Lorenz / Micus | Von Beruf: Politiker | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 6599, 208 Seiten

Reihe: HERDER spektrum

Lorenz / Micus Von Beruf: Politiker

Bestandsaufnahme eines ungeliebten Stands

E-Book, Deutsch, Band 6599, 208 Seiten

Reihe: HERDER spektrum

ISBN: 978-3-451-34574-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Kritik am politischen Personal ist groß: Zu angepasst, zu abgehoben, zu wenig Profil, keine echten Prinzipien etc. Robert Lorenz und Matthias Micus schauen sich das gegenwärtige und das vergangene Personal auf den Bonner bzw. Berliner Bühnen genau an und ziehen erhellende Vergleiche.
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1 Die Ungnade der späten Geburt oder:
Schicksalslosigkeit als Manko
„Früher war alles besser.“ Frei nach diesem Motto lässt sich eine weitverbreitete Annahme beschreiben, wonach die heutigen Politiker nicht mehr das Format der früheren besäßen. Man hat dann die Schwarz-Weiß-Bilder vor Augen, auf denen Ludwig Erhards Zigarre dampft, Konrad Adenauer seiner Limousine entsteigt oder Willy Brandt im Bundestag am Rednerpult steht. Diese Reihe ließe sich vermutlich schier endlos fortsetzen – doch von der gegenwärtigen Politikelite lässt sich das nicht behaupten. Auch finden sich nur noch selten einprägsame Karikaturen, wie es sie etwa zu Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß oder Helmut Kohl zuhauf gab, oder kommerziell vertriebene Bücher mit Politikerzitaten. Der Unterhaltungswert der aktuellen Politcharaktere scheint beträchtlich nachgelassen zu haben. Der einzige Politiker, dessen Name eine Bestsellergarantie ist – Helmut Schmidt –, entstammt daher wenig überraschend nicht der gegenwärtigen Politikelite. War früher alles besser?
Sitzt man aber nicht an dieser Stelle einem Trugschluss auf, einem verzerrten Blick auf die Vergangenheit aus der wachsenden Distanz der Gegenwart? Diese Frage ist nicht ohne Bedeutung, denn zumeist verbindet sich mit der Erinnerung an die verblichene Machtelite auch der Glaube, es habe sich insgesamt um das bessere Politikpersonal gehandelt. Besser in mehrfacher Hinsicht: erfahrener, bevölkerungsnäher, unbestechlicher, aufrichtiger, prinzipienfester, auch fleißiger und sachverständiger. Aber stimmt das wirklich? Wer also regiert(e) uns? Zunächst ist der wehmütige Abgleich der Politikerriege vergangener Zeiten mit dem politischen Personal der Gegenwart eine regelmäßige Begleiterscheinung des deutschen Politikbetriebs. Vergleichbare Klagen ließen sich auch immer wieder in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren vernehmen. Inzwischen legendäre Figuren wie Willy Brandt, Walter Scheel oder Helmut Kohl, auf die sich die heutige Nostalgie vielfach bezieht, boten in den 1970er-Jahren manchen Anlass, sich an vermeintlich ehrwürdigere, charakterfestere und insgesamt großformatigere Politikstars der 1950er-Jahre zu erinnern. So schrieb etwa der Spiegel-Journalist Jürgen Leinemann 1979 über Carlo Schmid, einen der Gründungsväter der Bundesrepublik, ihn umgebe „jenes clevere, berechnende, agile Manager-Bonn“. Und 1984 wandte der Geschichtsschreiber Christian Graf von Krockow in der Zeit seinen Blick zurück in die Ära Adenauer und fragte sich, wo sie denn nur alle hin seien, die „knorrigen, kantigen Persönlichkeiten, die das Bild der Politik in der schlimmen, guten Nachkriegszeit geprägt haben“, woher stattdessen „dieser polierte, wieselige, wendige, geölte, salbadrige Typus, der inzwischen und offenbar immer mehr das Feld beherrscht“, gekommen sei. Auch feixten einmal ein Altkanzler und ein Altbundespräsident über die dringliche Notwendigkeit einer Präsidialdemokratie, weil ihre Nachfolger ja nicht mehr regieren würden. Dieser Scherz ging allerdings nicht etwa auf Kosten von Gerhard Schröder oder Angela Merkel – nein, es waren Willy Brandt und Walter Scheel, die sich über Helmut Schmidts Regierung belustigten. Dass die Vergangenheitsverklärung ebenso wie die bereits geschilderte Politikerkritik ein ganz typischer, stets wiederkehrender Effekt ist und insbesondere die Gründergeneration eines erfolgreichen Systems wie dem der Bundesrepublik als Kontrastfolie heranzieht, auf dem die gegenwärtige Politelite stets klein und gering erscheint, lässt sich in der Weltgeschichte immer wieder beobachten. Von dem französischen Gelehrten Alexis de Tocqueville ließ sich im 19. Jahrhundert erfahren, dass die damaligen Staatsmänner der Vereinigten Staaten nichts mehr von der Qualität der Gründerväter des späten 18. Jahrhunderts besäßen. Dennoch lässt sich ein gewisser Wahrheitsgehalt der Gegenwartskritik an der politischen Elite nicht bestreiten. Irgendetwas scheint Angela Merkel, Peer Steinbrück oder Claudia Roth von Konrad Adenauer, Hans-Dietrich Genscher oder Herbert Wehner zu unterscheiden. Zunächst: Folgt man den Zeitungsberichten, so hatten die früheren Politiker tatsächlich mehr zu bieten als die heutigen. Etliche Journalisten der 1960er- und 70er-Jahre ließen sich zu beinahe schwärmerischen Schilderungen der Redekunst eines Kurt Georg Kiesinger, Rainer Barzel oder Franz Josef Strauß hinreißen. Und auch Helmut Schmidts Auftritte im Bundestagsplenum schienen mehr einem Schauspiel als einem pflichtgemäßen Redebeitrag zu gleichen. Seine Rhetorik brachte Schmidt die respektbezeugenden Beinamen „The Lip“, „Le Feldwebel“ oder „Schmidt Schnauze“ ein. Bleiben wir bei Schmidt: Noch bevor er Kanzler wurde, firmierte er im politischen Bonn als außerordentlich belesener, sachkundiger, wenn nicht gar weiser Politiker, der sich vortrefflich auf das Regierungshandwerk verstand. Und selbst Helmut Kohl, der bereits in einer Phase regierte, als es um den Ruf der Politiker schon nicht mehr ganz so gut bestellt war, galt in den frühen 1970er-Jahren als aufstrebender Reformer, der als Ministerpräsident das provinzielle Rheinland-Pfalz mit einem fortschrittlichen Regierungsprogramm binnen weniger Jahre zu einem Vorzeigebundesland getrimmt habe. Als Kanzler beschrieben ihn manche Beobachter als überirdische Erscheinung, ein Mann, der nicht geht, sondern schreitet, der nicht winkt, sondern Güte ausstrahlt, der vom Landes- zum Vaterlandsvater gewachsen war. Oder nehmen wir Richard von Weizsäcker, der nicht erst im Nachhinein, sondern noch während seiner Dienstzeit als Verkörperung des idealen Staatsoberhauptes, als Glücksfall gesehen wurde und in dem viele Wähler wünschenswerte Tugenden zu erkennen glaubten, die den übrigen Politikern zu fehlen schienen – gerade so, als habe sich in ihm die Wunschvorstellung von der „Herrschaft der Besten“ verwirklicht. Nicht zuletzt Franz Josef Strauß: Obwohl er mit seinen Tiraden und Attacken nicht selten über die Stränge schlug, vertraten die Kommentatoren einhellig die Meinung, hier handele es sich um einen extrem robusten, tatkräftigen, leidenschaftlichen und energischen Mann, eine „starke Führernatur“, wie es der Spiegel 1980 griffig formulierte. Es dürfte zumindest schwerfallen, aus dem aktuellen Politikkader mehrere Charaktere herauszupicken, von denen Ähnliches behauptet wird. Insofern lässt sich in der Tat aus der zeitgenössischen Berichterstattung der Eindruck gewinnen, als habe es zu Zeiten der ersten Großen Koalition oder des Deutschen Herbstes erheblich hochklassigere, wenn man so will: „bessere“ Staatslenker gegeben. Aber stimmt das wirklich? Und wenn ja: Worin liegen die Ursachen dafür? Was ist also dran an der Vermutung, die Frauen und Männer der glühenden Wortgefechte und klugen Entscheidungen seien spätestens in den 1980er-Jahren wie die Dinosaurier ausgestorben? Andererseits: Auch in den Zeiten der Kanzlerschaften von Adenauer oder Brandt, die als bessere Politikelite empfunden wurden, gab es viele Stimmen, die einen Qualitätsverlust des politischen Personals beklagten. Hinzu kommt, dass Öffentlichkeitsbilder von Politikern starken Schwankungen unterliegen. Das zeigt sich beispielsweise in den frühen 1970er-Jahren an den beiden gegensätzlichen Meinungen über den damaligen Bundesfinanzminister Helmut Schmidt: Zunächst sagt man ihm nach, dass er mit seiner Sturheit die Inflation anheize, wenig später aber gilt derselbe Schmidt als der Politiker, der die Republik als „Eiserner Schatzkanzler“ vor dem Ruin bewahrt habe. Außerdem sticht Schmidt mit seinen Kenntnissen in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen ohnehin aus der Riege der deutschen Bundeskanzler heraus – weder Adenauer, Kiesinger, Brandt oder Kohl hätten mit seinem ökonomischen Wissen mithalten können. Wissensdefizite in Fachfragen sind unter Spitzenpolitikern allerdings völlig normal. Dahingehend dürften sich heutige von früheren Politikern also keineswegs unterscheiden. Vielmehr kommt es in der Politik darauf an, trotz oftmals widersprüchlichen Expertenrats innerhalb kurzer Zeit eine Entscheidung treffen zu können – unter Heranziehung des Wissens anderer, ergänzt jedoch durch das eigene Urteilsvermögen. Hier war Schmidt also vielmehr Sachverständiger als Politiker. Krisen und Prägungen
Was die aktuellen von den vergangenen Politikerkohorten allerdings unterscheidet, ist das zum Teil wiederholte Erlebnis von Krisen, Zusammenbrüchen und Katastrophen, kurz: der Verlust des Schicksals. Als die Bundesrepublik den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstieg, saßen Männer und Frauen in den Schaltzentralen der Macht, die elementare Prägungen ihrer Persönlichkeit in extremen Zeiten erfahren hatten. Manche von ihnen hatten noch im wilhelminischen Kaiserreich das Licht der Welt erblickt, waren in einer konstitutionellen Monarchie mit Fürsten, Königen und einem Kaiser an der Spitze aufgewachsen und erzogen worden. Andere hatten den Ersten Weltkrieg erlebt – entweder im „Stahlgewitter“ des Massensterbens an den verschiedenen Fronten Europas oder in Form von Leid und Entbehrung in der hungernden Heimat. Diesen schrecklichen Eindrücken folgten der Revolutionswinter 1918/19, die Flucht des Kaisers, die blutigen Straßenschlachten in Berlin, im Ruhrgebiet und in Thüringen, der Kapp- und der Hitler-Putsch, jeweils ebenfalls verbunden mit großem Aufruhr. Sie erlebten die Hyperinflation, in der Stunde für Stunde der Wert des Geldes sank und sich absurde Papiergeldberge anhäuften, ehe die mühsam zusammengetragenen Ersparnisse mit einem Mal wertlos waren. Dann kam die nationalsozialistische Machtergreifung, die NS-Diktatur, ehe...


Robert Lorenz, Dr., Politikwissenschaftler und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Matthias Micus, Dr., Politikwissenschaftler und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


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