Knieps / Reiners | Gesundheitsreformen in Deutschland | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 388 Seiten

Knieps / Reiners Gesundheitsreformen in Deutschland

Geschichte - Intentionen - Konfliktlinien

E-Book, Deutsch, 388 Seiten

ISBN: 978-3-456-75433-8
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Seit über 25 Jahren gehört der Begriff 'Gesundheitsreform' zum deutschen Sprachgut. Dabei soll gar nicht die Gesundheit der Deutschen reformiert werden, sondern die Strukturen des Gesundheitswesens. Dieser riesige Wirtschaftszweig mit 300 Millarden Euro Umsatz und über fünf Millionen Beschäftigten wird aus guten Gründen nicht über den Markt, sondern über Politik und Recht gesteuert. Veränderungen in und an diesem System treffen auf gewachsene Strukturen, und wirtschaftliche Interessen und sind daher stets heftig umstritten. Dieses Buch schildert den ökonomischen und rechtlichen Rahmen von Gesundheitsreformen, die Entwicklung der GKV von einer Lohnersatzkasse zur Finanzierungsgrundlage der größten Dienstleistungsbranche unserer Volkswirtschaft sowie die Abläufe von Reformen der GKV seit 1988 mit folgenden thematischen Schwerpunkten: · Organisation und Finanzierung der GKV · Umfang der GKV-Leistungen · Vergütung von Ärzten und Krankenhäusern · Struktur der medizinischen Versorgungseinrichtungen · Arzneimittelversorgung · Pflegeversicherung. In einem Anhang werden alle relevanten Gesetze zur GKV seit 1949 aufgelistet. Die Verfasser, die beide fast 30 Jahre das deutsche Gesundheitswesens aktiv mitgestaltet haben, geben Einblicke in Erfahrungen aus dem 'Maschinenraum' der Gesundheitspolitik.
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Zielgruppe


Gesundheitswissenschaftler, Gesundheitspolitiker, Journalisten

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1. Ökonomische, rechtliche und politische Parameter der GKV
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist schon lange nicht mehr primär auf den Schutz sozial Benachteiligter ausgerichtet, sondern der Kern eines für die Infrastruktur unserer Volkswirtschaft unverzichtbaren und wachstumsintensiven Wirtschaftszweigs mit hohem Jobpotenzial. Allein zwischen 2007 und 2012 stieg dort nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Zahl der Beschäftigten um 11,7 Prozent auf über 5,1 Millionen. Deshalb sind die verbreiteten Warnungen vor einer «Ökonomisierung» des Gesundheitswesens eigentlich grotesk. Allerdings ist es keine Branche wie jede andere. Sie wird zu fast 80 Prozent öffentlich finanziert und politisch nach dem Bedarfsprinzip gesteuert. Die Bereitstellung einer umfassenden medizinischen Versorgung für die gesamte Bevölkerung gehört zum Standard einer modernen Zivilgesellschaft, was ohne eine überwiegend öffentliche Finanzierung nicht gewährleistet werden kann. Dafür gibt es sowohl soziale als auch ökonomische Gründe, auf die wir noch eingehen werden. Aber deswegen ist das Gesundheitswesen keine ökonomiefreie Zone. Krankenhäuser und Arztpraxen müssen sich rechnen und gegenüber ihren öffentlichen Finanziers belegen, dass sie mit den Ressourcen wirtschaftlich umgehen. Das fällt vor allem Medizinern schwer, deren fallbezogene Denk- und Handlungsweise leicht in Konflikt mit den auf allgemeinen Regeln beruhenden Kosten- und Preiskalkulationen gerät. Das ist in allen Gesundheitssystemen unabhängig vom jeweiligen ordnungspolitischen Rahmen zu beobachten.3 Ökonomen wiederum neigen zu einer Überbewertung der Wirkung finanzieller Anreize in einem Wirtschaftszweig, in dem ethische Normen und gewachsene Arbeitskulturen einen ebenso großen Einfluss auf die Ressourcenverteilung nehmen. Auch deshalb wird das Gesundheitswesen politisch reguliert und nicht dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen. Politische Regulierung von wirtschaftlichen Ressourcen bedeutet in einem Rechtsstaat, dass die Akteure sich in einem vom Parlament und der Regierung vorgegebenen gesetzlichen Rahmen bewegen. Das deutsche Gesundheitswesen zeichnet sich im internationalen Vergleich durch eine ausgeprägte Verrechtlichung aus. Dafür sind Eigenarten des GKV-Systems und des deutschen Politiksystems verantwortlich, die einen besonderen Regulierungsbedarf zur Folge haben. Auch für die meisten Juristen sind die an ein kompliziertes Regelwerk gebundenen korporatistischen Vertragsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern eine große Herausforderung. Wichtige Entscheidungen über die von der GKV gezahlten Vergütungen für Leistungserbringer sowie über die Struktur und Qualität der von den Krankenkassen gewährten Leistungen werden nicht, wie in den meisten europäischen Staaten, von Regierungsbehörden in Verwaltungsakten gefällt, sondern von den Organen der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Die Bundes- und Landesregierungen haben im GKV-System nur die Rechts-, aber nicht die Fachaufsicht. Sie greifen nicht in das operative Geschäft der GKV und der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) ein, sondern prüfen mit ihren Aufsichtsbehörden nur, ob die Entscheidungen der Selbstverwaltung sich im Rahmen des vorgegeben Rechts bewegen. Dieses Alleinstellungsmerkmal des deutschen Gesundheitswesens wird ergänzt durch eine eigenständige Sozialgerichtsbarkeit, die es so in anderen Ländern ebenfalls nicht gibt. Der Föderalismus mit seinen unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bundes- und Landesbehörden trägt zusätzlich dazu bei, dass mehr Vorgänge im deutschen GKV-System über Gesetze und politische Vereinbarungen geregelt werden. Eine weitere Besonderheit sind untergesetzliche Rechtsquellen, wie Richtlinien oder Satzungen, die andere Rechtssysteme nicht kennen. Diese und andere Eigenarten des deutschen Rechts- und Politiksystems bewirken spezifische Abläufe und Rahmenbedingungen der Konzipierung und Durchsetzung von GKV-Reformen, denen wir uns in diesem Kapitel in drei Abschnitten widmen. Zunächst geht es um die sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Gesundheitspolitik in Deutschland. Dabei stehen zwei Fragen im Mittelpunkt: Weshalb wird das Gesundheitswesen nicht marktwirtschaftliche gesteuert, und welche Besonderheiten hat das deutsche GKV-System im internationalen Vergleich? In einem zweiten Abschnitt widmen wir uns dem Spannungsfeld von Politik, Recht und Ökonomie und den besonderen juristischen Aspekten der Gesundheitspolitik. Im dritten Abschnitt geht es um die praktischen Abläufe und politischen Parameter von GKV-Reformen. 1.1 Zur politischen Ökonomie des deutschen Gesundheitswesens
Die Gesundheitsökonomie ist an deutschen Universitäten und Hochschulen eine vergleichsweise junge Fachrichtung der Wirtschaftswissenschaften, für die erst in den vergangenen zwanzig Jahren nach und nach Lehrstühle und Studiengänge eingerichtet wurden. Die bedeutendste deutsche Organisation akademischer Ökonomen nennt sich zwar seit über 140 Jahren Verein für Socialpolitik, hat aber erst seit 1986 eine Sektion Gesundheitsökonomie. Die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (DGGÖ) wurde sogar erst 2008 gegründet. Mit den strukturellen Besonderheiten des Gesundheitswesens tun sich viele Ökonomen schwer. Die ihnen vertrauten Indifferenzkurven-Modelle, in denen unterschiedliche Präferenzen der Markteilnehmer sich zu einem Marktgleichgewicht fügen, funktionieren zur Erklärung wirtschaftlicher Prozesse im Gesundheitswesen nicht, wenn sie denn überhaupt realitätstauglich sind4. Der US-Ökonom Thomas Rice (2004) hat diesen Sachverhalt erschöpfend belegt, indem er das in den Lehrbüchern dominierende Denkschema des Homo oeconomicus, der stets und überall seinen Nutzen maximiert, mit den Aufgaben und Zielstellungen des Gesundheitswesens konfrontierte. Das Ergebnis dieses Abgleichs ist eindeutig: Marktmodelle führen im Gesundheitswesen zu keiner rationalen Verteilung der Ressourcen, sondern zu Fehlallokationen und gravierenden Verletzungen des Grundsatzes der Chancengleichheit (siehe hierzu auch Griesewell 1994, Reiners 2006, Reinhardt 1989 und 2001). Diese späte Entdeckung des Gesundheitswesens durch die Wirtschaftswissenschaften fiel zeitlich zusammen mit einem Paradigmenwechsel in der Politik. Dort wurde die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als der Dreh- und Angelpunkt des deutschen Gesundheitswesens stets der Sozialpolitik zugeordnet, die Ökonomen als Verteilungspolitik interpretierten (Liefmann-Keil 1961), was sie in der Renten- und Arbeitslosenversicherung auch immer noch ist. Dieses Paradigma fand seine Entsprechung in der Politik, indem die GKV bis 1991 nicht dem Gesundheitsministerium, sondern dem Arbeits- und Sozialministerium zugeordnet wurde, ganz so, als ginge es wie zu Bismarcks Zeiten immer noch um die Schutzbedürftigkeit Lohnabhängiger und die Sicherung ihres Lebensunterhalts im Krankheitsfall. Diese verteilungspolitische Orientierung hatte so lange eine gewisse Berechtigung, als die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch den Löwenanteil der GKV-Ausgaben beanspruchte (siehe Abschnitt 2.1). In dem Maße, wie die Behandlung von Krankheiten sich zum Schwerpunkt des GKV-Systems entwickelte, war diese Sichtweise nicht mehr realistisch, weil es kaum noch um Transferleistungen ging, sondern um die politische bzw. administrative Strukturierung einer Dienstleistungsbranche mit öffentlicher Finanzierung. 1.1.1 Weshalb wird das Gesundheitswesen nicht marktwirtschaftlich gesteuert?
Die Absicherung von Krankheitsrisiken für alle Bürger gehört zu den Standards moderner Gesellschaften. Kein ernst zu nehmender Politiker oder Wissenschaftler wird das bestreiten. Selbst der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich A. von Hayek, eine Ikone des Neoliberalismus und entschiedener Gegner des Wohlfahrtsstaates, hielt eine allgemeine Krankenversicherungspflicht für erforderlich, weil sonst viele Menschen «der Allgemeinheit zur Last fielen» (Hayek 1983: 377). Ihm schwebte dabei keine soziale, sondern eine private Pflichtversicherung vor.5 Allerdings könnte sich die Mehrheit der Bürger eine nach gesundheitlichen Risiken kalkulierte private Krankenversicherung gar nicht leisten. Deshalb ist eine weitgehend öffentliche Absicherung von Krankheitsrisiken ohne tragfähige Alternative. Außerdem herrscht im Gesundheitswesen ein Marktversagen, das ohne politische Eingriffe zu ökonomischen Verwerfungen und überhöhten Ausgaben führt. Für die öffentliche Finanzierung bzw. Steuerung des Gesundheitswesens sprechen demnach drei Sachverhalte: die ungleichen Gesundheitschancen in der Bevölkerung, die Disparitäten in der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie die wirtschaftliche Dominanz der Anbieter von medizinischen Leistungen. Die Chancen, gesund zu bleiben und Krankheiten zu bewältigen, sind von zwei Faktoren abhängig, die vom Individuum gar nicht oder nur in geringem Maß zu beeinflussen sind: den genetischen Anlagen und den sozialen Chancen. Nicht alle Raucher haben eine verkürzte Lebenserwartung, wie die Beispiele Helmut Schmidt und Winston Churchill zeigen. Das liegt nicht nur an den Genen. Bevölkerungsgruppen mit gehobenem Bildungs- bzw. Einkommensniveau haben nachweislich in allen Lebensphasen einen deutlich besseren Gesundheitszustand und eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung als Schichten mit niedrigerem Sozialstatus (Klemperer 2014: 230ff., Mielck 2000, Wilkinson 2001). In einem privaten Krankenversicherungssystem mit risikobezogener Beitragskalkulation müssten untere Einkommensschichten wegen ihrer höheren gesundheitlichen Risiken besonders hohe Versicherungsprämien zahlen, die sie schon in einer...


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