Köhler | Zur Quell | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 420 Seiten

Köhler Zur Quell

Aufzeichnungen eines Fahnenflüchtigen

E-Book, Deutsch, 420 Seiten

ISBN: 978-3-7562-6322-6
Verlag: Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mauritz ist Assistent an der Universität und will dem trägen Dasein im Institut seines Professors und dessen Sekretärin entfliehen. Seine Seele und sein ganzes Leben will er neu gestalten. Aus dem harmlosen angepassten Akademiker wird ein ebenso angepasster, aber keineswegs mehr harmloser Verschwörer. Schritt um Schritt entwickelt sich der unglückliche, an seiner Bedeutungs- und Zukunftslosigkeit leidende Mauritz zum Mitglied einer sendungsversessenen Natur- und Seelensekte, die ihre Weltbekehrung schliesslich mit Waffengewalt durchsetzen will. Ein Bund harmloser Schwärmer wandelt sich zur auserwählten Gruppe, die zu einem Bombenanschlag und letztlich zum Märtyrertum bereit ist.

Sonntags Zeitung: «Köhler jedoch gelingt, was bisher selten zum Ausdruck kam: den Wandel aufzuzeigen, der etwas beängstigend Normales hat. So normal, dass man glaubt, in einen Spiegel zu blicken.»

Schweizerische Ärztezeitung: «Der Psychiater Andreas Köhler geht in seinem Roman Zur Quell den Mechanismen auf den Grund, die harmlose Schwärmer in gefährliche Weltverbesserer verwandeln. Spannend sind innere und äussere Entwicklungen miteinander verknüpft, Machtkämpfe und Realitätsverlust, Psychorituale und paramilitärische Übungen, Erlösungsmythen und heiliger Krieg.»

Der Bund: «Insbesondere diese schleichende Radikalisierung der Therapiegemeinschaft hat Köhler kenntnisreich und differenziert herausgearbeitet.»
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I
NACHDEM SICH das Röhren und die letzten Dieseldünste des weit hinten am Waldrand noch sichtbaren Postautos verflüchtigt hatten, konnte ich endlich frische Luft atmen. Auf der Fahrt, erst im engen Abteil der Lokalbahn, dann im schwerfälligen Bergpostauto, hatte ich dauernd gegen Schwindel und Übelkeit gekämpft. Die muffigen, von den Strahlen der Mittagssonne aufgeheizten Sitze hatten nach Kunststoff gestunken; nicht genug, während der unzähligen Kehren der steilen Strasse waren aus der Lüftung des Wagenraums Abgase und Gummigeruch gedrungen und hatten mir Magen, Därme und alle Sinne und alles Denken durcheinandergebracht. Der schmale Kiesstreifen neben der asphaltierten Strasse, der nur durch ein verwittertes Schild als Haltestelle gekennzeichnet war, befand sich weitab jeglicher Siedlung. Auf steilem, welligem Wiesengelände, das sich zu bewaldeten Anhöhen hochzog, hielten sich einzelne schief gewachsene Apfel- und Birnbäume. Ausser zwei, drei verstreuten, entfernt am gegenüberliegenden Abhang gelegenen kleinen Bauerngehöften waren keine Häuser zu sehen. Ich riss die unförmige Reisetasche hoch, die der Chauffeur aus dem tiefen Gepäckboden des Postautos hervorgezerrt und mir vor die Füsse geworfen hatte, und schwang sie über die Schulter, doch erkannte ich im selben Augenblick, wie unsinnig das war, da ich nicht im Mindesten wusste, in welche Richtung ich hätte gehen sollen. Zudem hatte das wiederholte tiefe Durchatmen meine Übelkeit keineswegs zum Verschwinden gebracht; im Gegenteil, in den Beinen machte sich zunehmend eine Schwäche bemerkbar, die mich fürchten liess, über kurz oder lang ohnmächtig niederzusinken. «Sand!», las ich auf dem Kasten, der am Strassenrand stand, und darunter: «Nur bei Glatteis zu verwenden!» Verloren buchstabierte ich noch und noch die verwaschene Schrift, wie wenn sich aus ihr eine geheime Botschaft hätte lesen lassen, die mir meinen weiteren Weg gezeigt oder mich wenigstens von meiner Übelkeit befreit hätte. Schliesslich stellte ich die Tasche auf den verbogenen Metalldeckel des Kastens und stützte mich mit beiden Armen ab; was blieb mir anderes übrig, als hier zu warten und zu hoffen, es würde mich irgendwann jemand abholen. Trotzdem schreckte ich auf, als plötzlich in einem Buschbestand unweit von mir trockene Äste knackten und kurz danach ein kräftiges «Hallo!» zu hören war. Aus dem Gestrüpp jenseits der Strasse trat ein braungebrannter Mann von etwas über dreissig Jahren. Sein Haar war kurz geschnitten, ebenso Schnauz und Bart. Der stämmige Körper steckte in einem dunkelgrünen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und in oliv und braun gesprenkelten Hosen, deren Enden mit einer Art Gamaschen zusammengeschnürt waren. An den Füssen trug er hohe schwarze Lederschuhe mit dickem Profil. Mit weiten Schritten überquerte er die Strasse und stellte sich vor mich hin. «Mauritz?» Ich nickte. «Ich bin Gerhardt. Haus zur Quell.» Dabei drückte er mir kräftig die Hand. «Weiter geht's zu Fuss.» Er zeigte mit seinem Holzstock, der deutlich länger als ein Spazierstock war und oben in einen eigenartig geformten Metallgriff mit breiter Lederschlaufe auslief, unbestimmt in die Richtung, aus der er gekommen war. Seine Stimme hatte einen klaren und trockenen, beinahe metallischen Klang; den Akzent konnte ich nicht einordnen, zumal er, während er wartete, bis ich meine Tasche umgehängt hatte, kein weiteres Wort verlor. Er wandte sich mit einem Schwung um und marschierte los. Ich schritt hinter ihm her und zwängte mich durch das Gebüsch, aus dem er aufgetaucht war. Auf einem schmalen Weg, der stellenweise kaum sichtbar war, ging es über eine ansteigende Wiese, dann einem Waldrand entlang, bis wir bei einer Abzweigung in den Wald drangen. Den trainierten, lockeren Schritt des Mannes konnte ich knapp halten, doch begann ich kräftig zu schwitzen, und die Tasche drückte mir auf Schulter und Arm. Der Pfad zog sich mehr oder weniger steil bergauf und in unregelmässigen Windungen hin und her, in Bachbette hinein, über Wurzeln und Baumstrünke hinan, sodass ich in dieser mir völlig unbekannten Gegend die Orientierung, welche noch nie meine Stärke gewesen war, bald verlor. Ich folgte schweigend meinem Führer. Abermals überquerten wir eine dünn bewachsene, von nackten Stufen durchfurchte Wiese, auf welcher einige Kühe grasten. Die hohe Sommersonne brannte auf meinen Nacken; ich keuchte mehr und mehr und wechselte in immer kürzeren Abständen die Tasche von einer Schulter zur anderen. Meine Übelkeit war zwar verschwunden, hatte aber einem, wie ich überzeugt war, hörbaren Herzklopfen Platz gemacht. Das Blut schoss mir stossweise in den Kopf; meine Beine waren steif und schwer wie Blei, und die Füsse in den flachen und profillosen, neben Gerhardts wuchtigen Armee- oder Treckerstiefeln lächerlich aussehenden Strassenschuhen schwollen immer mehr an und schmerzten. Oberhalb der Wiese bog der Weg wieder in einen Wald und folgte über längere Zeit einem Bachlauf. Hier war es etwas kühler. Unvermittelt blieb Gerhardt, der auf dem ganzen Weg kein Wort gesprochen hatte, stehen. «Pause!», stellte er fest. «Anstrengend?» Ich nickte und liess die Tasche von der verkrampften Schulter gleiten. Er schwieg wieder und begann mit seinem Stock zu spielen, spiesste ab und zu einige am Boden liegende, trockene Blätter mit der Stahlspitze auf oder hob geschickt kleine Ästchen an, um sie dann mit einem plötzlichen Ruck aus dem Handgelenk den Weg hinunterzuschleudern. Als zwischen den Baumwipfeln kurz ein Flugzeug sichtbar wurde, brachte er den Stock mit rascher Bewegung in Anschlag und zielte wie mit einem Gewehr in den Himmel. «Piff-paff, piff-paff, rätä-rätätätätätätääää!», imitierte er ein altes Schiesseisen oder irgendwelche Marschmusik, worauf er schelmisch lachte. Bald jedoch bedachte er mich mit einem halb fragenden, halb aufmunternden Blick und marschierte entschlossen weiter. Ich verwünschte mich dafür, so viel in die Tasche gepackt zu haben, neben Kleidern, Schuhen, Toilettenzeug und anderem Kleinkram auch noch etliche Bücher, die nun besonders schwer drückten. Natürlich hatte ich beim Packen nicht mit einem solchen Marsch gerechnet. Genauer gesagt: Ich hatte mit nichts gerechnet und an nichts Bestimmtes gedacht. Ich hatte mich für dieses Haus – das Haus zur Quell im Appenzellischen – entschieden, weil es sich genügend weit weg von all den Widerwärtigkeiten meines Alltags befand, aber nicht in unüberblick- und unberechenbarer Ferne, wo ich mangelhafte Qualifikationen der Leitung hätte riskieren müssen. Unser Marsch kam mir endlos vor. Ich war ausschliesslich damit beschäftigt, auf die vielen gewundenen, den Weg in alle Richtungen kreuzenden Wurzeln zu achten, immer wieder an den Henkeln meiner Tasche zu reissen und auf keinen Fall Anzeichen von Schwäche zu zeigen oder gar schlappzumachen. «Unser Haus», erklärte Gerhardt unversehens, nachdem wir um einige mannshohe Felsbrocken gebogen und anschliessend über ein kleines, verwittertes Zauntreppchen geklettert waren. Wie ich aufschaute, trennte uns nur noch ein kurzes Wegstück über eine abfallende Wiese von einem frei stehenden, ansehnlichen Gebäudekomplex. Wir befanden uns in einem Hochtal. Beide Flanken waren steil und bewaldet; da und dort zeigten sich felsige Partien. Hinten führte das Tal in eine dicht von Bäumen gesäumte Schlucht. Das Haus thronte über leicht geneigtem Wiesengelände, welches sich bis zu einem aus der Schlucht hervorquellenden Bach hinunterzog. Es bestand aus einem mehrere Stockwerke hohen Gebäude, welches mit seinen gebeizten Holzschindeln und dem nach allen vier Seiten geneigten Blechdach im hell beschienenen Gras schwer und dunkel wirkte, und einem beinahe gleich hohen, zweistöckigen Anbau aus hellgelbem Backstein mit hohen Fenstern, die mit roten Steinbogen überwölbt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite eines gekiesten Platzes befand sich ein ausladender, im unteren Teil offener Holzbau, der als Remise für verschiedene landwirtschaftliche Maschinen diente. Mitten auf der Fassade des Hauptgebäudes stand auf einem schwarzen Metalltäfelchen in fein geschwungenen Goldlettern: «Zor Quöll». Für weitere Eindrücke blieb jedoch keine Zeit, denn Gerhardt war bereits die Sandsteintreppe zum Haupthaus hochgestiegen und hatte die schwere Eichentür geöffnet, in deren Rahmen er stehen blieb, sich umdrehte und mich herbeiwinkte. Wir betraten eine Diele, die mir nach dem gleissenden Mittagssonnenlicht düster vorkam. Erst mit der Zeit bemerkte ich die schwarz gekleidete Frau, die auf der Treppe ins obere Stockwerk stand und auf mich herabschaute; nur das Weiss ihrer Augen war deutlich erkennbar. Sie hob ihre Hand zum Gruss und stieg anschliessend ohne Geräusch nach oben. Gerhardt hiess mich einen Moment warten und verschwand hinter einer Tür. Endlich konnte ich meine Tasche auf den Boden stellen. Nirgends war ein Stuhl zu sehen, und da ich vollkommen erschöpft war und noch...


Köhler, Andreas
Andreas Köhler ist Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller und arbeitet als Facharzt FMH in eigener Praxis in St. Gallen. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Er hielt öffentliche Vorlesungen an der Universität St. Gallen und war Präsident der St. Galler Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Er verbrachte seine Jugend in den Tälern der Limmat, der Jona und der Eulach, studierte Medizin an der Universität Zürich und der Freien Universität Berlin. Er schloss sein Studium mit einer Dissertation zum Thema «Religiöser Wahn und Religiosität» ab und bildete sich an der St. Galler Schule für Gestaltung weiter. Sein seelenkundliches und literarisches Interesse gilt der geistigen Fähigkeit des Menschen, seine soziale Welt mittels Geschichten zu durchdringen und zu gestalten.

Weitere Publikationen: «Schuss ins Licht» Neuauflage, «Mein Höllenleben im Wohlfahrtshimmel», «Nayers Weg zum Sacromonte», «Bavos Verbrechen»


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