Krüger | Der Gott hinter dem Fenster | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Krüger Der Gott hinter dem Fenster

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7099-3660-3
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



ERZÄHLUNGEN DES INTERNATIONAL AUSGEZEICHNETEN AUTORS, VERLEGERS UND ÜBERSETZERS
In den Geschichten von MICHAEL KRÜGER geht es nicht ganz geheuer zu: Ein Mann hinter dem Fenster bildet sich ein, alle Menschen seines Viertels am Gang und an ihren Gesten zu erkennen - bis auf einen, der regelmäßig im Zwielicht kommt und sich beharrlich den gierigen Blicken des Beobachters entzieht. Dem Wanderer in den Schweizer Bergen ergeht es nicht besser - nicht genug, dass er auf Spuren von Wölfen stößt, hat er bald einen Weggenossen, der aus dem Nichts auftaucht und versucht, den einsamen Spaziergänger in seine Gewalt zu bringen. Und auch das Mädchen auf der Haustreppe erscheint ohne Vorwarnung und zieht in das Leben des perplexen Bewohners ein, in dem kein Stein auf dem anderen bleibt.

HERZBEWEGENDE KOMIK UND SANFTE MELANCHOLIE
So frohgemut und selbstsicher die Figuren in Michael Krügers Erzählungen auftreten, scheitern sie letztlich an ihrem Glauben, die Welt sei eine geordnete. Sie alle finden sich früher oder später an dem Punkt wieder, an dem die Wirklichkeit den Blick freigibt auf ihre Bodenlosigkeit. Was dann zum Vorschein kommt, bringt Krüger atmosphärisch dicht zur Sprache. Mit herzbewegender Komik und sanfter Melancholie erzählt er von Zuwendung und Abkehr, von Widersprüchen und Harmonie, von Nähe und Distanz. Und über allem schweift der Blick eines unbestechlichen Beobachters, der auch die hintersten Winkel der Seele durchdringt - und den Leser direkt in seinem Innersten berührt.
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Für immer
Weil ich mir nicht mehr zu helfen wusste und der Regen in München das Gefühl der Hilflosigkeit und der gedankenlosen Traurigkeit noch verstärkte, warf ich das Manuskript, an dem ich erfolglos arbeitete, indem ich wieder und wieder die schon geschriebenen Sätze durchstrich und durch immer weniger klare Konstruktionen ersetzte, in eine Reisetasche, legte ein paar Wäschestücke und den Kulturbeutel obenauf, nahm die Zeitungen und die Post aus dem Kasten und setzte mich ins Auto, in der fragwürdigen Hoffnung, durch Bewegung meine Niedergeschlagenheit aufzulösen, obwohl ich von früheren Anfällen wusste, dass gerade Bewegung das falscheste Mittel war. Wenn diese Welt leer ist, sind es alle anderen Welten auch. Nur Ruhe konnte helfen. Aber ich hatte nun bereits mehr als einen Monat versucht, mich zu beruhigen, hatte tagelang geschwiegen, war nicht ans Telefon gegangen, hatte keine Musik gehört und das Fernsehgerät nicht eingeschaltet, hatte mich täglich in aller Frühe an den Tisch gesetzt und die wenigen Zeilen auf dem Papier angestarrt und an ihnen herumgekratzt, ohne dass sie zu mir gesprochen hätten. Sie blickten feindselig zurück, und jede vermeintliche Verbesserung, noch die geringste Umstellung, führte dazu, dass sie mich regelrecht höhnisch auslachten. Warum konnte ich sie nicht in Ruhe lassen? Welcher Dämon zwang mich, der Wahrheit näher kommen zu wollen? Ich fuhr durch die am frühen Morgen menschenleere Stadt, hielt vor einem Stehcafé, in dem die Müllmänner in ihren orangen Anzügen sich aufwärmten, wortkarge Türken, die laut ihren Kaffee schlürften, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Vielleicht, dachte ich, sollte ich ihnen mein Manuskript übergeben, dann würde es zwischen Flaschen und alten Zeitungen, Kaffeesatz und Essensresten auf dem großen Müllberg landen, der mir plötzlich als das einzige Ziel unserer Zivilisation vor Augen stand, ein riesiger Haufen Abfall, in dem ungeordnet der ganze Dreck unserer Bemühungen, eine zeitgemäße Lebensform zu finden, aufgestapelt lag. All die Lügen, dass wir der nächsten Generation eine saubere Welt hinterlassen sollten, würden gleich mitkompostiert, und der Regen würde dieses fatale Gemisch zu einem Brei verkleistern, den kein Archäologe auch nur mit spitzen Fingern anrühren wollte. Diese Gedanken, die bei mir, wie ich zu meinem Schrecken feststellen musste, zu einem hysterischen Krampf führten, zu einem Zucken, das um die Augen herum begann und dann den ganzen Körper erfasste, schienen die Türken nicht zu berühren. Sie standen, die Unterarme auf die wackligen runden Tische gelehnt, mit ihren mürrischen, müden Gesichtern nur da, einige hatten die Mützen abgelegt, einer lehnte mit leicht gespreizten Beinen an der Wand und hatte die Augen geschlossen, deren Lider sich wie im Schlaf leise bewegten. Müll! Wovon träumt man, wenn man den ganzen Tag damit beschäftigt ist, anderer Leute Abfall zu beseitigen? Natürlich davon, endlich selber mehr Abfall produzieren zu können. Die Frau hinter der Theke, mit Tätowierungen an beiden Armen, die sich bis unter die ärmellose Bluse fortsetzten, schaute gelangweilt auf dieses in Orange gehaltene Stillleben, sie rief mir nicht einmal einen Gruß hinterher, als ich endlich das Café wieder verließ und mitsamt meinem Manuskript weiterfuhr. Warum um Himmels willen die Deutschen Angst hatten vor diesen friedlichen Muslimen, die ihnen die Scheiße entsorgten, war mir schleierhaft. Der Staat würde zusammenbrechen, wenn sie in Streik träten. Ich stellte mir vor, dass eine Verordnung erlassen würde, wonach jeder selbst für die Beseitigung seines Abfalls zu sorgen hätte, und sah schon die langen Schlangen schöner deutscher Autos mit schönen deutschen Hausfrauen vor mir, die sich vor den Mülldeponien drängten. Sogar bei der gegenseitigen Betrachtung des Mülls würden Neid und Missgunst herrschen. Warum werfen Sie Bücher weg? Weil ich sie gelesen habe und sie nicht länger in meiner Nähe ertrage. Und Sie, warum essen Sie Ihr Essen nicht auf? Weil es mich nach dem dritten Bissen immer ekelt, jeden Tag wieder das Fleisch toter Tiere essen zu müssen, ganz einfach. Ich sollte, ging mir durch den Kopf, ein Theaterstück über Müll schreiben, »Müll«. Müll erfreut sich auf der gegenwärtigen Bühne großer Beliebtheit. Wahrscheinlich wird es schon überall gespielt. In meinem Stück würden jedenfalls die Türken mit ihren traurigen anatolischen Gesichtern genau so auf der Bühne herumstehen, wie sie in dem Stehcafé herumgestanden sind. Auch für die tätowierte Kellnerin hätte ich in meinem Stück Verwendung, weil sich alle fragen würden, wie es mit der Tätowierung unter der Bluse weiterging. Das geht euch einen feuchten Kehricht an, ihr Kümmeltürken, würde sie rufen, und die freundlichen Türken würden lachen und ihre Goldzähne zeigen, dass man es bis in die letzte Reihe blitzen sah. Am Schluss müsste auf der Bühne ein großer Müllhaufen liegen, ein wirklich gigantischer, stinkender Müllberg, und kein Vorhang würde heruntergehen. Ich war kaum wieder auf die Umgehungsstraße eingebogen, als ich einen jungen Mann ohne Schirm am Straßenrand stehen sah, der sich ein unförmiges Pappschild mit der Aufschrift »Innsbruck« umgehängt hatte. Sofort war mir klar, dass ich nach Innsbruck fahren musste. Hätte ich Paris oder Barcelona gelesen, wäre ich nach Paris oder Barcelona gefahren, jetzt sollte also Innsbruck mein Lebensziel werden. Der junge Mann war so verblüfft, dass ich neben ihm hielt, dass er nur mit Verzögerung sich zum Fenster beugte und »Innsbruck?« murmelte, als würde er seinem Glück nicht trauen. Also fahren wir nach Innsbruck, sagte ich. Ich war ja selber in meiner Jugend per Anhalter durch Europa gefahren und wusste, wie erhaben man sich fühlte, wenn irgendein Autofahrer genau dahin wollte, wohin man selber unterwegs war. Kaum hatte der junge Mann seine gesamte triefende Nässe auf dem Beifahrersitz untergebracht, stellte er sich vor und bedankte sich so überschwänglich, dass ich meinen Entschluss, ihn mitzunehmen, schon zu bereuen begann. Wie schön wäre es gewesen, allein nach Innsbruck zu fahren, wie eine in ihrem Gehäuse verkrochene Schnecke. Es ist ein erniedrigendes Gefühl, seine Einsamkeit nicht aushalten zu können und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit schwach zu werden. Jetzt begann also wieder, was ich am meisten verabscheue: Konversation. Der Mensch kann nicht, so sehr er es sich auch vornimmt, den Mund halten. Andere unterhalten zu müssen, ist eine entsetzliche Folter. Ich nahm mir vor, nichts zu sagen, nichts, sollte der junge Mann doch mich unterhalten. Auf meine Frage, was er bei diesem Wetter in Innsbruck zu tun gedenke, erfuhr ich, dass er Student der Theologie war und nach der bevorstehenden Dissertation über den Jesuitengeneral Franz von Borgia in ein Jesuitenkollegium eintreten wolle. Ich schaute ihn von der Seite her an, weil ich plötzlich nicht sicher war, ob dieser durchnässte Vogel mir nicht einen Bären aufbinden wollte, aber er blickte ohne jeden Anflug von Ironie zurück; er meinte es ernst. Auf welche Gedanken die jungen Menschen kommen, wenn ihnen die Welt nicht passt und sie keine Möglichkeit sehen, sie zu verändern. Sie beten. Sie werden fromm und beten. Oder sie bleiben unfromm und beten um innere Festigkeit. Statt in intellektuelle Verzweiflung zu fallen, wie unsereiner, kümmern sie sich gleich nach dem Abitur um ihr Seelenheil. Wahrscheinlich, dachte ich, bringe ich einen der nächsten Päpste nach Innsbruck. Und schon begann der junge Mann, mir von Borgia zu erzählen, der angeblich ebenso ohne Ironie gesagt hatte: »Wie Lämmer haben wir uns eingeschlichen, wie Wölfe werden wir regieren, wie Hunde wird man uns vertreiben, aber wie Adler werden wir uns wieder verjüngen.« Und als ich bei der nächsten Tankstelle abfuhr, holte er aus seinem Rucksack, den er auf dem Rücksitz neben meine Tasche gestellt hatte, sein Manuskript und las mir bis weit nach Rosenheim die bösartigsten Anschuldigungen vor, die gegen die Jesuiten vorgebracht worden waren. Selbst der allerkatholischste Kaiser Franz, rief er gegen die sich gleichmütig abrackernden Scheibenwischer, wollte keinen Jesuiten zum Beichtvater und vertraute ihnen auch keine Pfarreien an; ebenso wenig wie der Kaiser Ferdinand und der so fromme Bayern-Ludwig. Weil die Jesuiten angeblich das Beichtgeheimnis gebrochen haben, hat Maria Theresia sie aus allen ihren Ländern verbannt. In Bologna wurden sie unter der Bedingung geduldet, dass sie sich ruhig verhalten, das hieß jedoch, sagte er vergnügt, Unmögliches verlangen! Die Jesuiten vom Intrigieren abhalten, las er mir aus einer Schmähschrift vor, ist den Fischen das klare Wasser verbieten, so hatte der Bischof von Pistoia, ­Scipio Ricci, gesagt, ein Mann von echter Frömmigkeit und strengen Sitten, der wie ein Heiliger lebte und Napoleon beschwor: »General! Glauben Sie mir, die Jesuiten sind die Wölfe der Kirche und umso mehr zu fürchten, weil sie sich unter dem Schafspelze bergen!« Der junge Mann, der so fröhlich neben mir saß und alle Verdächtigungen, die man gegen seinen zukünftigen Orden je vorgebracht hatte, mit der größten Selbstverständlichkeit wiedergab, wurde mir mehr und mehr unheimlich, und als wir, bei immer noch strömendem Regen, auf die Inntal-Autobahn abbogen, bat ich ihn zu schweigen. Er hielt augenblicklich die Klappe. Stumm und irgendwie ergeben schaute er in die Richtung, wo normalerweise die Berge zu sehen sind, auch wenn ich in meiner gegenwärtigen Verfassung nicht mehr sicher war, dass sie nicht schon längst abgetragen worden waren. Ein seltsamer Jesuit. Denn eigentlich müsste er ja genau jetzt mit der Arbeit beginnen! Ich selber habe nie viel zu Gesprächen...


Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München und ist zurzeit Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war viele Jahre Verleger der Carl Hanser Literaturverlage und Herausgeber der "Akzente" sowie der "Edition Akzente". Er ist Mitglied verschiedener Akademien und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010). "Der Gott hinter dem Fenster" ist sein erster Erzählband.


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