Ludwig | Körperpolitiken und Demokratie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 86, 472 Seiten

Reihe: Theorie und Gesellschaft

Ludwig Körperpolitiken und Demokratie

Eine Geschichte medizinischer Wissensregime

E-Book, Deutsch, Band 86, 472 Seiten

Reihe: Theorie und Gesellschaft

ISBN: 978-3-593-45571-6
Verlag: Campus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das Buch arbeitet die Bedeutung von Körperpolitiken für die Genealogie der liberalen Demokratie in Deutschland von 1848 bis 1933 heraus. Auf der Basis einer historischen Analyse medizinischer Diskurse wird gezeigt, wie Wissensregime über Körper, Leben, Gesundheit und Krankheit Vorstellungen von Demokratie, Politik, demokratische Partizipation, politische Gemeinschaft und politische Subjekte geprägt haben. Auf dieser Grundlage widmet sich das Buch abschließend der Frage, wie radikaldemokratietheoretische Ansätze der Gegenwart durch eine körpertheoretische Perspektive erweitert werden können.
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Kapitel I: Naturwissenschaftliche Politik als Grundlage von Demokratie
1.Medizinisch-politische Glaubensbekenntnisse
»Die Geschichte der Medicin ist […] ein integrirender Bestandtheil der Culturgeschichte überhaupt, und sie kann nur im Zusammenhange mit der allgemeinen Geschichte der Menschheit verstanden werden.« (Virchow 1862 [1849]: 30) Inmitten der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 bekundete Rudolf Virchow (1821–1902)15 in einem Brief an seinen Vater, dass sein »medicinisches Glaubensbekenntniss« nun in seinem »politischen u. socialen« aufgehe (Virchow 1906 [1848]: 145). Er war der festen Überzeugung, dass aus der naturwissenschaftlichen Medizin unmittelbare politische Konsequenzen folgen müssten: »Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die Verwirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich ausführbar.« (Ebd.) Auch in seinem Vortrag über Die Epidemien von 1848 verwob Virchow Medizin und Politik aufs Engste miteinander: »Ueberall, wo die Sache des Volkes war, standen auch Aerzte unter den hervorragenden Führern; überall, wo es galt, die ewigen Gesetze der Menschheit, die heiligen Rechte des Geschlechts zu wahren, da hielten Aerzte den ersten Stoss aus.« (Virchow 1848h: 4) Die Verknüpfung von Medizin und Politik sah Virchow nicht auf den Zeitpunkt seiner Äußerungen beschränkt, also auf das Revolutionsjahr 1848. Er leitete aus ihr auch ein in die Zukunft gerichtetes Programm ab. Die Demokratie, deren Grundlage durch die 1848er-Revolution gelegt worden sei, würde erst ganz verwirklicht sein, wenn sie nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Medizin gestaltet sein werde. Die zeitgenössische politische »Bewegung, deren Gleichen die Weltgeschichte nicht kennt«, habe die Menschen, so Virchow, »von dem Standpunkt der dynastischen und territorialen Politik, dem rein politischen zu dem social-politischen, dem der nationalen und demokratischen Politik geführt; ihre endliche Ruhe wird sie aber erst dann finden, wenn wir auf dem kosmopolitischen Standpunkt, dem der humanen, naturwissenschaftlichen Politik, dem der Anthropologie oder der Physiologie (im weitesten Sinne) angelangt sein werden« (Virchow 1848c: 21). Als Virchow diese Beobachtungen formulierte, war er in der Medizin schon kein Unbekannter mehr. Im Laufe seines Lebens sollte er sich zu einem der einflussreichsten Mediziner im deutschsprachigen Raum entwickeln, der die Ausgestaltung der Medizin nachhaltig prägte (Ackerknecht 1957; Goschler 2002a; Johach 2008: Schönholz 2010). Neben seinem Einfluss in der Medizin fiel Virchow in seiner Rolle als Politiker auf. Wie kein anderer Mediziner im 19. Jahrhundert verstand er seine Disziplin als untrennbar mit Politik und vor allem mit Demokratie verwoben. Sowohl in der Medizin als auch der Politik wurden Virchows Interventionen diskursprägend. Im Folgenden werde ich den Weg rekonstruieren, wie der Medizin ein solchermaßen umfassendes politisches Potential zugestanden werden konnte. In einem ersten Schritt werden die hegemonialen Denkweisen und Perspektiven in der Medizin nachgezeichnet, wobei hier der folgenreiche Wandel fokussiert wird, der sich in der Medizin ab Ende der 1840er Jahre vollzog: Zu diesem Zeitpunkt legten die Mediziner die Grundsteine für die Etablierung der Medizin als Naturwissenschaft. In einem zweiten Schritt soll gezeigt werden, wie diese Transformation innerhalb der Medizin dazu führte, dass die naturwissenschaftliche Medizin zur Basis der Demokratie werden konnte. 1.1Von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft: Die Mechanisierung von Leben und Körper
»Das erste Prinzip der Naturforschung ist, […] daß wir uns die Natur begreiflich vorstellen müssen, da es sonst keinen Sinne hätte,
sie erforschen zu wollen.« (Du Bois-Reymond 1912 [1894]: 500) Etwa zeitgleich mit der 1848er-Revolution setzte in der Medizin ein bedeutsamer epistemologischer Wandel ein: Während bis zur Mitte des Jahrhunderts sich die Medizin noch ungetrübt als Naturphilosophie verstand, setzte sich danach zunehmend ein neues Verständnis der Medizin als Naturwissenschaft durch.16 Die Naturphilosophie, die in Deutschland besonders unter dem Einfluss des Denkens von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel gestanden hatte, ging in ihrer Erkenntnisgewinnung induktiv vor und bediente sich als Methode der Spekulation. Körper, Leben, Gesundheit und Krankheit wurden von philosophischen Theoremen und Systemen ausgehend erfasst.17 Beobachtung wie Experiment waren der naturphilosophischen Medizin als Methoden fremd und klinische wie experimentelle Erfahrung war weitgehend bedeutungslos. Die naturphilosophische Medizin war eine »Medizin aus Bibliotheken, nicht vom einzelnen Kranken, nicht vom Krankenbett her, nicht von der Klinik, nicht von dem Laboratorium, auch nicht von der Pathologischen Anatomie« (Becker 2008: 24), wie dies 1867 auch der Mediziner und Rektor der Universität Heidelberg Nicolaus Friedreich (1825–1882) in seiner Kritik monierte: »Die Schriften der ächten naturphilosophischen Aerzte sind für den nüchternen Verstand eines heutigen Arztes geradezu unfassbar.« (Friedreich 1867: 11) Die Dominanz der »transcendentalen Phrasen« (ebd.) führte auch dazu, dass, obgleich manchmal der »Ablauf von körperlichen Vorgängen oder von Krankheitsverläufen dem philosophischen System« widersprach, dies »die Theoretiker nicht [störte], die Praxis hatte sich dem System zu beugen« (Becker 2008: 24). Doch ab den 1840er Jahren konsolidierte sich die Medizin mehr und mehr als empirische und experimentelle Naturwissenschaft. Um wissenschaftliche Erkenntnisse an die Stelle von spekulativen Annahmen setzen zu können, wandte sich die neue Medizin empirischen Methoden zu. Nicht mehr wollte sie glaubend einem abstrakten System folgen, aus dem Hypothesen abgeleitet wurden, sondern als gültiger Erkenntnisweg galt ihr fortan nur noch, was experimentell gesehen und nachgewiesen werden konnte. Rückblickend beschrieb am Ende des 19. Jahrhunderts der Pathologe Carl Weigert (1845–1904) den Wandel so: »Nachdem die Naturphilosophie im Anfang dieses Jahrhunderts mehrere Jahrzehnte lang in wilden Speculationen die Wissenschaft auf Irrwege geleitet hatte, trat endlich eine heilsame Ernüchterung ein. Die Naturforscher kamen gewissermaassen zur Besinnung und sagten sich, dass vor allen Dingen erst Thatsachen gefunden werden müssten, die für die Erkenntniss der Vorgänge der Natur wichtiger wären, als die geistreichsten, am grünen Tisch ausgedachten Hypothesen. Diese Anschauung hat sich mehr und mehr befestigt.« (Weigert 1896: 121) Zweifellos treibende Kraft im Wandel der Medizin von einer Naturphilosophie hin zur »höchste[n] und schönste[n] Naturwissenschaft« (Virchow 1907 [1845]: 6) war die Physiologie. Während diese bis in die 1840er Jahre eine lediglich theoretisch betriebene Randdisziplin und als solche nur Gegenstand der »Sommervorlesung des Professors der Anatomie« war (Hermann 1879: 84), entwickelte sie sich mit der Transformation der Medizin zu einer Naturwissenschaft zu deren Grundlage (Sarasin/Tanner 1998; Schlich 1999). Als »die Wissenschaft vom Leben« (Verworn 1896: 73) wurde sie zur »Königin der Naturwissenschaften« (Du Bois-Reymond 1878 [1877]: 21; vgl. Virchow 1847a: 4). Die Einrichtung unzähliger physiologischer Lehrstühle, die Errichtung physiologischer Institute und die Etablierung der experimentellen Physiologie als Kernprüfungsfach im medizinischen Studium ab den 1850er Jahren, an der insbesondere Virchow und Emil Du Bois-Reymond (1818–1896)18 maßgeblich beteiligt waren, zeugen von diesem Bedeutungswandel der Physiologie...


Ludwig, Gundula
Gundula Ludwig ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse und Leiterin des Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind queer-feministische Staats- und Demokratietheorie, Theorien der Subjektivierung, Körper- und Biopolitik, Gewalt und Geschlecht. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift »Femina Politica« und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung.

Gundula Ludwig ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse und Leiterin des Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind queer-feministische Staats- und Demokratietheorie, Theorien der Subjektivierung, Körper- und Biopolitik, Gewalt und Geschlecht. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift »Femina Politica« und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung.


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