Kizilhan | Der Kreis | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Kizilhan Der Kreis

Die letzte Jesidin

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-95890-533-7
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mitten hinein in die Wirren und politischen Umwälzungen während und nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, in das Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Kolonialmächten wird die kurdische Jesidin Aziza geboren. Es ist die Zeit, in der das osmanische Militär, später auch fanatische muslimische Sekten mit allen Mitteln versuchen, die Jesiden zum Islam zu bekehren. Jesidische Dörfer werden angegriffen, das Hab und Gut der Einwohner gestohlen, Frauen und Mädchen versklavt. Selbst vor den Gräbern der Jesiden wird nicht Halt gemacht, die Verstorbenen aus- und nach islamischer Tradition erneut begraben.

Auch Azizas Familie wird gefangen genommen und zwangsislamisiert. Doch trotz allen Leids und aller Grausamkeiten, die das Mädchen erleiden muss, lässt sie sich nicht brechen und bleibt eine aufrechte Jesidin. Nachdem ihr die Flucht gelungen ist, wandert sie bis zu ihrem Tod als Heilerin von einem Dorf ins andere und hilft ihren Mitmenschen – unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Herkunft. Als sie stirbt, ist sie bereits zu einer regionalen Legende geworden, die von Muslimen, Christen und Jesiden gleichermaßen verehrt wird.

Nach der wahren Geschichte der Jesidin Begê Samur (1894–1956), deren Grab bei Urfa in der Türkei heute ein heiliger Ort ist, an den Menschen allen Glaubens gehen, um für Heilung zu beten.
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Buch II
IM NAMEN GOTTES
1
Noch vor Sonnenaufgang krähte ein Hahn durchdringend. Kurz darauf dröhnte dumpf eine Glocke und weckte sie vollends. Durch das Schnitzwerk des Fensters drang die Dämmerung mit ihrem grauen Licht. Die drei Mädchen, mit denen Aziza das Zimmer teilte, hatten sich bereits von ihren Lagern erhoben, nahmen ihre Bettdecken weg und drapierten stattdessen Sitzdecken über die Matratzen. Dann legten sie die Hände vor die Brust und schlüpften murmelnd eine nach der anderen hinaus auf den breiten Gang. »Wie Bienen, wenn der Tag anbricht«, dachte Aziza, sprang auf und eilte ihnen hinterher. Nun drängten aus allen Türen Mädchen auf den Gang und liefen die Treppe zum Waschraum hinunter, der im Erdgeschoss lag. Sie wuschen sich an weißen Marmorbecken unter einem hohen Gewölbe, das mit blauen und weißen Kacheln ausgekleidet war. Nach der Reinigung des Körpers wechselten sie das Gewand. Auch Aziza verfügte jetzt über einen hölzernen Schrank. Die junge Frau, eine Araberin, die neben ihr stand und sich ihr als Aysha vorgestellt hatte, zog eine funkelnde Halskette aus ihrem Spind. Stolz legte sie das Schmuckstück um und steckte anschließend glitzernde Hänger an ihr Ohr. Am Ende holte sie einen glitzernden, goldverzierten Armreif hervor. »Hier, nimm dies«, sagte sie und überreichte Aziza das edle Schmuckstück. Ergriffen von der schlichten Geste, fuhr Aziza mit der Fingerspitze über das filigrane Metall. Behutsam legte sie es sich ums Handgelenk. Aysha drehte den Armreif behutsam so herum, dass die Verzierungen gut auf der zarten Haut von Aziza zu sehen waren. Aziza registrierte erstaunt, dass sich die Hände der jungen Frau anfühlten wie Rosenblätter im Wind. Noch nie hatte sie jemand mit solch zarten Händen berührt. »Wir sind noch nicht fertig. Auch wenn wir unter unseren Gewändern nicht zu sehen sind, so schmücken wir uns. Wer weiß, vielleicht wirst du die nächste Frau des Sheikhs oder er gibt dir einen Mann zum Gemahl, der ihm wichtig ist. Dann wird dieser von deiner Schönheit so geblendet sein und blind vor Liebe, dass er dich ein Leben lang auf Händen tragen wird. Also, beweg dich nicht«, befahl Aysha und schminkte sie mit einer wohlriechenden weißen Paste, und mit einer dunklen Masse, die nach Henna und Jasmin roch, färbte sie Azizas Augenlider dunkel und ihre Lippen rubinrot glänzend. Zum Schluss tupfte ihr Aysha vorsichtig einige Tropfen Rosenduft auf Hals und Nacken. Am späten Vormittag stand Aziza so geschmückt an einem der Fenster im oberen Stockwerk mit den drei Frauen und blickte auf die Oliven- und Feigenbäume im großen Innenhof hinunter. Was ihre Mutter wohl gerade tat? Noch vor einer Woche hatte sie mit Silt auf den Feldern gearbeitet oder ihr geholfen, Heilkräuter zu sammeln, und nun stand sie auf einem weichen Teppich in dieser Medrese, die einem Palast glich. In den ersten Tagen hatten ihre Gedanken noch um eine mögliche Flucht gekreist, aber es gab keinen Weg aus dem Gebäude. Jeder Gang endete an einer bewachten Tür oder einer hohen Mauer. Die Medrese war groß, überall wimmelte es von bewaffneten Männern, die wie Ameisen umherliefen. »Was passiert hier mit mir, und wo bin ich?«, fragte sich Aziza die ganze Zeit. Die Frauen scherzten untereinander wie kleine Kinder und hatten nur Angst vor der Frau ohne Gesicht, wie sie die raue Stimme hinter dem Schleier nannten. Und draußen? Dort herrschte ein Treiben, als stehe ein Krieg bevor. An diesem Nachmittag hatten die Männer besonders finstere Mienen. Sie packten auf dem Hof Säbel, Messer, Gewehre und Pistolen in große Kisten, während in einem Saal gegenüber Schüler die Schriften studierten oder laut beteten. Wie anders war es zu Hause bei Silt gewesen, wie gut ihre menschliche Zuneigung und echte Wärme ihr getan hatten. Hier aber schien die Welt trotz all der glänzenden Kacheln und glitzernden Schmuckstücke leer und seelenlos zu sein. Aziza beobachtete, wie die drei Mädchen kichernd das Zimmer in Richtung Garten verließen und es sich dort auf einem Teppich unter dem Schatten des Feigenbaums gemütlich machten und Pfefferminztee tranken. Andere junge Frauen gesellten sich zu ihnen, und sie redeten und lachten, als gehöre ihnen die Welt. Da Aziza bisher keinen durchführbaren Fluchtplan hatte schmieden können, gesellte sie sich zu ihnen, um sich die Zeit zu vertreiben oder vielleicht etwas zu hören, dass ihr bei der Flucht helfen konnte. Unter dem Feigenbaum stand eine der drei, Nilüfer, gerade von ihrem Kissen auf. Die große schlanke Türkin las gerne vor. Jetzt begann sie mit erhobenem Zeigefinger zu sprechen, während sie den mit Ornamenten geschmückten Koran in ihren Händen hielt. Aziza kannte das Heilige Buch der Muslime. Für die Frauen hier war es mehr als ein Buch. Es war ein Heiligtum! Nilüfers Stimme hallte weit, stieg wie der Duft der Baumblüten bis hoch zur Fassade auf, hinter der sich die Schlafräume der Frauen verbargen. Auf ihrem Gesicht lag eine ernste Feierlichkeit, die verriet, wie sehr ihr das Vortragen und Ermahnen gefiel. Aziza beobachtete die Türkin oft, denn sie war die Stärkste von allen. Zeynep, die Dritte im Bunde, strahlte hingegen keinerlei Kraft aus. Mit angezogenen Beinen, die Knie fast am Kinn, hockte sie da und lauschte der Türkin gelangweilt. Sie sprach wenig, aber wenn sie etwas sagte, klang sie wie eine Fremde. Es hieß, sie sei eine junge Azeria, also eine Aserbaidschanerin, die gerne traurige Verse sang, vor allem, wenn sie vor dem Käfig stand, in dem ihr Vogel hauste – ein Rabe, schwarz wie die Nacht. Aziza hielt sich fern von ihm. Aysha hatte von den drei Frauen das meiste Interesse in ihr geweckt. Die zierliche rothaarige Araberin hörte der Türkin nicht zu, sondern schaute auf zum Himmel, als gingen ihr angesichts der wandernden Wolken Geschichten durch den Kopf. Jetzt stand sie von ihrem Kissen auf. Deutlicher konnte sie ihre Gleichgültigkeit nicht zeigen. Sie ging über den Kiesweg zu den überdachten Arkaden, die den Innenhof umschlossen, und ließ Aziza und die beiden anderen Mädchen allein. Azizas Blick folgte ihr kurz, bis sie in dem Gebäude verschwand. Auch ihr Blick wanderte hinauf zum Himmel. Hinter den Dächern der Medrese zogen Wolken vorbei. Manche von ihnen sahen fast so lebendig aus wie Menschen, die sich bewegen, weil sie ständig ihre Form veränderten. Vielleicht war jede Wolke mal ein Mensch gewesen und nach dem Tode lebte jeder als Wolke im Himmel weiter und so kommunizierten alle miteinander? Vielleicht reden sie ja auch mit uns, dachte Aziza. Wir verstehen sie nur nicht. Vielleicht ist auch mein Großvater unter ihnen. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hervor. Aziza legte die Hand über die Augen, um sich das weiter auszumalen. Wie im Traum folgte sie den Wolken und ihren Geschichten, die unendlich schienen. Ein Windhauch strich ihr über das Gesicht. Plötzlich aber wurde sie sich bewusst, wo sie sich befand: Die Medrese war der äußerste Flügel einer gewaltigen Festung, die auf einem Hügel lag und so den Himmel zu berühren schien; die Abhänge waren so steil und tief, dass die Ebene nicht zu sehen war. Straßen und Wege waren wie winzige Striche auf einer Landkarte. Ein Schwarm Zugvögel flog auf die Festung zu. »Dir gefällt das Beobachten, nicht wahr?«, hörte sie eine bekannte Stimme hinter sich. Erschrocken drehte Aziza sich um. Aysha war unbemerkt zurückgekommen. »Warum erschreckst du mich so?«, fragte Aziza und wandte sich wieder dem Himmel zu. »Warum beobachtest du uns und alles um dich herum?«, hakte Aysha nach. Aziza wollte nicht unfreundlich sein, doch die Nähe der Araberin machte sie nervös. »Tue ich etwas Verbotenes? Darf man sich nicht umsehen?« »Nicht wirklich, aber deine Neugier kann dich verraten. Willst du fliehen oder hat dich jemand geschickt? Nilüfer ist der Meinung, du bist aus einem besonderen Grund hier.« Aziza beobachtete wortlos Nilüfer, die mit Zeynep im Schatten der Bäume kaltes Wasser aus einer Karaffe ausschenkte und dann ihren Becher in einem Zuge austrank. »Ich bin hier, weil ich entführt wurde.« Aysha lachte und machte eine schwungvolle Bewegung. »Das behaupten alle. Ja, und?« Aziza zog eine Augenbraue hoch. »Wir alle sind nicht freiwillig hier«, antwortete Aysha blitzschnell. Sie redete so laut, dass die anderen Mädchen sich kurz umdrehten. Aber sie waren so sehr mit sich beschäftigt, dass sie sich rasch wieder abwandten. »Was meinst du genau?« »Hier werden viele Frauen hingebracht, und genauso schnell, wie sie gekommen sind, verschwinden sie auch wieder.« »Ist schon einmal jemand geflohen?«, fragte Aziza vorsichtig. »Nein, aber niemand bleibt hier lange.« »Was...


Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan stammt aus dem kurdischen Teil der Türkei und gilt als international anerkannter Experte der Transkulturellen Psychiatrie und Traumatologie. Er ist Orientalist und Psychologe, leitet das Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und ist Dekan des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok (Autonome Region Kurdistan in Irak). Er kümmert sich seit Jahren um Opfer der Terrormiliz Islamischer Staat sowie Mädchen und Frauen aus der Volksgruppe der Jesiden und bildet Fachkräfte in vielen Ländern der Welt aus. Für sein außerordentliches Engagement im Bereich Menschenrechte wurde er mit dem Women's Rights Award 2016 und dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. 2017 erhielt er vom American Jewish Committee (AJC) den Ramer Award for Courage in the Defense of Democracy für sein Engagement zugunsten jesidischer IS-Opfer.


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