Maio | Den kranken Menschen verstehen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Maio Den kranken Menschen verstehen

Für eine Medizin der Zuwendung

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-451-82208-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Krankheiten können den Menschen in eine existenzielle Krise stürzen. Die moderne Medizin reagiert darauf mit Naturwissenschaft und perfekter Technik, aber sie lässt den Menschen in seiner Lebenskrise oft allein. Giovanni Maio macht die Einseitigkeit einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin deutlich und entwirft eine Ethik in der Medizin, die auf die Kraft der Zuwendung und der Begegnung setzt. Ein überfälliger Aufruf zu einer neuen Medizin der Zwischenmenschlichkeit in einer überarbeiteten Ausgabe.
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II.

Eine kleine Phänomenologie des Krankseins – Beispiele aus der Praxis
1. Chronischer Schmerz – der widrige Stachel als Bewältigungsaufgabe
»Wenn sich eine Lektion aus alledem ableiten lässt, so ist es die, dass mit dem Schmerz nichts anzufangen ist, dass man ihn aber ebenso wenig auf sich beruhen lassen kann.« (Christian Grüny) Der Umgang mit dem chronischen Schmerz sagt viel über die Schieflage der modernen Medizin aus und darüber, in welcher Gesellschaft wir leben. Es gibt hier gegenwärtig zwei Tendenzen. Die eine zielt darauf ab, den Schmerz als etwas grundsätzlich Überwindbares und Vermeidbares darzustellen. »Schmerzen müssen nicht sein« – so lautet das eingängige Credo. Die andere betrachtet den Schmerz als ein rein kognitives Phänomen und überlässt es dem Einzelnen und seiner richtigen Einstellung, den Schmerz in seine Schranken zu weisen. Der Patient wird also mit seinem Schmerz alleingelassen, weil er selbst daran schuld ist, wenn es ihm nicht gelingt, zu einer solchen Einstellung zu gelangen. Beide Tendenzen sind in sich problematisch und werden dem Phänomen Schmerz nicht gerecht. Warum das so ist, soll in diesem Kapitel näher aufgezeigt werden. Der Stachel
Das Besondere des Schmerzes liegt darin, dass er von Anfang an zwei Aspekte in sich birgt, die nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können. So ist der Schmerz einerseits eine Sinneswahrnehmung, andererseits – und untrennbar damit verknüpft – ein Affekt. Man kann vom Schmerz nicht sprechen, ohne ihn zugleich als das Widrige anzusprechen, als das, was einen berührt, bewegt, bedrängt und was man unbedingt weghaben will. Der Schmerz ruft einen Affekt hervor und stellt sofort eine Motivation her, nämlich die, ihn schleunigst loszuwerden. Er ist wie ein Stachel, der gerade dadurch charakterisiert ist, dass er stört und in dieser Störung so lange keine Ruhe gibt, bis er entfernt wird. Pendant zum Schmerz ist der Schrei: Der Schmerz lässt uns aufschreien, er kann den Menschen nicht gleichgültig lassen. Insofern sind Schmerzen nichts, womit man ganz abgeklärt und nüchtern umgehen kann. Christian Grüny hat den Schmerz treffend als »Inbegriff des Widrigen«1 beschrieben. Wo es um Patienten geht, die chronische Schmerzen haben, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht sagen, dass sie lernen sollten, sich mit ihrem Schmerz anzufreunden. Es ist für den Schmerz geradezu konstitutiv, dass man sich nicht mit ihm versöhnen kann, weil in der Erfahrung des Schmerzes unweigerlich der Impuls zu seiner Aufhebung verankert ist. Um Patienten mit ständigen Schmerzen zu helfen, gilt es anzuerkennen, dass der Schmerz immer das Widrige ist und bleibt. Das Getroffenwerden
Das Dramatische am Schmerz ist seine tyrannische Erscheinung. Meist ohne große Vorankündigung bricht er ein in die Welt und macht sich in ihr breit. Wie der Arzt, Psychologe und Philosoph Frederik J. J. Buytendijk sehr schön herausgearbeitet hat, tritt der Schmerz nicht einfach auf, der Mensch wird vielmehr vom Schmerz getroffen.2 Mit dem Schmerz macht man die Erfahrung des Getroffenwerdens und damit des Ausgeliefertseins. Ab dem Moment, da der Schmerz da ist, okkupiert er alles. Er duldet keinen Freiraum, er zwingt sich dem Menschen radikal auf und lässt ihm, wie Grüny dies ausdrückt, keinerlei Rückzugsmöglichkeit.3 Insofern ist der Schmerz ein Tyrann. Er tyrannisiert das Leben, weil er keinen anderen Gedanken erlaubt als den Gedanken an ihn. Das führt dazu, dass der Schmerz alles unterbricht, was man bis dahin getan hat und woran einem bis dahin gelegen war. Der Schmerz stellt einen Einbruch dar, ungeachtet dessen, wer wir sind, was wir wollen oder wie wir unser Leben führen – plötzlich ist er da, reißt das Leben auseinander und nimmt alles mit sich. Der Schmerz hat somit etwas Totalisierendes. Er lässt den Menschen im Moment des Schmerzhabens gefangen sein und unterbricht damit jäh die Bezüge zur Außenwelt.4 Der Schmerz verunmöglicht die Kontaktaufnahme zur Welt, bringt die alltäglichen Vollzüge zum Stillstand, lässt keinen Gedanken an irgendeine Zukunft zu und reduziert das Sein auf ein Sein-im-Schmerz,5 auf ein Sein, das nichts anderes kennt und sich mit nichts anderem in Beziehung setzen kann als allein mit seinem Schmerz. Dadurch stößt der Schmerz den Menschen aus seiner Unbekümmertheit heraus und lässt ihn vergessen, dass das Leben auch unbeschwert sein kann. Er macht den Moment zu etwas Exorbitantem, zu etwas, was zur absoluten Rebellion aufruft. Die Rebellion gegen den Schmerz ist so laut, dass in ihr nichts anderes von ähnlicher Bedeutung sein kann. Daher hat der Schmerz etwas von einer absoluten Unterbrechung des Lebens. Der Schmerz lässt den Menschen zudem etwas spüren, was dieser nur schlecht aushalten kann, nämlich ein Wesen zu sein, das nicht etwas tut, sondern dem etwas widerfährt. Der Schmerz ist wohl das dramatischste und totalisierendste Widerfahrnis, das der Mensch erleben kann.6 Er negiert das Subjekt, er fragt nicht danach, wer wir sind. Er stellt unsere Autonomie so radikal infrage, dass er als massive Bedrohung empfunden wird, als Bedrohung der eigenen Freiheit, als Bedrohung des eigenen Selbst, als Bedrohung aller Zukunft.7 Der Schmerz verleiht dem Menschen das Gefühl des Ausgeliefertseins, weil er ihm vor Augen führt, dass es unmöglich ist, Zuflucht vor ihm zu finden. Sich dem Schmerz ausgeliefert zu fühlen, stellt eine Provokation dar, weil es durchstreicht, was uns als Menschen naturgemäß wichtig ist: Selbstgestalter unserer Welt zu sein. Im akuten Moment des Schmerzes fühlt man sich ihm gegenüber derart ohnmächtig, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als das passive Moment des Lebens leidvoll zur Kenntnis zu nehmen. Vereinsamung
Schmerz und Einsamkeit sind eng miteinander verknüpft, und zwar in einem doppelten Sinn. Zunächst einmal ist der Schmerz etwas, was man nur selbst spüren kann. Letztlich ist er allen Bemühungen zum Trotz nicht wirklich vermittelbar. Er ist eine Erfahrung, die man notwendig alleine macht und die vom anderen zwar verstanden, aber nicht nachempfunden werden kann. Der Schmerz entzieht sich der Mitteilbarkeit in einer Weise, wie es das Leid nicht tut. Leid kann man versuchen zu erklären, man kann Gründe für es angeben, es rationalisieren; der Schmerz dagegen ist so fundamental, dass man ihn nur schwer in Worte kleiden kann. Man kann ihn umschreiben, aber zu fassen bekommt man ihn damit nicht. Schmerzen zu haben macht somit schon dadurch einsam, dass man nicht viel darüber sagen kann. Bei manchen Patienten führt der Schmerz sogar zum Verlust ihrer Sprachfähigkeit. Der Schmerz macht sprachlos und diese Sprachlosigkeit steht in einem krassen Kontrast zu der Wirkmächtigkeit, die ihm zukommt. Aber nicht nur die Unkommunizierbarkeit des Schmerzes lässt ihn zu einem vereinsamenden Phänomen werden. Es sind mehr noch seine totalisierenden Züge, die den Menschen geradezu dazu zwingen, sich von der Welt abzuwenden.8 Der Schmerz verleitet dazu, sich zurückzuziehen; gerade der Schmerzpatient hört irgendwann auf, sich den Mitmenschen erklären zu wollen, weil der chronische Schmerz die Normalität des Seins außer Kraft setzt und es nicht zulässt, ein geregeltes Leben wie »die anderen« zu führen. Der Schmerzpatient ist häufig jemand, der außerhalb des für alle anderen Menschen üblichen Rhythmus leben muss. Er erlebt sich daher jeden Tag als fremd, als anders als die anderen. Er ist gezwungen, einen Rhythmus zu (er)finden, in dem er selbst mit seinem Schmerz leben kann, jenseits der Regeln, die für alle anderen gelten. Der Schmerzpatient kann sich also nicht nahtlos in den Erwartungshorizont einer auf das Funktionieren ausgerichteten Gesellschaft einfügen. Er empfindet sich vielmehr als dysfunktional, weil er mit seiner Art zu leben aus dem Raster fällt. Damit wird dem Schmerzpatienten zugleich die Chance genommen, an den sozialen Prozessen zu partizipieren, was die gesellschaftliche Ausgrenzung nach sich zieht – angefangen von der Gefährdung seines Arbeitsplatzes bis hin zur ökonomischen Marginalisierung, Prekarisierung und Exklusion. Mit zu dieser Vereinsamung durch den chronischen Schmerz bei trägt sein infrage stellender Charakter. Der Schmerz stellt alles infrage. Er stellt die Zukunft infrage: Wie soll es weitergehen mit diesem Schmerz? Wie lange kann man mit ihm bestehen? Und: Was hat es für einen Sinn, immer wieder Schmerzen zu haben? Warum gerade ich? Warum kann ich nicht leben wie die anderen? Warum nicht so wie vor dem Auftreten dieser Schmerzen? Der chronische Schmerz lässt am Sinn zweifeln, lässt ver-zweifeln. Er lässt verzweifeln, weil er am Menschen nagt. Er nagt an seiner Persönlichkeit, die sich verändert, er nagt an der Reibungslosigkeit der Vollzüge, er nagt vor allem am Selbstwertgefühl. Der Schmerz vermittelt dem Menschen das Gefühl der Wertlosigkeit, weil dieser, bedingt durch den Schmerz, die Kriterien scheinbar nicht erfüllen kann, die für ein gelingendes Leben notwendig erscheinen. Der Mensch verliert das Gefühl, wertvoll zu sein, weil er aus der Ordnung he­rausfällt und weil sich keine neue Ordnung abzeichnet, die ihn aufnimmt. Die subjektive Erfahrung in einer Medizin, die auf Objektivierbarkeit setzt
Alle dargelegten Phänomene des Schmerzes, wie sie von zahlreichen Denkern in der einen oder anderen Nuance bereits beschrieben worden...


Giovanni Maio, Prof. Dr., geb. 1964, Studium der Medizin und Philosophie in Freiburg, Straßburg und Hagen. Seit 2005 Professor für Bioethik, seit 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz wie auch die Bundesregierung und die Bundesärztekammer.


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