Luik | Schattenspiel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Luik Schattenspiel

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4292-7
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein Streifzug durch die Ewige Stadt und ein Spaziergang durch Europas vielfältige Geschichte.

In 'Schattenspiel' ist Rom einerseits mythischer Sehnsuchtsort, anderseits eine lebendige, von liebenswerten und skurrilen Gestalten bevölkerte Stadt. Die Erzählerin trifft auf Pastoren und Bettlerinnen, auf geliebte Hühner und gerissene Taschendiebe.
Mit viel Humor schildert sie das Leben an der Seite eines estnischen Diplomaten, und blickt dabei zurück auf ihre Zeit in Berlin und die Kindheit im stalinistischen Estland.
Viivi Luik lässt ihre Protagonistin in einer Welt lange nach Fall des Eisernen Vorhangs unterwegs sein. Zwar sind die Erinnerungen an frühe Erfahrungen, in denen Rom nur ein unerreichbarer Traum war, noch ganz plastisch. Doch stets gab die Ewige Stadt einen Maßstab ab, eine Richtung vor.
Als der Traum endlich Wirklichkeit wird, ist die Erzählerin eine 'gestandene' Frau, die schon in anderen Ländern Europas gelebt hat, nicht nur besuchsweise, sondern beruflich und über Jahre. Sie kennt sich aus, aber hier, am verzauberten Ort, trifft Traum auf raue Wirklichkeit, etwa wenn bei Wohnungsbesichtigungen römisches Temperament und nordisches Gemüt aufeinanderprallen. Das ist so abenteuerlich wie hochkomisch. Überhaupt scheint die Nord-Süd-Trennung durch die Alpen viel einschneidender (und plausibler) als ein abstrakter Ost-West-Gegensatz.
Viivi Luik hat mit leichter Hand einen europäischen Roman geschrieben, der durch einen fremden Blick auf das Vertraute besticht.
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Zuhause
Im Jahre 1949, als Carl Gustav Jung in die Ewige Stadt reisen wollte, beim Kauf der Fahrkarte ohnmächtig wurde und die Reisepläne ein für alle Mal begrub, begann eine andere Romreise. Es geschah im Zusammenhang mit den Märzdeportationen, dass ich zum ersten Mal ein Bild von Rom, vom Kolosseum, sah. Andernfalls gäbe es keinerlei Grund, noch einmal diese alte, abgenutzte, zerkratzte und knisternde Deportationsplatte aufzulegen, wenn nicht genau dies der Beginn meines Weges nach Rom wäre. Es war ein wertvolles und dickes Buch, das da auf dem Dielenboden eines estnischen Bauernhauses lag, aufgeschlagen bei einer Abbildung des Kolosseums in Rom. Die Bewohner waren gerade abgeholt worden, während die Söhne barfuß durch den Schneeregen in den Wald gerannt waren. Die hatten sie noch nicht erwischt. Die schmutzigen Stiefelspuren der Soldaten waren auf den sauberen Dielen noch gut zu sehen. Wie Striemen einer Peitsche. Sie fraßen sich für immer in die estnischen Fußböden ein. Im Fichtenwäldchen hinter dem Feld hatten Schnee und Regen das Blut eines Roten, der die Kugel bekommen hatte, noch nicht weggespült. Es soll gar nicht leicht gewesen sein, den Leichnam zu bestatten, der Boden sei tief gefroren gewesen und vereist. Mich ging das nichts an. Das war nicht meine Sache. Ich war ein Kind und spielte mit den Sternen des Himmels. Mich interessierte das Bild in dem Buch mehr als Verwünschungen und Tränen. Vor dem Tod oder Sibirien hatte ich keine Angst. In diesem Moment war für mich nur das Bild des Kolosseums wichtig. Ich wusste nicht, was das war, was für ein Bild das war. Aber das Bild verzauberte mich, ich konnte mich nicht von ihm losreißen. Der Herrgott auf seinem Thron mag gleichzeitig das ehemalige Kind und jene Person sehen, die hier sitzt und gerade eine Bilanz ihres Lebens zieht. Dieser Dreijährigen lief die Nase, sie tropfte direkt ins Buch. Sie schämte sich und deckte den Fleck mit ihrer Hand ab, als wollte sie ihn vor unsichtbaren Zeugen verbergen. Dabei bestand keinerlei Grund, sich zu schämen. Außer dem Herrgott gab es dort keine weiteren Zeugen. Von ihm aber ist bekannt, dass Spucke und Schleim, Rotz und Tränen sein täglicher Anblick sind. Denn an den Herrgott wenden sich die Menschen wie an einen Arzt meist nur in ihrem größten Elend, wenn sie bitterlich weinen, heulen und triefen. Großmutter beachtete mich nicht, sie schaute weder zu mir noch auf das dicke Buch, sie betete in der Grabeskälte des von Unglück erfüllten Zimmers ein Vaterunser für die Deportierten und verfluchte die Deporteure. Zur gleichen Zeit schien in Rom die Sonne ins Kolosseum. Dessen Mauern waren an Gebete und Verwünschungen gewöhnt, sie waren von ihnen durchtränkt, und auch Großmutters Verfluchungen konnten sie nicht ins Wanken bringen. Die alte heisere Stimme meiner Großmutter drang durch das Bild vom Kolosseum zu mir, sie erreichte mich eigentlich erst durch dieses Bild hindurch wie die Stimme der Weltgeschichte selbst. Niemals mehr werde ich diese einsame alte Stimme hören. Sie ist vom Erdball verschwunden. Wer konnte ahnen, dass die Zeit so schnell verfliegen würde! Niemand glaubt das, niemals. Aber siehe da, draußen weht derselbe ewige Wind, der die Menschen wie trockene Blätter vor sich her treibt. Auch damals sang der Wind wie jetzt: »Lebwohl, mein Schatz. Der große Abgang steht bevor …«, aber wer hört das schon und schert sich darum, bevor die Reihe an einem selbst ist. Diese barbarischen, schmutzigen Stiefelabdrücke und die Blutlache im Fichtenwäldchen schienen aus dem Kolosseumbild herausgesprungen zu sein, wenngleich die Bildtafel in diesem dicken Buch mit seinem gelblichen Papier von einem Vorhang aus Seidenpapier beschützt wurde. Lesen konnte ich noch nicht. Im Nachhinein kann man davon ausgehen, dass es ein italienisches Buch war, denn als ich Jahre später die Wörter »mezzo« und »palazzo« sah, erkannte ich sie sofort wieder. Ich hatte sie schon einmal gesehen. Das zweite Mal, und dann schon nicht mehr auf einem Bild, sondern in Wirklichkeit, sah ich das Kolosseum im Oktober 1998, im Licht eines Blitzes. In einem rötlich drohenden Feuerschein. In einem Wolkenbruch. Tatsächlich war das Erste, was ich in Rom sah, ein Blitz. Möglicherweise hat jeder insgeheim seine eigene Vorstellung von Rom; ich habe mir die Ewige Stadt ein Leben lang in einem düsteren rötlichen Feuerschein vorgestellt, und nun ergab es sich so, dass ich sie genau in diesem Zustand zum ersten Mal erblickte. Als ich an jenem dunklen Oktoberabend endlich in Rom eintraf, waren seit meinem ersten Blick auf das Kolosseum neunundvierzig Jahre vergangen. Was immer ich diese neunundvierzig Jahre getan habe, ich war unterwegs nach Rom. Auch an jenem öden Novemberabend Ende der fünfziger Jahre war ich auf dem Weg nach Rom, als sich die Dämmerung wie graue Asche auf die leeren Felder, die verwilderten Äcker und die leer stehenden Bauernhöfe senkte, als der kalte gelbe Streifen des Sonnenuntergangs hinter den kahlen Bäumen traurig und einsam flackerte wie die Erinnerung eines Flüchtlings an seine verlorene Heimat, in die er niemals zurückkehren wird, weil, wie Karl Ristikivi es in einem Gedicht ausdrückte, »Wasser davor ist, Wasser und schaurige Felsen«. Auch in der Traurigkeit dieser verlorenen und fernen Abendstunde war ich auf dem Weg nach Rom. Warum sonst nahm ich mir ein kariertes Heft und meinen Schulfüllfederhalter aus der Schublade und fing an, Jahreszahlen in das Heft zu schreiben? Ich schrieb lange an ihnen, denn es waren viele. Ich wollte bis zum Jahr 2000 kommen, das zu jenem Zeitpunkt noch in unvorstellbarer und unermesslicher Ferne lag, gleichsam wie in einem anderen Sonnensystem. Man konnte nicht ins Jahr 2000 gelangen, ohne vorher die Jahreszahl 1998 geschrieben zu haben, das Jahr, in dem ich in Rom ankam … Diese Jahreszahl sagte mir nicht mehr als alle anderen in dieser Reihe. Ich dachte in jener öden Dämmerstunde zum ersten Mal in meinem Leben an die Menschen, die den Gang meines Lebens bestimmten, und an die Orte, an denen mein Herz aus Liebe und Schmerz einmal verstummen würde. Einige der Menschen lebten bereits, andere waren noch nicht geboren. Ich war auf geheimnisvolle Art und Weise durch mein Fleisch und Blut mit anderen Menschen in der weiten Welt verbunden. Mir schoss plötzlich durch den Kopf, dass irgendwo, bloß wusste ich nicht, wo, Häuser stehen mussten, in denen mein Leben und mein Schicksal sich erfüllen würden. Vielleicht sogar Häuser, die noch gar nicht entworfen waren, weil ihre Architekten und Erbauer möglicherweise noch gar nicht geboren waren. An ihrer Stelle war nur Leere. Irgendwo dort hinter den Jahren befand sich auch meine Todesstunde, wie ein Bahnhof, ein dunkles Gebäude im Sternenlicht. Die Stunde, die jeder bei seiner Geburt mitbekommt. Und schon leuchteten über dem kahlen Wald die ersten Sterne auf. Ich drückte meinen Brustkorb an die Tischkante. Mein Herz schlug, und es stand nicht in meiner Macht, es zu stoppen, bevor es nicht von selbst aufhörte. Draußen raschelte und rauschte es, ein Windstoß rührte an den schwarzen vertrockneten Blumenstängeln, die noch vor kurzem als hoch aufgeschossene Sommerblumen prunkten. Wenn man es nicht gewusst hätte, hätte man kaum glauben mögen, dass diese erbärmlichen Stängel vor zwei Monaten noch lebten und blühten und diesen Sommer mit allen anderen vergangenen und zukünftigen Sommern verbinden würden. Schon wurde es dunkel im Zimmer, aber am Fenster konnte man die schwarz schimmernden Jahreszahlen noch sehen. Diese verhexten Jahreszahlen sahen untereinander geschrieben wie eine leichte Rechenaufgabe aus. Ich wusste nicht, wie man sie lösen konnte, aber die Lösung musste mich in die weite Welt führen. Das war mein brennender Wunsch dort in dem armseligen Zimmer, in dem es so rasch dunkel wurde, dass nicht einmal das Papier mehr schimmerte. In diesem Moment waren diese Jahre genau so weit entfernt wie die Sterne, die mittlerweile am Himmel erschienen waren. Und gleichzeitig waren es ganz banale Zahlen, die mit blauer Tinte auf kariertem Papier in zwei krummen Spalten untereinander geschrieben waren. Ein Stück grobes, gelbliches Papier und ein bisschen billige Volksschultinte, weiter nichts. Es war eine Welt aus einer Petroleumlampe, Erde und Holz, in der ich diese Ziffern, diese Jahreszahlen schrieb. Von dort musste man irgendwie, durch irgendeine Rechenoperation, vor den Computer hier gelangen. Aber noch niemand wusste, was ein Computer war. Dieser Gegenstand, dieses Phänomen und das Netz existierten noch nicht auf der Welt. Diese erbärmlichen, mit Kinderhand geschriebenen Jahreszahlen waren mein einziger Anhaltspunkt auf der Erde, mein primitives Gerät für den Flug zwischen den Planeten. In Rom auf der Lungotevere, am Tiberufer, raschelten hinter dem Samtvorhang des Abends sicherlich schon die trockenen bronzefarbenen Platanenblätter. Im Tiber spiegelten sich der Himmel und das Sternbild vom Ende der fünfziger Jahre. Und ich war noch nicht einmal in Tallinn gewesen! Und doch wartete in Tallinn der August 1991 auf mich, um den man bei diesem langen Weg nach Rom nicht herumkommt. Über diesen August des Jahres einundneunzig ist in Estland viel...


Hasselblatt, Cornelius
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Luik, Viivi
Viivi Luik, geb. 1946 in Tänassilma/
Estland, arbeitete als Bibliothekarin
und Archivarin, heute lebt sie als freiberufliche Schriftstellerin in Tallinn.
Sie war Stipendiatin in Finnland,Lettland, Deutschland, Schweden und Italien. Sie hat zehn Gedichtbände, Essays, Kinderbücher und drei Romane veröffentlicht, darunter »Der siebte Friedensfrühling« (1985; deutsch 1991), der in zehn Sprachen übersetzt wurde, und »Die Schönheit der Geschichte« (1991, deutsch 1995, Übersetzungen in über ein Dutzend Sprachen). In ihren ersten beiden Romanen beschäftigte sich Viivi Luik mit der Zeit des Stalinismus und der Stagnation in Estland und den verheerenden Auswirkungen auf das individuelle Dasein von Kindheit und Jugend an. Viivi Luik gehört zu den bedeutendsten estnischen Schriftstellerinnen der Gegenwart.

Viivi Luik, geb. 1946 in Tänassilma/Estland, arbeitete als Bibliothekarin und Archivarin, heute lebt sie als freiberufliche Schriftstellerin in Tallinn.
Sie war Stipendiatin in Finnland,Lettland, Deutschland, Schweden und Italien. Sie hat zehn Gedichtbände, Essays, Kinderbücher und drei Romane veröffentlicht, darunter "Der siebte Friedensfrühling" (1985; deutsch 1991), der in zehn Sprachen übersetzt wurde, und "Die Schönheit der Geschichte" (1991, deutsch 1995, Übersetzungen in über ein Dutzend Sprachen). In ihren ersten beiden Romanen beschäftigte sich Viivi Luik mit der Zeit des Stalinismus und der Stagnation in Estland und den verheerenden Auswirkungen auf das individuelle Dasein von Kindheit und Jugend an. Viivi Luik gehört zu den bedeutendsten estnischen Schriftstellerinnen der Gegenwart.


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