Lutter | Märkte für Träume | Buch | 978-3-593-39297-4 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 72, 296 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 407 g

Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln

Lutter

Märkte für Träume

Die Soziologie des Lottospiels

Buch, Deutsch, Band 72, 296 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 407 g

Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln

ISBN: 978-3-593-39297-4
Verlag: Campus Verlag GmbH


Wer jede Woche Lotto spielt, gewinnt statistisch etwa alle 2,7 Millionen Jahre. Trotzdem hoffen Millionen Menschen jede Woche auf ihr Glück und Lotterien und Glücksspiele in Deutschland erzielen gewaltige Umsätze. Mithilfe zahlreicher statistischer Analysen versucht Mark Lutter dieses Massenphänomen zu ergründen. Welche Motive und Hoffnungen stehen hinter dem Loskauf? Und wie lässt sich aus soziologischer Perspektive die große Nachfrage nach einem Gut erklären, das sehr wahrscheinlich zum finanziellen Verlust des Einsatzes führen wird? Sein Fazit: Lotto ist ein "Markt für Träume", denn noch immer verkörpert die Lotterie das Versprechen, großer Wohlstand sei für alle erreichbar.
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Inhalt

Danksagung

Einleitung

Kapitel 1
Die soziale Bedingtheit von Märkten: Zur Entstehung, Ausbreitung und Regulierung von Lotteriemärkten

1.1 Einleitung
1.2 Die Entstehung der Lotterien und des Zahlenlottos
1.3 Einsetzende Verbote
1.4 Die Zeit der Verbote und ihre Folgen
1.5 Legalisierungsbestrebungen
1.6 Die Diffusion US-amerikanischer Lotterien 1964 bis 2007
1.7 Die soziale Missbilligung der Lotterien: Zum Verhältnis von Religion und Glücksspielen
1.8 Konklusion

Kapitel 2
Wertbildung auf Märkten: Zur Erklärung des Nachfrageverhaltens auf dem Lottomarkt

2.1 Einleitung
2.2 Kognitionspsychologische Erklärungsansätze:

Lottospielen als Ausdruck begrenzter Rationalität
2.3 Lottospiel als rationale Investitionsentscheidung
2.4 Lottospiel als Spannungsmanagement
2.5 Soziale Netzwerkeinbindung als Erklärung für Lottospielteilnahme
2.6 Lottomärkte als Märkte für Träume
2.7 Idealtypische Motivgruppen von Lottospielern
2.8 Konklusion

Kapitel 3
Soziale Konsequenzen von Märkten: Umverteilungseffekte des staatlichen Lotteriemarktes

3.1 Einleitung
3.2 Der Staat im Dilemma zwischen Prävention und fiskalischer Einnahmeerzielung
3.3 Fiskalische Bedeutung des staatlichen Glücksspielmonopols
3.4 Umverteilungseffekte durch Lotterien: Forschungsstand und Hypothesen
3.5 Empirische Untersuchung
3.6 Konklusion

Kapitel 4
Schlussbetrachtung

4.1 Zusammenfassung
4.2 Beiträge zur Soziologie des Marktes

Abbildungen und Tabellen
Literatur


Wie entstanden die ersten Lotterien und wo finden sich die Ursprünge dieser Märkte? Warum wurden das Zahlenlotto und die Lotterien nahezu in der gesamten westlichen Welt für einen langen Zeitraum verboten? Weshalb veränderte sich ihre gesellschaftliche Akzeptanz? Welche Faktoren bewirkten ihre Wiedereinführung im 20. Jahrhundert? Warum sind Lotterien in einigen Bundesstaaten der USA nach wie vor verboten? Wie lässt sich die Opposition gegenüber Glücksspielen erklären? Ziel dieses Kapitels ist es, die Entstehung und die Verbots- und Erlaubnisperioden über die Zeit in komparativer Perspektive darzustellen und die Bestimmungsfaktoren zeitlich variierender Formen der Regulierung der Lotteriemärkte zu erklären und zu verstehen.

Am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Lotterien kann die Soziologie die gesellschaftliche Bedingtheit von Märkten ablesen. Dies ist die Hauptthese dieses Kapitels: Ebenso wenig wie die Nachfrage nach Glücksspielen einen "natürlichen Trieb" darstellt, so ist auch die Entstehung des Glücksspielmarktes kein "natürliches" Phänomen. Die Chance der Entstehung und Entwicklung ist im Gegenteil sozial höchst voraussetzungsreich. Sie kann im Sinne Max Webers ([1922]1985: 43f.) von Traditionen, Konventionen, Institutionen und Machtinteressen bestimmt sein. Insbesondere der sozialen Legitimation von Markthandeln fällt hierbei eine zentrale Bedeutung zu. Ich werde zeigen, dass die Ursprünge und die weitere Fortentwicklung der Lotteriemärkte in hohem Maße sozial, normativ und politisch bedingt sind. Das Kapitel fragt also nach den sozialen und strukturellen Voraussetzungen der Entstehung, Ausbreitung und Legitimation dieser Märkte.

Der Aufbau des Kapitels ist wie folgt: In Abschnitt 1.2 untersuche ich die Entstehungsgeschichte der Lotterien und gehe ihren Ursprüngen zu Beginn der Neuzeit und der frühen Moderne in Italien (Lotto) und Flandern (Lotterie) nach. Abschnitt 1.3 widmet sich der Frage, welche Ursachen im 19. Jahrhundert zum Verbot der Lotterien führten. Abschnitt 1.4 untersucht die Zeit der Lottoverbote und ihre unintendierten, nicht antizipierten Konsequenzen: das Aufkommen illegaler Glücksspielmärkte. In Abschnitt 1.5 frage ich, wie es im 20. Jahrhundert zur Wiedereinführung der Lotterien kam. Abschnitt 1.6 knüpft an diese Fragen an, indem mittels Zeitreihendaten die Ursachen der Lotterieeinführungen in den USA seit 1964 als Diffusionsprozess statistisch untersucht werden. Abschnitt 1.7 schließlich erörtert die sozialstrukturellen und motivationalen Determinanten oppositioneller Einstellungen gegenüber Glücksspielen. Um die Mechanismen der Glücksspielopposition auf der mikrosoziologischen Ebene darzulegen, verwende ich Umfragedaten im deutsch-amerikanischen Vergleich. Auf Basis der in diesem Abschnitt herausgearbeiteten Befunde lässt sich die Opposition gegenüber Glücksspielen vor allem auf den Einfluss von Religion und arbeitsethischen Wertorientierungen zurückführen. Abschnitt 1.8 fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen.

1.2 Die Entstehung der Lotterien und des Zahlenlottos

Moderne Lotterien lassen sich hinsichtlich ihres Spielprinzips nach zwei Arten unterscheiden: die einfache, "passive" Lotterie und das "aktive" Zahlenlotto (Garvía 2007, 2008). Bei der Lotterie erwirbt der Spielteilnehmer ein vorgefertigtes Los, dessen Zahlenkombination gewinnt, wenn es mit der durch eine Zufallsziehung gezogenen Kombination übereinstimmt. Beim Zahlenlotto dagegen wählt der Spielteilnehmer aktiv "seine" Glückszahlen aus einer vorgegebenen Anzahl von Zahlen.

Beide Spielprinzipien entwickelten sich historisch weitgehend unabhängig voneinander, kamen an unterschiedlichen Orten auf und hatten doch eines gemeinsam: Sie entstanden in den für die damalige Welt wirtschaftlichen Hauptzentren des Frühkapitalismus, den Niederlanden und Oberitalien. Das Lotteriespiel - manchmal "alte Lotterie" oder "holländische Lotterie" genannt -, aus der sich später die heute bekannten Klassenlotterien entwickelten, hat seinen Ursprung etwa Mitte des 15. Jahrhunderts in Flandern. Das Zahlenlotto - Vorläufer des heute in Deutschland als "Lotto 6 aus 49" bekannten Spiels - entstand etwa Mitte des 16. Jahrhunderts in der oberitalienischen Hafen- und Handelsstadt Genua. Gemäß der Herkunft des Lottos findet sich oft die Bezeichnung "lotto di Genova" oder "italienische" Lotterie.

Wie entstanden die ersten Lotterien? Wie das Lotto? Welche Voraussetzungen mussten hierfür gegeben sein? Bildeten sich diese Märkte "spontan", "von unten", das heißt aus privat hervorgegangener Initiative, aufgrund der reinen Glücksspielneigung der Bevölkerung? Oder entstanden sie vielmehr als institutionengestütztes, soziales und politisches Desiderat interessengeleiteter, machtvoller Akteure? Warum ausgerechnet in Flandern und Oberitalien? Aus welchem Grund wurde das Zahlenlotto nach einer Blütephase in vielen Ländern verboten? Ich vertrete die These, dass die Lotterieentstehung, ihre weitere Entwicklung und ihre anschließende Aufhebung auf sozialökonomische Ideen zurückzuführen sind, die einen wesentlichen Einfluss auf die Legitimität und Regulierung der Lotterien gehabt haben. Die signifikanten Entwicklungslinien der Lotterien, ihre Entstehungs- und Verbotsphasen, fallen mit zwei zeitlich und idealtypisch trennbaren wirtschaftspolitischen Dogmen zusammen, namentlich der seit Adam Smith so bezeichnete Merkantilismus und der Liberalismus (Stapelfeldt 2001, 2006). So wie das Aufkommen und die erste Blütezeit der Lotterien als Symptom der merkantilistischen Frühmoderne verstanden werden können, so ist das Verbot der Lotterien Resultat des sich durchsetzenden Liberalismus.

Die Beschreibung des Aufstiegs und des Falls der Lotterien in Europa und Amerika soll diese These im zweiten und dritten Abschnitt verdeutlichen. Ich beschäftige mich zunächst mit der Entstehung des Lotteriespiels in Europa (Abschnitt 1.2.1) und in Amerika (Abschnitt 1.2.2). Anschließend beschreibe ich die Entstehung des Zahlenlottos in dem Ursprungsland Italien (Abschnitt 1.2.3) sowie die nachfolgende Ausbreitung des Lottos in Europa (Abschnitt 1.2.4).

1.2.1 Zur Entstehung der Lotterien in Europa

Die Entstehungsgeschichte der modernen Lotterie beginnt im heute teilweise zu Belgien zählenden, niederländischsprachigen Gebiet Flandern Mitte des 15. Jahrhunderts. Neben Italien und dem Mittelmeerraum zählte diese Region im 15. Jahrhundert und bis etwa in die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht nur zu den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Gebieten Europas, sie war geradezu das wirtschaftliche Zentrum der Welt (Wallerstein 1986: 282-286; 1998: 223-235). Erst Mitte des 17. Jahrhunderts übernahm England die wirtschaftliche Vormachtstellung. Die Niederlande und insbesondere das flämische Gebiet waren bereits während der Renaissance als Subzentrum von weltwirtschaftlicher Bedeutung (Braudel 1992: 187-303, Bd. 3). Städte wie Sluis, Brügge und Antwerpen, später dann Amsterdam, Den Haag und Rotterdam waren wichtige Handelsstädte, deren Wirtschaft vor allem durch den internationalen Seehandel florierte. In diesen Städten fanden die ersten Lotterien statt.

Eine der ersten Auslosungen ist für das Jahr 1445 in der nahe Brügge liegenden Hafenstadt Sluis verzeichnet (Paul 1978: 31). Diese wurde im Schöffenhaus der Stadt durch den Stadtrat organisiert. Ein Jahr später folgte eine zweite Auslosung. Hier verlieh der Graf von Flandern ein Lotteriepatent an den Feldobristen Johan Marchant als Dank für seine Dienste als Feldherr. Dieser gab das Patent an die Stadt Sluis weiter. Mit den Einnahmen sollten Befestigungsanlagen finanziert werden. Zwischen 1465 und 1474 gab es allein in Brügge dreizehn Lotterien (Schönbein 2008: 54).

Auch aus Italien sind Lotterieveranstaltungen zu dieser Zeit bekannt. Evelyn Welch (2005: 203) berichtet von italienischen Geldlotterien um 1448, die aus finanziellen Notsituationen von der milanesischen ambrosischen Republik (1447 bis 1450) veranstaltet wurden. Die Finanzierung staatlicher Güter, in diesem Fall Verteidigungsanlagen und Armeetruppen, stand auch hier im Vordergrund. Lotterien waren von Beginn an als ein Instrument der Obrigkeiten konzipiert, Gelder zur Finanzierung öffentlicher Güter zu akquirieren.

Das Spielsystem der "alten", "holländischen" Lotterieform gestaltete sich recht einfach. Teilnehmer schrieben in der Regel ihren Namen auf einen Zettel und falls dieser aus der Losurne gezogen wurde, gewannen sie einen Preis. Später etablierten sich statt der Namen gedruckte Losnummern. Die Frühformen der Lotterie ähnelten damit unserer heutigen Tombolaziehung (Schwartz 2006: 4). Die Ziehungen waren öffentlich und fanden an zentralen Orten der Stadt - meist auf Märkten - statt. Sie zogen große Menschenmassen an.


Mark Lutter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.


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