Kosijer-Kappenberg / Bräutigam / Zimmermann | Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 120 Seiten, E-Buch Text

Kosijer-Kappenberg / Bräutigam / Zimmermann Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht

Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld

E-Book, Deutsch, 120 Seiten, E-Buch Text

ISBN: 978-3-647-90128-2
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Wie werden ganz normale Menschen in äußerst prekären sozialen, gewaltförmigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Kontexten selbst zum Täter oder zur Täterin? Wie werden Gewaltdenken und -handeln initiiert? Welche psychologischen Mechanismen und sozialen Konstrukte halten das Schuldgefühl im Zaum, damit der Mensch im Krieg imstande ist zu töten? Wie gehen geflüchtete Täter/-innen und andere Kriegsbeteiligte nach dem Wegfall ihrer Rationalisierungen mit ihren abgründigen Erfahrungen und psychischen Folgen um? Diesen Fragen widmet sich Sladjana Kosijer-Kappenberg in diesem Band. Sie zeigt, von welchen Faktoren die Wahrnehmung und Beurteilung des Täters/der Täterin von sich selbst sowie von Außenstehenden abhängen. Die Autorin gibt einen Überblick über die Erkenntnisse aus der Gewaltforschung und verdeutlicht diese mit Beispielen und Beobachtungen aus der Praxis.
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1Gewalt und Täterforschung 1.1 Die Illusion des »puren Bösen« Es war das Triptychon »Der Garten der Lüste« des holländischen Renaissance-Malers Hieronymus Bosch (Abbildung 1), vor dem ich tief berührt stand, überwältigt vom sehnsüchtigen Wunsch des Malers, das Gute und das Böse in der Welt klar getrennt voneinander darzustellen und erfahrbar zu machen. Es war wie ein Schrei, der sich aus dem Bild emporhob und betete: Liebe Welt, sei bitte so! Und sei so, dass ich innerlich ein Abbild von dir werde, alles klar sehe und mich von dem Bösen abgrenzen kann. Auf dem Bild sehen wir drei scharf getrennte Teile. Das linke zeigt uns die paradiesischen Zustände, das Vereintsein mit Natur, Tieren und allen anderen menschlichen Wesen. Die Nacktheit und mit ihr der Wunsch, nichts verbergen zu wollen oder gar zu müssen, lässt uns die Gleichberechtigung aller Lebewesen ahnen und ihre Unschuld noch immer genießen. Im mittleren, größten Teil des Gemäldes sehen wir ein lebendiges Karussell der Lüste, ein utopisches Liebesparadies. Es ist ein freudiges Beisammensein der Menschen, die nackt und frei ihr Verlangen ausleben und sich gegenseitig (vor)urteilsfrei und gleichgestellt annehmen. Der dritte Teil des Triptychons offenbart etwas ganz anderes. Plötzlich herrscht das Böse, Menschen und Kreaturen verstecken sich hinter Kleidern, Masken und hypnagogen Bildern sowie hinter ihren vernichtenden Absichten. Wir sehen, wie sich Menschen gegenseitig Schmerz zufügen, Andere abschlachten. Dörfer brennen. Menschen und die durch das Böse entmenschlichten Kreaturen foltern und verletzen – wie es scheint – geradezu mit Genuss. Überall spürt man die zynische Verachtung und die Entwertung des Anderen. Einige entblößte Menschen tragen die Gewalt buchstäblich in den eigenen Händen und auf ihrem Rücken. Und wie die Gewalt die Menschen ungleich gemacht hat, so hat auch der Wunsch, die Anderen ungleich zu sehen, das Böse geboren. Wenn wir uns aber von der christlich-kausalen Interpretation dieses Gemäldes zugunsten einer psychologischen befreien, erkennen wir den Versuch, die menschlichen Erfahrungen voneinander abgespalten zu sehen und diese Abspaltung darzustellen. Es gibt nichts in den ersten beiden Teilen des Gemäldes, was den dritten, gewaltvollen Teil erklären würde, und vice versa ist im Bösen kaum etwas Gutes zu erkennen. Eine klare Separierung zwischen den Welten ist gewünscht. Diese scheinbare Ordnung, weil Trennung von Gut und Böse, soll uns in der – illusorischen – Sicherheit wiegen, das Böse sei irgendwo anders zu finden. Die Leugnung unserer Fähigkeit, etwas Böses zu tun, könnte sogar eine der Grundlagen unseres Daseins sein, meinte der amerikanische Psychologe Steven Pinker (2013, S. 721). So müssen wir uns mit unserer eigenen Zerstörungswut nicht täglich auseinandersetzen und können uns dem Guten einfach hingeben. Wo aber sind diese Menschen aus dem rechten Teil des Gemäldes zu finden? Was passiert mit ihnen? Mehrere Hunderttausend Menschen haben sich aus unterschiedlichen Motiven bereit erklärt, mehrere Millionen Menschen zu töten. Jede Gesellschaft kennt in ihrer eigenen Geschichte Kriege und Genozide, in denen das Töten eine wichtige Funktion zu erfüllen hatte. Evolutionsgemäß ist die Gewalt allgegenwärtig, und wir sollten uns – so der Psychologe Richard Tremblay (2000) – nicht die Frage stellen, wie Kinder lernen, aggressiv zu sein, sondern vielmehr, wie sie lernen, nicht aggressiv zu sein (vgl. Pinker, 2013, S. 714). Denn das schaffen sie gut. Aber wie lernen dann diese Hunderttausende, die bis dahin ein friedliches und mitfühlendes Leben mit ihren Mitmenschen führten, mit einem Mal einem anderen Menschen das Leben zu nehmen? Wie lernen sie, den angeborenen starken emotionalen und körperlichen Widerwillen beim Töten der eigenen Spezies zu überlisten, ihre bisherigen moralischen Normen außer Kraft zu setzen oder diese so umzudeuten, dass sie es sogar als angemessen empfinden? Dieses Geheimnis der passenden Umdeutung wird tabuisiert in jeder Gesellschaft, die das Töten für ihre eigenen Ziele nutzt, aber vor allem wird dort das (Weiter-)Leben derjenigen tabuisiert, denen man die Unschuld des Nicht-Tötens genommen hat. Falls diese Menschen von der Gesellschaft nicht nach einem Krieg, je nach dessen Ausgang, als Heroen stilisiert und inszeniert werden, bleiben ihre Geschichten und vor allem ihr Innenleben höchst tabuisiert, verpönt und aus der Öffentlichkeit schamerfüllt verbannt. Das große Schweigen über Täterschaft hat vor allem einen Zweck zu erfüllen: die Frage nach der Richtigkeit des Krieges und allem, was währenddessen passierte, zu vermeiden. Der Schmerz, die Scham und die Schuld der Täterschaft, die Verwüstungen in der Seele, die sie sich selbst und Anderen zugefügt haben, lässt diese Menschen sprachlos werden. Erst wenn keinerlei Rationalisierung des Tötens mehr aufrechtzuerhalten ist, wird das Verborgene sichtbar. Und dann weckt das große Böse die große Furcht, vor allem davor, es überall – auch in uns selbst – zu finden und ihr eines Tages als Täterinnen bzw. Täter oder auch als Opfer ausgeliefert zu sein. 1.2 Täterforschung Das Interesse an den bösen Seiten menschlichen Daseins und daran, wie vor allem aus ganz normalen Menschen unter spezifischen gesellschaftlichen Umständen leicht Täter werden können, rückte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung. Der wachsende Widerwille gegen Gewalt fand seinen Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948. Damit begann eine wichtige Ära, in der sich zunehmend der Wunsch verankerte, Gewalt im politischen Kontext nicht mehr zu tolerieren. Zunächst aus vorsichtiger Distanz beobachtend, versuchten verschiedene Wissenschaften Antworten darauf zu finden, ob es das »pure Böse« gibt und wie es überhaupt zu erkennen wäre. Zutiefst erschüttert vom Ausmaß der Gräueltaten und der kaltblütig geplanten und durchgeführten Genozide entstanden allmählich – besonders auf amerikanischem Boden – Forschungsversuche, die auf ein besseres Verstehen dieser Phänomene abzielten. Im Fokus des steigenden Interesses, das in den folgenden Jahrzehnten nur phasenweise die breitere Öffentlichkeit erreichte, lag, wie heute auch, nicht der Wunsch zu vergeben, zu rechtfertigen oder die Taten und die Täter zu erdulden, sondern vor allem der Wunsch, die individuellen wie auch die kulturellen und gesellschaftlichen Konstruktionen zu erkennen, die zum Ausbruch der extremen Gewalt führen können. Die Forschungen erstreckten sich von einsichtigen und wachrüttelnden Erkenntnissen und guten Erklärungen bis zu Beiträgen, die beim Versuch, die tückische Gratwanderung zwischen Verstehen und Verpönen zu bewältigen, eher von dem Bedürfnis nach einer ultimativen Antwort geleitet waren. Die Suche nach der Enträtselung der Gewalt mit dem Ziel präventiver Wirkung schreitet aber weiterhin nur langsam voran, stets konfrontiert mit einem jahrhundertealten Tabu, das ein freimütiges, offenes Besprechen verhindert – in kleinen, privaten Kreisen wie auch der größeren Öffentlichkeit. In Deutschland, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befreit vom eigenen Zwang, die Gewaltmaschinerie zu »perfektionieren«, breitete sich für Jahrzehnte ein Schweigen über die Täter aus. Die erschöpfte Starre nach dem Aufwachen aus der beinahe »›hypnotische[n]‹ Bewegung« (Marks, 2003), der Verlust der bisherigen (un)moralischen Orientierung und die daraus entstandene verborgene Selbstunsicherheit in Bezug auf das Verständnis von Gut und Böse, aber auch der endgültige Zusammenbruch der Projektion des Bösen auf Kommunisten, Juden und Andere führten zu dem Wunsch, sich zu befreien und sich wieder, mit einem klaren Schnitt, den stärker lebensbejahenden Aspekten des Lebens zu widmen. Zu lange im Kerker des Kollektiven und Gehorsamen gefesselt, wagte das Individuelle langsam, auch generationenübergreifend, sich zu befreien. Da die Verantwortung einzelne Täter, abgesehen von den bekannten Massenmörderprozessen, überwiegend privatisiert und tabuisiert wurde, reduzierte sich unglücklicherweise die Möglichkeit, in Langzeitstudien mehr über die Täter herauszufinden. Täterschaft wurde auf einzelne Personen projiziert und damit erneut nicht als Teil des eigenen allgemeinen Potenzials erkannt, das wir alle in uns tragen, kollektiv wie individuell. Trotz stabiler Einsichten in die kollektive Schuld blieben die Forschungen in Deutschland für die folgenden Jahre in derartigen Berührungsängsten gefangen (Moser, 1996/2001). Die Suche nach Antworten fokussierte sich zunächst auf die Kriegstäterinnen und -täter, deren Täterschaft nicht infrage gestellt werden konnte: auf die Massenmörderinnen und -mörder im Zweiten Weltkrieg und ihre individuelle Verantwortung. Um die psychische Verfassung der Menschen zu begreifen, die für millionenfache Morde verantwortlich waren, führte der Gerichtspsychologe Douglas Kelley im Jahr 1946 eine Reihe von Interviews, Beobachtungen und psychologischen Tests bei den Gefangenen im Nürnberger Prozess durch, um das pathologisch Verborgene in jedem von ihnen herauszufinden. Die ersten Versuche, das Unerklärliche zu erfassen, scheiterten sehr schnell. Kelley (1947) fasste den Mut, das Überraschende zu offenbaren und betonte, dass »solche Personen weder krank noch einzigartig sind, sondern auch, dass wir sie heute in jedem anderen Land der Erde antreffen würden« (zit. nach Welzer, 2005/2016, S. 9). Die erneute Interpretation der damals vorgegebenen Rorschach-Tests dreißig Jahre später sowie eine Reanalyse im Jahr 1978 ergaben, dass die wichtigste Auffälligkeit bei den Angeklagten...


Bräutigam, Barbara
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin für Familientherapie (DGSF), Supervisorin (DGSv), Integrative Kinder- und Jugendlichentherapeutin, ist Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg.

Brandmaier, Maximiliane
Dr. phil. Maximiliane Brandmaier, Diplom-Psychologin, promovierte Sozialpsychologin, befindet sich in der Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie).

Gahleitner, Silke Birgitta
Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner hat die Professur für Klinische Psychologie und Sozialarbeit im Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention an der Alice Salomon Hochschule Berlin inne. Sie war langjährig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrichtungen für traumatisierte Frauen und Kinder sowie in eigener Praxis tätig.

Zimmermann, Dorothea
Dorothea Zimmermann, Diplom-Psychologin, Psychologische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Supervisorin und Traumatherapeutin, ist Geschäftsführerin bei Wildwasser e. V. in Berlin. Sie ist Mitinitiatorin und langjähriger Vorstand von BIG (Berliner Initiative gegen Gewalt gegen Frauen). Sie engagiert sich in der Fortbildungsarbeit zu sexueller und häuslicher Gewalt, Kinderschutz, interkultureller (Eltern-)Arbeit, selbstschädigendem Verhalten, Trauma, Flucht und Gewalt.

Kosijer-Kappenberg, Sladjana
Sladjana Kosijer-Kappenberg, Diplom-Psychologin, arbeitet als niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Supervisorin in Berlin und Leipzig.

Sladjana Kosijer-Kappenberg, Diplom-Psychologin, arbeitet als niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin, Traumatherapeutin und Supervisorin in Berlin und Leipzig.


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