Lies | Drei aus dem Ruder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Lies Drei aus dem Ruder

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-641-16691-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Henriette, Mieke und Coco haben nichts gemeinsam – außer dasselbe Problem: eine handfeste Lebenskrise! Als alle drei in der psychosomatischen Klinik Seeblick landen, lauern unbequeme Fragen im Gepäck: Warum will ich immer perfekt sein? Sage ich oft genug Nein? Was ist, wenn Muttersein doch nichts für mich ist? Und nicht zuletzt: Wie konnte mein Leben nur so aus dem Ruder geraten?! Sich selbst als Chefin, Ex-Ehefrau und Geliebte zu entfliehen, ist jedoch leichter gesagt als getan. Und am Ende scheint nur eine einzige Therapie anzuschlagen – Freundschaft …
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1.
Kurz bevor sie den Eingang erreichten, ging ihr die Luft aus. Georg eilte hinter ihr her und versuchte, den Griff ihres Koffers, den sie emanzipiert umklammerte, in die Finger zu kriegen. Der Bruch der rechten Elle war zwar verheilt, doch noch war sie meilenweit davon entfernt, den Arm wieder normal belasten zu können. Also hatte sie ihren geliebten Weekender in seiner verwitterten Lederoptik auf den abgewetzten Schranktrolley gestapelt, wobei sie Georg versehentlich die Finger eingeklemmt hatte, und zerrte die bleischwere Fracht nun mit beiden Händen über den Kies. Eine Jungfernfahrt, die des Prachtstücks äußerst unwürdig war – wähnte sie sich doch beim Kauf noch mit ihm in einem nostalgischen Zug durch Zentralafrika. Und jetzt das! Ihr linker, gesunder Arm schmerzte augenblicklich noch mehr als der rechte. Kein Wunder! Sie hatte fast ihren gesamten Schrank eingepackt. Es war tatsächlich mehr ein Umzug als eine Reise, wie Georg es nannte. »Wie lange wirst du denn weg sein?«, hatte er sie in Anbetracht der leeren und lose hin und her baumelnden Kleiderbügel im Einbauschrank beunruhigt gefragt. »Nur sechs Wochen«, hatte sie knapp entgegnet und seinen Blick gemieden. Die ganze Sache passte ihm nicht. Zwar war er unter der Woche ohnehin den ganzen Tag weg, aber abends brauchte er sie neben sich. Manchmal auch auf sich. Letzteres allerdings nur noch selten. Noch immer war es ihr selbst hochnotpeinlich, wohin sie so kurz nach ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag ging. Doch von Georg hätte sie sich ein wenig mehr offizielle Unterstützung – und Bestürzung – darüber gewünscht. »Den ganzen Sommer über bist du weg?!«, hatte er mit langgezogener Miene weiter protestiert. »Aber Yukuri Rotomori gibt sein Abschiedskonzert, und wir haben Karten!« Wie immer war klar, dass er, der Dirigent, das berufliche Ende eines wildfremden Musikers über ihren Zustand stellte. Fast hatte sie sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt. Doch diesmal ging es nicht darum, dass sie einen Friseurtermin absagen musste, um experimentelle Orchesterkunst in Amsterdam zu bewundern. Diesmal ging es um mehr, um viel mehr. Um ihre Gesundheit, womöglich ihr Leben – nur dieses eine Mal ging es um sie! In einem Crescendo hatte er seinen stärksten Trumpf ausgespielt und schamlos ihre Achillesferse torpediert: »Die Kinder wollen doch auch noch was von dir haben! Es ist ihr letzter Sommer mit uns, danach sind sie flügge! Kuren kannst du noch ewig.« Ihr schlechtes Muttergewissen hatte zuverlässig hyperventiliert und sie sich gefragt, ob er das Wort Kur absichtlich benutzte, denn sie selbst hatte ganz klar den Begriff Burn-out verwendet, als sie ihre Angetrauten bei der Rückkehr aus dem Krankenhaus vor drei Wochen über ihr Rehabilitationsvorhaben informiert hatte. Zur Untermalung der dramatischen Lage hatte sie seit dem Unfall den Haushalt stark vernachlässigt, was ihr auch das Rosengewächs im Vorgarten nicht verzieh. Ihre gynäkologische Praxis war bis Herbst geschlossen, und Ines und Clementine, ihre Arzthelferinnen, waren zwar aufrichtig über Henriettes Zustand schockiert, gleichzeitig aber kaum in der Lage gewesen, ihr Glück über den bezahlten Urlaub zu verbergen. Schnell waren ihre Genesungskarten zu Postkarten von Kreta mutiert. Was diese Maßnahme finanziell und imagemäßig anrichten würde, daran versuchte Henriette nicht mehr zu denken, seit sie in einem Zimmer im Kreiskrankenhaus aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war. Ihre Kinder nahmen sie vergleichsweise ernst. Zumindest auf ihre sehr direkte Anfang-Zwanzig-Art. Ein Alter, das sich gut unter Alles schon gesehen, alles schon erlebt, lass mich in Ruhe, gähn zusammenfassen ließ – obwohl sie noch gar nichts erlebt hatten. Gottlob! Außer vernichtendem Liebeskummer, wenn sich ein Mädchen, ein Junge oder eine Band trennte. Natürlich wusste auch sie bis heute nicht wirklich, worum es im Leben ging – aber im Unterschied zu ihren Kindern wusste sie zumindest, worum es nicht ging: Männer, Sex, Spaß, Liebe, Partys, Selbstverwirklichung, Freiheit … die Liste war lang. Stattdessen ging es um Hypotheken, Geschirrspüler der Effizienzklasse A, Zahnsteinentfernung, Hortbetreuung, Frühbucherrabatte, Steuerbescheide, Samstagseinkäufe, Elternabende, Rasenmäher und Essigentkalker. So viel stand fest. Und so war es nach dem Vorfall vor vier Wochen mehr als ihr gutes Recht, diesem Wahnsinn für einige Zeit zu entfliehen. Die Fahrt von München nach Prien war nicht lang. Henriette saß still neben Georg in ihrem eigenen, feuerroten Passat auf dem Beifahrersitz. Gemeinsam hatten sie entschieden, dass er sie brachte und sich die Kinder ihr Auto in den nächsten eineinhalb Monaten teilen konnten, denn die Zwillinge genossen gerade eine Auszeit, eine Annehmlichkeit ihrer Generation. Ab Herbst würde Gabor Physik studieren und Gilda in Australien Work & Travel machen. Oder surfen. Oder bloggen. Das wusste Gilda noch nicht so genau, und Henriette gönnte ihrer Tochter diese Orientierungsphase. Trotz der angespannten Stimmung im Wagen genoss sie es ihrerseits, unbeteiligt aus dem Fenster zu starren. Von ihr aus hätten sie ewig so dahinrollen können, bis zur Nordsee und zurück. Nichtstun gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr, der Familienalltag bestand fast ausschließlich aus Handlungen: Kochen, putzen, aufräumen, schimpfen, streiten, diskutieren und organisieren. Und daraus, sich Sorgen über das alles zu machen, immer wieder, jeden Montag von vorne. »Wir sind da!«, war das Erste gewesen, was Georg seit seinem herzhaften »So!« beim Schließen ihrer sonnenblumengelben Doppelgarage in München-Bogenhausen wieder gesagt hatte, als sie vor der Klinik hielten. Und das war ziemlich offensichtlich. »Ette-Schatz, soll ich nicht doch mit reinkommen?« Versöhnlich hatte ihr Göttergatte nach hinten gegrinst, in Richtung des Safari-Weekenders und des Schranktrolleys, die von einem bunten Sportrucksack und einem fleckigen Jutebeutel im Kofferraum flankiert wurden. Sie hatte sein Lächeln beim besten Willen nicht erwidern können. Wenn er mental keine Begleitung darstellte, konnte er sich seine Manneskraft getrost schenken. »Danke. Aber nein.« »Wie du meinst«, hatte seine Stimme einen gehörigen Mollton angenommen. Dann war er stillschweigend ausgestiegen, hatte den Wagen umrundet und ihr die Tür aufgehalten. Eine Geste, auf die er seit ihrem ersten richtigen Rendezvous an der Uni bestand und die sie hier, vor den Toren der Seeblick-Kliniken, zum ersten Mal nicht mehr charmant, sondern antiquiert fand. Damals, am Abend der Examensparty der Mediziner, waren sie nach einer Reihe unverfänglicher Dates zum ersten Mal gemeinsam im Kino gewesen, ein dänischer Arthausfilm im Original. Trotz Untertiteln hatte sie fast nichts verstanden, aber es hatte Spaß gemacht, Georg in seinem Kinosessel von der Seite aus zu betrachten, während er Feuer und Flamme war ob der schauspielerischen Leistung, der Lichtsetzung und der visionären Kameraführung. Ein Teil von ihr mochte die Welt, die er ihr zeigte, ein anderer fand es unfassbar anstrengend, sich ständig zu bilden. Etwas, das in all den Jahren gleich geblieben war. Zum Ausgleich hatte sie sich zunehmend in Banalitäten gestürzt – sehr zur Freude von Gilda, mit der sie nach Jahren der Hausaufgabenermahnung nun entspannt Make-up-Tutorials und Topmodelfolgen konsumierte. Henriette atmete tief ein. Die Luft hier am Chiemsee war so ganz anders als in der Stadt! Es roch nach Seewasser und frisch gemähter Wiese, und irgendwo hatte jemand einen Holzkohlegrill angemacht. Als die Kinder noch klein gewesen waren, hatten sie hier regelmäßig den Sommerurlaub verbracht und ihre Kindersitze, Feuchttücher, Gläschen und Windelpakete einfach ins Auto gepackt, statt aufwendige Flugreisen auf sich zu nehmen. Damals war sie auch beruflich noch eine brennende Idealistin gewesen und hatte jeden Mückenstich hingebungsvoll verarztet. Georg hingegen konnte kein Blut sehen und hatte nach einem Semester Humanmedizin das Fach gewechselt – und danach nicht mehr allzu viel übrig gehabt für ihre Berufswahl. Nie wieder hatte er sich hinterfragt, während dies zu ihrem Alltag gehörte: War sie eine gute Chefin? Bekamen die Patientinnen von ihr ausreichend Empathie, Kompetenz und schnell genug einen Termin? Sollte sie mal ihr Englisch auffrischen? War für sie Yoga die richtige Sportart, Step-Aerobic oder Pilates? War ihr Körper übersäuert und konnte man dem Gütesiegel der Freiland-Bioeier wirklich vertrauen? Und was zur Hölle würde sie tun, wenn ihre Kinder bald aus dem Haus waren und sie ihnen gar kein Rührei mehr machen musste?! Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie bei der Einführungsveranstaltung damals nicht neben Daniel und Georg gesessen und sich nach der Party nicht von Georg hätte mitnehmen lassen?! Auf eine Art bewunderte Henriette ihren Mann für seine Gradlinigkeit. Niemals würde ein Georg Hendrik Hoppe so wie sie nun vor einem alten, bayerischen Jagdschloss stehen, in dem ein Therapiezentrum untergebracht war, und mit zittrigen Knien auf die große braune Eingangstür aus Holz starren, auf der das einladende Schild Psychiatrie sagte. »Tschüss!«, sagte sie jetzt und unterband damit, trotz Atemnot, endgültig seine Versuche, ihr zu helfen. »Küss die Kinder!« »Mach ich«, kapitulierte er neben ihr auf dem Kies. Ein wenig ratlos stand er da. »Erhol dich gut, ja? Geh mal schwimmen und in die Sauna.« Dann ging er zum Auto zurück. »Warte mal, Georg!« Einer Eingebung...


Lies, Annette
Annette Lies wurde 1979 in Herne geboren. Die gelernte Werbekauffrau arbeitete als Texterin und begeisterte Stewardess, bevor sie 2015 ihr Studium der Dramaturgie an der HFF München abschloss. Ihre Romane „Saftschubse“ und „Saftschubse – Neue Turbulenzen“ werden aktuell für Sat1 verfilmt. Annette Lies lebt in München und Key West.


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