neue kleine Geschichten zum großen Fest
E-Book, Deutsch, 124 Seiten
ISBN: 978-3-7583-7736-5
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
...in den nachdenklichen, humor- und phantasievollen oder romantischen Geschichten scheint das Licht der Weihnacht ganz besonders hell.
Mit Erzählungen von Thomas Klappstein, Thomas Lardon, Fabian Vogt, Christina Brudereck, Rainer Buck, Albrecht Gralle, Miriam Küllmer-Vogt, Mickey Wiese, Frank Bonkowski, Christian Döring, Gofi Müller
Autoren/Hrsg.
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Die Weihnachtsfrau
Endlich fiel die Temperatur unter Null und morgens waren Hausdächer, Nadelbäume und Vorgärten mit Raureif überzogen. Herrlich! Ich hatte nachmittags einige Besorgungen zu machen, war nun in der einsetzenden Dämmerung auf dem Nachhauseweg und sah schon von weitem die Lichter des Weihnachtsmarktes. Der Raureif hatte sich den Tag über gehalten und sich auch über die Buden gelegt. Es sah einfach verlockend aus. Und als ich den süßen Duft von gebrannten Mandeln roch, beschloss ich, dem Markt einen Besuch abzustatten. Noch hatte ich meine Weihnachtseinkäufe nicht ganz abgeschlossen, ein Geschenk für meinen Schwager fehlte mir noch. Er sollte dieses Jahr nicht den üblichen Rotwein mit Schwarzwälder Schinken bekommen. Das war wenig originell. Vielleicht fand ich ja etwas auf dem Markt. Aber zuerst brauchte ich ein Glas Glühwein zum Aufwärmen. Der Marktplatz sah um diese Zeit noch übersichtlich aus. Umso mehr wunderte ich mich, dass sich bei einer der Buden die Leute förmlich drängten. Ich ging mit meinem dampfenden Becher darauf zu. Was mag es da wohl geben, dachte ich, vielleicht ein neuartiges Getränk oder ein ausgefallenes Kunsthandwerk? „ ... etwas Besonderes anzubieten“, hörte ich gerade eine weibliche Stimme, „es gibt keine Zufälle! Überzeugen Sie sich selbst!“ Ich trat näher heran und blickte zwischen zwei Wollmützen hindurch auf eine Frau in einem Weihnachtskostüm, die ein kleines Stück Gebäck in die Höhe hielt. Ich sah ein rundes Gesicht mit lustigen Augen unter der roten Weihnachtsmütze. An den Ohren baumelten silberne Ringe. „Denken Sie sich eine Frage aus, die Sie gerade umtreibt und lesen Sie nach dem Essen meiner Gebäcktaschen den Zettel, den ich für Sie eingebacken habe. Ich gehe davon aus, dass die Botschaft darin eine Antwort auf Ihre Frage ist.“ Hm, dachte ich, clevere Geschäftsidee. Die Frau muss nur genügend Sätze finden, die so schwammig sind, dass sie bedeutungsvoll klingen und zu allem passen. Wer den Zettel liest, denkt dann: Das ist eine Botschaft für mich. Jedenfalls, die Verkaufsmasche kam offensichtlich an. Eine junge Frau ließ sich nicht zweimal bitten, wollte eine Gebäcktasche kaufen und reichte der Verkäuferin eine Zwei-Euro-Münze. „Halt! Noch nicht zugreifen“, sagte die Bäckerin, „zuerst denken Sie an Ihre Frage. Ich reiche Ihnen den Korb und Sie suchen sich das Teil aus, dann beißen Sie in das Gebäck, lesen für sich den Zettel und sagen uns, ob er passt.“ Die Kundin nickte, sagte lachend: „Uber die Frage muss ich nicht groß nachdenken!“, griff in den Korb, biss in das Gebäck und zog einen Zettel heraus. Wir beobachteten sie alle und sahen, wie ihr Gesicht nachdenklich wurde, wie sie mit Tränen in den Augen stammelte: „Es passt genau!“ Dann drehte sie sich rasch um und eilte davon. Beeindruckend, dachte ich. Entweder war das Zufall, oder die beiden hatten sich abgesprochen. „Es gibt keine Zufälle!“, sagte die Weihnachtsfrau, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Wer will nochmal?“ Auch die nächsten Kunden waren von den Gebäckzetteln beeindruckt. Ich blieb noch eine Weile stehen und sah einen Bekannten, der ebenfalls eine Gebäcktasche erstand, abbiss, den Zettel las, spontan ausrief: „Stimmt genau!“, und rasch davonging. Ich eilte ihm nach und redete ihn an: „Hallo, Rudolf! “Er blieb überrascht stehen. „Ich hab das gerade mit dem Zettel mitbekommen“, fuhr ich fort. „Ich will gar nicht wissen, was draufstand. War das abgesprochen?“ „Abgesprochen? Nee!“ Er schüttelte energisch mit dem Kopf. „Es passte hundertprozentig“, sagte er und fügte hinzu: „Jetzt muss ich schnell etwas erledigen. Tschüs!“ Und weg war er. Nachdenklich ging ich wieder zu dem Stand zurück, nachdem ich meinen Glühweinbecher abgegeben hatte und überlegte mir gleich zwei Fragen. Es musste ja nichts Weltbewegendes sein. Richtig, ich brauchte ja ein originelles Geschenk für meinen Schwager. Dann wäre meine erste Frage: „Was soll ich meinem Schwager schenken?“ Und die zweite Frage? Ich überlegte. Es musste etwas richtig Schwieriges sein. Ich blickte mich um. An einer Ecke scharten sich ein paar junge Leute um einen runden Tisch, auf dem dampfende Becher standen, und redeten lebhaft auf einen bärtigen Mann ein. Eine Mutter versuchte, die Kinderkarre mit Kind über die Kieswege zu schieben und aus den Lautsprechern säuselten Weihnachtsklänge: „Vom Himmel hoch ..." in einer Swing-Version. Und dann hatte ich eine Idee. Meine zweite unausgesprochene Frage sollte lauten: „Wo befindet sich meine Großmutter?“ Sie war nämlich letztes Jahr gestorben und ich hätte gerne gewusst, wo sie war, außer auf dem Friedhof. Also ging ich wieder zu dem Stand zurück. Inzwischen fror ich an meinen Füßen, und meine kalten Hände hatte ich in den Taschen meines Mantels vergraben. Immer noch standen genügend Leute um die Weihnachtsfrau herum, die ihre Gebäcktaschen rasant loswurde. Sie sah mich schon von weitem und grinste. Als ich näher trat, sagte sie: „Jetzt kommt der Herr hier dran, der war schon mal da.“ Ich holte einen Fünf-Euro-Schein aus dem Portemonnaie und sagte: „Stimmt so, ich kaufe gleich zwei Stück.“ „Nur, wenn Sie auch zwei Fragen haben.“ „Hab ich!“ Der Korb war fast leer. Nur noch drei Taschen lagen darin. „Erst die Frage festlegen!“, sagte die Frau und, als ich nickte, reichte sie mir den Korb. Ich griff zu. „Abbeißen und nachschauen!“ Ich biss in die Tasche, kaute, fischte den Zettel heraus und las: „Eine Gartenschere und zwei Gartenhandschuhe.“ Ich war verblüfft. Mein Schwager war Hobbygärtner und seine Schere hatte sich neulich verbogen. „Und?“, fragte sie. „Gute Antwort“, murmelte ich. „Ist die zweite Frage klar?“, vergewisserte sich die Verkäuferin. „Ja.“ Ich nahm das vorletzte Gebäck, biss hinein, zog den Zettel heraus und las: „Im Himmel.“ „Unglaublich“, brachte ich heraus und suchte das Weite. Hätte ich die Taschen vertauscht, dann hätte sich mein Schwager einen Platz im Himmel gewünscht und meine Großmutter hätte auf einer Gartenschere mit zwei Handschuhen gewohnt. Als ich die Fußgängerzone verließ, musste ich aufpassen, dass ich keine Leute anrempelte, so benebelt war ich. Und das kam nicht von dem Becher Glühwein. Wie kann das sein, überlegte ich, als ich an der roten Ampel stand. Gab es einen Trick? Ich hatte die Weihnachtsfrau vorher noch nie gesehen. Den ganzen Abend war ich nicht bei der Sache und meine Frau fragte mich, ob es mir gut ginge. Ich war kurz davor, ihr alles zu erzählen, aber ließ es dann doch bleiben. Am nächsten Tag sah ich alles in einem anderen Licht. Natürlich gab es Zufälle. Ich wusste ja nur von meinen beiden Antworten. Sie stimmten zwar, aber bei meiner Oma hätte vieles gepasst, zum Beispiel: „Es geht ihr gut“ oder: „Das ist ein Geheimnis.“ Das Geschenk für meinen Schwager hätte auch etwas anderes sein können. Jedenfalls, ich beruhigte mich, freute mich aber doch, als mein Geschenk ein paar Tage später gut ankam. Selbst meine Frau wunderte sich, was für einen guten Einfall ich gehabt hatte. Es war schon nach Weihnachten, am Dreikönigstag, da sah ich die Weihnachtsfrau wieder. Ich wäre fast an ihr vorbeigegangen, weil sie ihr rotes Kostüm nicht mehr trug, aber das runde Gesicht mit den lustigen Augen und den silbernen Ringen erkannte ich trotzdem wieder. Spontan beschloss ich, sie anzusprechen. „Entschuldigen Sie!“, rief ich. Sie blieb stehen und drehte sich um. Dann erkannte sie mich und sagte: „Ach, der Herr mit den zwei Taschen.“ Ich nickte und sagte: „Jetzt können Sie es mir ja sagen. Der Weihnachtsmarkt ist vorbei. Wie haben Sie das gemacht?“ Sie schüttelte den Kopf und meinte: „Sie glauben doch nicht, dass ich mein Geschäftsgeheimnis hier auf der Straße preisgebe?“ „Das habe ich befürchtet, trotzdem hat mich Ihre Aktion nicht losgelassen. Ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein.“ Sie blickte mich an, schien nachzudenken und sagte dann: „Ja, warum nicht?“ Wir nahmen das Café am Markt und suchten uns einen Tisch etwas abseits. Nachdem der Kaffee mit dem Stollen gekommen war, blickte ich sie neugierig an und fragte: „Und?“ „Gut, ich sag’s Ihnen. Sie machen einen ehrlichen Eindruck. Aber Sie müssen mir wirklich versprechen, mich nicht auszulachen!“ „Großes Ehrenwort!“ Sie schloss kurz die Augen, atmete durch, blickte mich an und sagte: „Ich...