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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Krauß In eins gespalten

Sind wir wirklich ein Volk?

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-360-50180-6
Verlag: Das Neue Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Feierlichkeiten zum Jahrestag der deutschen Einheit ließen, trotz einiger Zwischentöne, keinen Zweifel: "Wir Deutschen sind ein Volk!" Doch dreißig Jahre, nachdem über Nacht aus der sozialen Losung "Wir sind das Volk" die nationale "Wir sind ein Volk" geworden war, scheinen wir kaum einen Schritt weiter. Die Spaltung ist tiefer, als die flapsige Rede vom Ossi und Wessi unterstellt. Sie zeigt sich kulturell, indem der Ostdeutsche, seine Lebenswelt und seine Erzählungen im medialen Betrieb kaum vorkommen. Zeigt sich politisch in seiner strukturellen Diskriminierung. Und sozial im nach wie vor bestehenden Rückstand bei Einkommen und in den Arbeitslosenzahlen. Der Kapitalismus kehrte nach Ostdeutschland nicht durch eine Umwälzung zurück, er expandierte ähnlich einer Kolonialmacht ins Gebiet der DDR. Matthias Krauß stellt die notwendigen Fragen. Sind Ost- und Westdeutsche wirklich ein Volk? Werden wir so regiert, dass ein Einheitsgefühl entstehen kann? Kann man von Gleichheit vor dem Gesetz sprechen? Lassen sich kulturelle Entwicklungen zu einer inneren Einheit erkennen? Diese Fragen haben Anspruch auf eine sachliche Betrachtung. Der Autor weist nach, dass von der Einheit der Deutschen nicht zu reden geht, solange die Gesellschaft insgesamt auf Ungleichheit beruht. In siebzehn Kapiteln durchkämmt er das gesamtdeutsche Chaos. Von der Landwirtschaft bis zum Kultursektor, vom Spalter Wolf Biermann bis zum klugen Beobachter Andreas Dresen, von der politischen Psychologie des Westdeutschen, dem Russenhass bis hin zur gleichfalls gescheiterten Einheit Europas.
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Drachenbrut und Drachenblut
Einheitsfeier wird eine Spalter-Show »Falls im Grauen des Morgengrauens, wenn die Diktatur gestürzt ist und das neue demokratische Recht noch nicht gilt, der Pöbel schreit: Hängt das Pack auf! – dann gehöre ich zum Pöbel.« Wolf Biermann im SPIEGEL Parteien dürfen oder sollen polarisieren, sie dürfen oder sollen Interessen einer Gruppe gegen die der anderen vertreten. Das müsste der demokratische Normalfall sein und war es in der BRD auch lange Zeit. Inzwischen hat der Wähler in Deutschland eher das Problem, dass sich die etablierten Parteien kaum voneinander unterscheiden. Nicht nur im Grundsätzlichen – da ohnehin –, sondern auch in den Einzelheiten scheint man sich zunehmend einig. Seit DIE LINKE nicht mehr PDS und also Ost-Partei ist, hat sie sich in vieler Hinsicht dort eingefügt. Zugegeben etwas überspitzt ließe sich sagen: Die politischen Unterschiede zwischen den etablierten Parteien der Bundesrepublik sind heute nicht mehr größer als die zwischen den Blockparteien seinerzeit in der DDR. Da trugen auch die einen den einen, die anderen andere Namen. Was sie am gemeinsamen Ziel, den Sozialismus zu gestalten, nicht hinderte. Der heutige Parteien-Einheitsbrei entwertet Wahlen, vergrößert den Abstand zwischen Bürger und Politik, macht politisches Interesse bedeutungslos und ist das Beste, was einer Partei wie der AfD, die sich als große Alternative inszeniert, passieren kann. Vermutlich hat der Aufstieg rechter Parteien wesentlich mit dem Mangel an Polarisierung zwischen den etablierten Parteien zu tun. In einer anderen Frage ist Polarisierung aber nicht wünschenswert, dort gehört sie nicht hin, ist Spalten schädlich. Es betrifft das Amt des Bundespräsidenten. Bis zur Wahl von Joachim Gauck galt in Deutschland der Grundsatz, dass dieses Amt eine Persönlichkeit innehaben sollte, die sich als Präsident aller Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes versteht. Niemand sollte den Präsidenten als gegen sich gerichtet betrachten müssen. Gleichgültigkeit wäre hier das Äußerste an Differenz. Mit der Wahl von Joachim Gauck wurde das anders. Er war der erste Bundespräsident, der absichtsvoll gegen bestimmte Teile des Volkes aufgebaut wurde. Und das – betrieben von SPD und Grünen – keinesfalls als Versehen. Prinzipien werden in Deutschland über Bord geworfen, wenn es der Kampf gegen DDR und renitente Ostdeutsche erfordert. Mit Gauck ist ein Präsident installiert worden, der für beträchtliche Teile der Ostdeutschen ein rotes Tuch war. Wesentliche politische Fragen, die sich um diese Person ranken und bis heute nicht beantwortet sind, wurden einfach ausgeblendet. So wäre hier Otto von Bismarck zuzustimmen, demzufolge Pfarrer in der Politik nichts zu suchen haben. Gaucks Nominierung und Wahl ist exemplarisch und bei weitem nicht das letzte Beispiel für die Preisgabe des Anspruchs, Einheit statt Spaltung anzustreben. Ausdrücklich freigesprochen werden von der Verantwortung für seinen Auftritt im Bundestag im November 2014 muss dagegen der Sänger Wolf Biermann. Bei ihm handelt es sich um einen in der eigenen Rolle gefangenen Menschen, den man mit seinem »Drachenbrut«-Vorwurf gegen die Fraktion DIE LINKE nur bedingt ernst nehmen kann. Diejenigen aber, die ihm diesen Auftritt aus Anlass einer Feier zum 25. Jahrestag des Mauerfalls ermöglicht hatten, und hier wäre in erster Linie der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zu nennen, tragen die Verantwortung, dass aus der Feier zur wiederhergestellten staatlichen Einheit der Deutschen eine wüste Spalter-Show wurde. Dabei spielt keine Rolle, dass Lammert mit Hinweis auf die Geschäftsführung bemüht war, Biermann auf der Bühne des Bundestages zu stoppen. Er hätte im Vorfeld wissen müssen, wen er da auf das Parlament loslässt. Was aber hat es mit dem Drachenbrut-Vorwurf auf sich, und was machte sich Biermann hier zu eigen? Um das Vorgefallene zu erfassen, wählen wir als Vergleichsgröße den Begriff des Untermenschen. Beide, »Untermensch« wie »Drachenbrut«, sind Ausdruck härtester Ablehnung in der politischen Auseinandersetzung. Beide markieren Grenzüberschreitungen in jeder Hinsicht. Wie das Wort »Untermensch« in der jüngeren Geschichte gezündet hat, sollte bekannt sein. Während dieses Wort aber den Mordaufruf zwingend noch nicht beinhaltet – von seinem Schöpfer Nietzsche war es so nicht gemeint, und man würde auch nicht einen Affen allein deshalb töten, weil er gewissermaßen unter dem Menschen steht –, so verhält sich das bei »Drachenbrut« anders. Hier steckt der Mordaufruf durchaus im Wort, sei es dem, der es verwendet, bewusst oder nicht. Denn eine Nachkommenschaft von Monstern, in deren Natur liegt, Menschen zu töten, kann nur so daran gehindert werden. Mord als hygienische Maßnahme. Biermanns Rede steht in der martialischen Tradition Winston Churchills, demnach man die kommunistische Sowjetmacht »in der Wiege erwürgen« müsse. »Untermensch« und »Drachenbrut« sind geistige Früchte der deutschen Romantik, jener vor allem von Schelling, Fichte und Friedrich Schlegel ausgehenden irrationalen Strömung, von der wir heute wissen, dass sie späterhin zum geistigen Rüstzeug des deutschen Faschismus wurde. Hier fanden die Nazis, was sie brauchten, wenn es galt, Totschlag zu legitimieren. Victor Klemperer hat diesen Vorgang in seinem Werk »LTI« ausführlich aufgedeckt. Während das restliche Europa, wie auch Amerika, mit seiner Modernisierung befasst war, schwelgte die deutsche Leitkultur nach 1800 in Sagen, Mythen und Märchen. Hier tummelten sich »Edelknechte und Knappen, / Die in dem Herzen getragen die Treu / Und auf dem Hintern ein Wappen«, wie Heinrich Heine rückblickend spottete. Die deutschen Heldensagen drangen wieder in das gesellschaftliche Bewusstsein, dem sie schon fast fremd geworden waren. Siegfried, der im Drachenblut badete, nachdem er die Drachenbrut besiegt und zerstückelt hat, spielt seither eine Rolle, die ihm die eigentliche Sage zwar gar nicht zuspricht, aber sei’s drum. Der angeblich finstere Hagen meuchelte den angeblich edlen deutschen Recken, das löste bei den Burgundern ein so unglaubliches Gemetzel aus, dass es praktisch niemand überleben konnte. Die Nazis schließlich übertrugen beides, die Irrationalität und das Gemetzel, ins Wirkliche und Gigantische. An seinen Stichworten sollt ihr ihn erkennen. Die »Drachenbrut« war nicht Biermanns erster Aufruf der Art. Tatsächlich ist, soweit mir bekannt, Wolf Biermann der einzige Mensch, der im Zuge der Wende öffentlich und ausdrücklich mit dem Gedanken des Lynchmords gespielt hat. Im SPIEGEL durfte er 1992 unter dem Titel »à la lanterne! à la lanterne!« darlegen, wie er die einzelnen DDR-Funktionäre und Menschen der Leitungsebene zu Tode martern würde. Auch wenn die Internet-Ausgabe des Magazins die widerlichsten Passagen dieses Beitrags inzwischen getilgt hat, bleibt im »behutsam ausgewogenen Lob der Lynchjustiz« immer noch der Vorwurf gegen die friedliche Revolution, sie habe zu wenig barbarische Substanz, zu wenig organisierte Weitsicht, ja, »und zu wenig blinde Wut« aufgebracht. Ist sie zufällig, die Liebe, die dem Biermann gerade aus dem Westen entgegenschlägt? Wählerisch wäre, wer sich solche Vorbilder sucht, kaum zu nennen. Eine sachliche Auseinandersetzung scheint hier nicht angestrebt. Gäbe es sie, müsste Biermann sich zu der Tatsache verhalten, dass er selbst einmal Teil dieser »Brut« gewesen ist. Oder sich fragen lassen, ob er eigentlich seinen eigenen Liedern zuhört. Die musikalische Aufforderung »Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit« wäre ja nun das letzte Motto, mit dem man den Lebensweg ihres Urhebers überschreiben könnte. Wer auf der Welt hat den Hass leidenschaftlicher konserviert? Biermann war seinerzeit ein begeisterter Befürworter des Mauerbaus. Der Dramatiker Heiner Müller informierte die Nachwelt darüber, dass der Sänger sogar ein Theaterstück (»Berliner Brautgang«) verfasst hatte, worin er den historischen Vorgang verherrlichte. Wer dergleichen getan hat und zuvor als Bürger der BRD aus dem 17. Juni 1953 die Schlussfolgerung zog, in die DDR überzusiedeln, und dort jahrelang begeisterter Anhänger des zentralistisch-sozialistischen Systems war, der sollte sich nicht als politisch-moralische Instanz aufspielen wollen. Dokumentiert
Im Sammelband »Rücksichten« (Hamburg 1993) kommentierte der PDS-Vordenker Michael Schumann den SPIEGEL-Beitrag Biermanns »à la lanterne! à la lanterne!«: »In diesem Beitrag war u. a. zu lesen: ›Falls im Grauen des Morgengrauens, wenn die Diktatur gestürzt ist und das neue demokratische Recht noch nicht gilt, der Pöbel schreit: Hängt das Pack auf! – dann gehöre ich zum Pöbel. Und wenn dann die empörten Menschen in ihrem Zorn ein paar besonders verächtliche Menschenquäler töten, will ich ihnen nicht in den Arm fallen. Im Gegenteil, ich würde sie umarmen. So eine verbrecherische Triebabfuhr im Affekt mindert den gefährlichen Selbsthass des demoralisierten Volkes.‹ Diese Stelle ist einzig bemerkenswert und aufschlussreich. Dass sich die handelnden – minoritären – Teile des Volkes die Souveränität nahmen, der eigenen selbstbestimmten Losung ›Keine Gewalt!‹ zu folgen, statt an den Lippen des Dichters zu hängen, ist IHM unverzeihlich, weil es IHN marginalisiert. Dass das Volk von SEINEM Ideal des Pöbels abfiel, ist der eigentliche Sündenfall der Revolution, denn das verhindert, dass ER es umarmt. Das Volk verpasst die Gelegenheit, IHN als Losungsgeber der Geschichte herauszustellen und IHN damit von sich – als dem gemeinen Pöbel – zu unterscheiden. Der Pöbel tötet, er...


Matthias Krauß, geboren 1960 in Hennigsdorf, studierte an der Leipziger Karl-Marx-Universität Journalistik und arbeitete bis 1989 als Redakteur der "Märkischen Volksstimme" Potsdam. Seit 1990 ist er als freier Journalist für verschiedene Blätter und Agenturen tätig sowie als Buchautor. Zuletzt erschienen: "Wem nützt die ›Aufarbeitung‹? – Die institutionalisierte Abrechnung" (2016), "Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat" (2019).


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