssee" ist ein großartiges Buch, das niemand so leicht vergisst, der es gelesen hat.
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Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Widmung;5
5;Inhalt;7
6;Motto;9
7;Prolog;11
8;1. Ein unterbrochener Geburtstag;21
9;2. Das Zweite Meer;33
10;3. Handel mit Menschen;62
11;4. SOS;101
12;5. Schiffbruch;120
13;6. Gelobtes Land?;157
14;7. Zwischen Wäldern und Wasser;174
15;8. Nach Schweden;248
16;9. Ein Tor fällt ins Schloss;257
17;10. Status ungeklärt;298
18;Epilog: Was geschah als Nächstes?;319
19;Eine Nachricht von Haschem al-Souki;321
20;Anmerkung des Autors;323
21;Dank;327
22;Anmerkungen;329
23;Abbildungsnachweis;332
24;Zum Buch;333
25;Über den Autor;333


PROLOG
Mittwoch, 15. April 2015, 23 Uhr
Es ist dunkel, weit draußen auf dem Meer. Haschem al-Souki kann seine Nachbarn nicht sehen, aber er kann sie hören. Es sind zwei afrikanische Frauen – vielleicht aus Somalia, aber jetzt ist nicht die Zeit, danach zu fragen –, und Haschem liegt mit ausgestreckten Armen und Beinen auf ihnen. Seine Schenkel pressen sich auf ihre. Sie wollen, dass er wegrückt, schnell, und das möchte er auch tun. Aber er kann nicht – mehrere andere Menschen liegen auf ihm. Und über diesen befindet sich möglicherweise noch eine weitere Schicht Menschen. Dutzende Menschen sind auf dieser hölzernen Jolle zusammengepfercht. Wenn sich einer zu bewegen versucht, stößt einer der Schleuser ihn wieder zurück an seinen Platz. Sie möchten verhindern, dass das überfüllte Boot aus dem Gleichgewicht gerät und sinkt. Es ist vielleicht 23 Uhr, aber Haschem ist sich nicht sicher. Er verliert allmählich das Gefühl für Zeit und Ort. Am frühen Abend, an einem Strand an der nördlichsten Spitze von Ägypten, wurden er und seine Reisegefährten auf dieses kleine Boot geführt. Nun treibt dieses Boot wer weiß wo, schaukelt in der nächtlichen Dunkelheit auf den Wellen, irgendwo im südwestlichen Mittelmeer. Und die darauf befindlichen Passagiere schreien. Einige Schreie klingen Arabisch, andere nach anderen Sprachen. Es sind Menschen aus Afrika auf dem Boot, andere kommen aus dem Nahen Osten. Es sind Palästinenser, Sudanesen und Somalier. Auch Syrer, wie Haschem. Sie wollen nach Nordeuropa: nach Schweden, nach Deutschland, jedenfalls irgendwohin, wo sie eine bessere Zukunft finden können als in ihren verwüsteten Heimatländern. Für diese vage Hoffnung nehmen sie diese gefährliche Bootsfahrt zur italienischen Küste auf sich. Wenn alles gut geht, sollten sie in fünf bis sechs Tagen Italien erreichen. Aber momentan weiß Haschem nicht, ob er diese Nacht überleben wird. Oder ob sie überhaupt jemand auf dem Boot überleben wird. Eine Stunde vergeht. Sie treffen auf ein zweites Boot, ein größeres, dann auf ein drittes, das noch größer ist. Bei jedem dieser Boote werfen die Schleuser die Passagiere über Bord wie Säcke mit Kartoffeln. Jetzt haben sie etwas mehr Platz, aber sie sind völlig durchnässt. Sie mussten durch die Wellen waten, um zu der Jolle zu gelangen, und das zweite Boot war voller Wasser. Ihre Kleider sind tropfnass, sie frieren. Und ihnen ist schlecht. Die Person, die links neben ihm liegt, erbricht sich über Haschem. Dann tut Haschem es ihr gleich und erbricht sich über den Mann rechts von ihm. Er blickt um sich und sieht, dass es den anderen ebenso geht, die Kleider aller Passagiere sind voll mit Erbrochenem. Jeder von ihnen hat mehr als 2000 Dollar bezahlt, um sich über seine Mitflüchtlinge zu erbrechen. «Das ist eine richtige Kotzparty», denkt sich Haschem. Das Bemerkenswerteste an dieser Szene ist wahrscheinlich die Tatsache, dass sie gewissermaßen alltäglich geworden ist. Die Welt erlebt gegenwärtig die größte Massenmigration seit dem Zweiten Weltkrieg – und die dramatischsten Erscheinungsformen dieses Phänomens ereignen sich im Mittelmeer. In den Jahren 2014 und 2015 überquerten mehr als eine Million Menschen das Mittelmeer in klapprigen Booten wie diesem.[1] Zwischen 2016 und 2018 könnten nach Schätzungen der Europäischen Union mehr als drei Millionen ihrem Beispiel folgen, da die Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan und im Irak eine bislang ungekannte Zahl von Menschen in Richtung Europa treiben. Jahrelang wurde die Last der globalen Flüchtlingskrise überwiegend von den Entwicklungsländern getragen, in denen nach Angaben der UNO bislang 86 Prozent aller Flüchtlinge Unterschlupf gefunden haben. Nun wird sich Europa ihrer Existenz bewusst. Die Migration nach Europa ist keineswegs neu. Schon seit langem versuchen afrikanische Migranten über Marokko nach Spanien oder vom Senegal aus auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Seit Jahren sind Libyen, die Türkei und Ägypten Sprungbretter für Menschen, die sich nach Italien, Griechenland oder Bulgarien durchzuschlagen hoffen. Doch noch niemals zuvor sind sie in solch großer Zahl gekommen. Im Jahr 2014 bestand der Flüchtlingsstrom hauptsächlich aus Syrern, Eritreern und Menschen aus Schwarzafrika. Die meisten reisten damals über Libyen (nachdem dort im Gefolge des Arabischen Frühlings die politische Ordnung zusammengebrochen war), einige auch über Ägypten nach Italien. Ungefähr 170.000 Flüchtlinge gelangten 2014 nach Italien, nahezu dreimal so viele wie auf dem Höhepunkt der vorhergehenden Flüchtlingswelle.[2] Im Jahr 2015 brachen fast ebenso viele afrikanische Flüchtlinge wie im Sommer des Vorjahres von Libyen und Ägypten aus nach Europa auf. Doch in diesem Jahr löste Griechenland Italien als bedeutendstes Einfallstor nach Europa ab. Eine Änderung der Visumsvorschriften für syrische Flüchtlinge hatte zur Folge, dass diese nicht mehr ohne weiteres nach Nordafrika gelangen konnten, und der Krieg in Libyen führte dazu, dass viele dies auch nicht mehr wollten. Deshalb begannen sie nun in großer Zahl von der Türkei auf die griechischen Inseln überzusetzen, ebenso wie Emigranten aus Afghanistan und dem Irak, wo die politische Instabilität immer mehr zunahm. Kleine Inseln, die bisher verschlafene Urlaubsorte am Rande der Ägäis gewesen waren, wurden über Nacht in das Zentrum der nahöstlichen Flüchtlingskrise gerissen. Die Griechen, die ohnehin mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu kämpfen hatten, waren auf diese Entwicklung völlig unvorbereitet. Plötzlich wurde ein Problem, das bisher nur Westeuropa betroffen hatte, auch zu einer Herausforderung für den Osten Europas. Im Jahr 2015 setzten sich mehr als 850.000 Flüchtlinge von den Küsten der Türkei aus in Bewegung[3] – und der größte Teil von ihnen zog über den Balkan nach Norden, in der Hoffnung, der Sicherheit und der Stabilität Nordeuropas teilhaftig zu werden. Ungarn, an dessen Südgrenze noch vor fünf Jahren nur 2400 Migranten angekommen waren,[4] musste plötzlich das Hundertfache dieser Zahl bewältigen. Schließlich errichtete die ungarische Regierung einen Grenzzaun entlang der Südflanke ihres Landes. Als die Flüchtlinge über Kroatien auswichen, bauten die Ungarn einen zweiten Zaun an der Grenze zu Kroatien. Zwischen den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Union brachte diese Krise Teilungen und Konflikte eher metaphorischer Art hervor. Italien und Griechenland wollten nicht einsehen, dass sie allein mit dieser gewaltigen Flüchtlingswelle zurechtkommen sollten, und suchten nach Wegen, einen Teil der Last auf die anderen EU-Länder umzuverteilen. Zunächst winkten die Italiener und die Griechen viele Flüchtlinge einfach durch, anstatt die Insassen der ankommenden Boote zu ermutigen, sich auf italienischem oder griechischem Boden niederzulassen, wie es die geltenden EU-Bestimmungen, die so genannten Dublin-Verordnungen, verlangten. Dann versuchten sie ihre Anliegen am Verhandlungstisch durchzusetzen und bemühten sich, ihre Nachbarn zur freiwilligen Übernahme von Migranten zu bewegen. Doch trotz endloser Konferenzen und Gipfeltreffen weigerten sich die meisten anderen EU-Länder, den Italienern und Griechen mehr als nur eine symbolische Zahl von Flüchtlingen abzunehmen. Im Herbst verständigte sich die Mehrheit der Regierungen schließlich auf eine Vereinbarung, derzufolge 120.000 Flüchtlinge von den an der EU-Außengrenze liegenden Staaten in die übrigen Länder des Kontinents verteilt werden sollten. Für die zahlenverliebten Bürokraten in Brüssel war dies ein kleiner Sieg und die Schaffung eines wichtigen Präzedenzfalles. In Wirklichkeit aber war es eine erbärmliche Reaktion. Diese 120.000 Menschen machten lediglich ein Neuntel der Gesamtzahl von Flüchtlingen aus, die 2015 in Italien und Griechenland ankamen,[5] wodurch dieses so genannte Abkommen praktisch bedeutungslos wurde. Eines der Gründungsprinzipien der Europäischen Union – die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten – schien nichts mehr zu zählen. Im weiteren Verlauf des Jahres 2015 errichteten immer mehr Länder Grenzzäune, um die Flüchtlingsströme umzuleiten, und einige drohten sogar, ihre Grenzen vollständig abzuriegeln. Dadurch geriet ein weiterer...


Patrick Kingsley ist der Migrationskorrespondent der britischen Zeitung "The Guardian". Für seine Arbeiten hat der erst 26 Jahre alte Reporter bereits vier Auszeichnungen erhalten, darunter 2013 "New Journalist of the Year" und 2014 "Young Journalist of the Year" und "New Voice of the Year".


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