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Martin / Das Schweizerische Institut für Auslandforschung / Schweiz. Institut für Wendezeiten

Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung, Band 46

E-Book, Deutsch, Band 46, 204 Seiten

Reihe: Sozialwissenschaftliche Studien des Instituts für Auslandsforschung

ISBN: 978-3-03810-490-2
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



In unserer Wahrnehmung beschleunigt sich die Welt immer mehr. Nicht nur politische und wirtschaftliche Entwicklungen laufen schneller und vermehrt ins Ungewisse, auch die wissenschaftlich-technologischen Revolutionen verändern die moderne Wirklichkeit auf mitunter dramatische Weise. Wohin dies alles führen wird und welche Risiken und Krisen dabei zu beachten sind, haben kompetente Redner thematisiert und diskutiert.
Mit Beiträgen von Daniel Kehlmann, Sir Paul Collier, Lars Feld, Tobias Straumann, Bill Emmott, Jerome Powell, Robert Kagan, Karin Keller-Sutter, Ai Weiwei, Christoph Franz und Peter Maurer.
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Wie Literatur die Welt spiegelt – ungeordnete Bemerkungen über literarische Gattungen
DANIEL KEHLMANN
Veranstaltung vom 5. März 2019 I
Gattungen sind keine willkürlichen Erfindungen. Es gibt sie schon lange, es wird sie geben, solange Menschen Sätze zu Geschichten zusammensetzen. Wer von ihnen spricht, muss bei der ältesten, der ursprünglichsten anfangen, beim Gedicht. Das Gedicht stammt direkt vom Zauberspruch ab, von den ältesten Versuchen unserer Vorfahren, das Chaos der Welt zu bannen und zu meistern. Ein Gedicht ist etwas Innerliches. Es handelt davon, wie es sich anfühlt, ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Moment zu sein, sogar wenn es von Dingen der Aussenwelt handelt, handelt es eigentlich davon, wie es ist, die Person zu sein, die diese Dinge in einem Moment eines bestimmten begrenzten Menschenlebens wahrnimmt. Ein «objektives» Gedicht wäre ebenso ein Unding wie ein «allgemeingültiges». Ein Gedicht, das Ereignisse berichtet, wäre schon keines mehr, es wäre, wenn es lang ist, ein Epos, wenn es kurz ist, eine Ballade. Das Gedicht zeigt den Menschen, der darin spricht, als Vereinzelten in der Welt. Und es zeigt ihn dabei, sich Rechenschaft abzulegen. Deshalb ist es kein Wunder, dass die klassische deutsche Literatur mehr grosse Gedichte als grosse Romane hervorgebracht hat. Die Literatur deutscher Sprache im 18. und 19. Jahrhundert ist ein Produkt der protestantischen Pfarrhäuser. Es ist immer wieder verblüffend, wie viele romantische Poeten Pastorensöhne waren – aber was ist denn der Protestantismus, wenn nicht eben dies: die Idee, dass du auf die Zwischenhändler verzichten kannst? Dass du alleine vor Gott stehst, der dich bis ins Innerste kennt und dem du dich zu erklären hast. Für das protestantische Pfarrhaus ist die Gesellschaft eine unnötige Ablenkung von der bitter notwendigen Seelenerforschung, die die Aufgabe jedes einzelnen Menschen ist. Man verliert sich nicht in der Welt. Man hat bei sich zu sein. Das eben ist die fundamentale Wahrheit des Gedichtes. II
Aber es gibt eben nicht nur den Einzelnen, es gibt auch die Gesellschaft. Es gibt Cocktailpartys, Business Meetings und Parlamentssitzungen. Es gibt also Politik, und es gibt Familien, mit all ihren Streitigkeiten und zähen Verwicklungen. Was wäre der Mensch ohne sie? Die Wahrheit des Gedichtes ist noch nicht die ganze. Die Welt der Menschen ist eine des Mit- und Gegeneinanders, eine Welt des Strebens und Scheiterns, eine Welt, wo wir einander helfen und einander im Weg stehen, eine Welt der Verstrickungen! Davon spricht der Roman. Die beiden Pole Politik und Familie überspannend, ist er eine bürgerliche Gattung, dessen grosse Zeit nicht zufällig mit dem Siegeszug der Demokratie anhebt und daher auch in Frankreich und England stattfindet, während der deutsche Sprachraum unterdessen eine Hochzeit der höfischen Form erlebt, nämlich des Dramas. Drama und Roman, beide handeln davon, dass Menschen einander im Weg stehen, ohne dass eine Seite dabei eindeutig recht oder unrecht haben müsste. Ein religiöser oder politischer Fanatiker könnte theoretisch ein gutes Gedicht schreiben, denn auch ein zutiefst in Ideologie Verstrickter könnte in ergreifenden Worten beschreiben, wie es ist, eine Liebe zu verlieren oder eine Blume oder Wolke zu sehen. Aber einen gelungenen Roman schreiben, in dem per definitionem jede einzelne Figur auf ihre Art recht haben, unser Mitleid erregen und unser Verständnis besitzen muss – das kann er nicht, und könnte er es, er wäre kein Fanatiker. Der Roman ist zugleich die Form der Empathie wie auch der Ironie – in seiner klassischen Ausprägung stellt er die Verwebungen der Gesellschaft dar und relativiert so jeden absoluten Wahrheitsanspruch. Und das Theaterstück? Ich habe es eine höfische Form genannt – dass dem so ist, hat schon mit seinen Produktionsbedingungen zu tun. Ein Gedicht zu schreiben kostet weder viel Zeit noch Geld, man braucht nicht einmal Papier und Bleistift dafür, es lässt sich im Kopf machen. Für die Abfassung eines Romans braucht es immerhin einen einzelnen Menschen und einige Monate oder Jahre, das kostet nicht die Welt, aber es ist doch ein Luxus, den man sich leisten können muss; ebenso sind der Druck, die Herstellung, der Vertrieb eines Romans zwar nicht umsonst, aber auch nicht kostspielig verglichen mit anderen Formen – für ein Stück aber braucht es einen Mäzen. Selbst kommerzielles Theater hat Investoren und Förderer; Theater ist nicht denkbar ohne einen reichen Fürsten im Hintergrund, so ist es entstanden, und in demokratischen Umständen wird diese Rolle vom Steuerzahler übernommen – das Gedicht ist eine ganz und gar individuelle, der Roman eine demokratische, das Theater eine höfische Form, es benötigt Ermöglicher. Wie der Roman, so ist auch das Drama eine Form, in der niemand ganz recht und niemand ganz unrecht hat, aber im Roman führt diese Haltung zu einer gewissen Abgeklärtheit, einer ironischen Distanz des Erzählers. Im Drama führt sie vielmehr dazu – und nichts anderes besagt das Wort dramatisch in der Umgangssprache –, dass wir den Konflikt miterleben und -erleiden. Das Drama lässt uns die Menschenwelt als ein aus Widerstreit erbautes Gebilde erleben; ein Stück erzählt eine Geschichte gewissermassen immer von einem Konflikt zum nächsten, ohne sich mit Äusserlichkeiten aufzuhalten, die Schönheit der Natur, die physische Textur der Aussenwelt ist ihm gleichgültig, jede Szene auf einer Bühne ist ein Streit. Es muss kein offener oder lauter Streit sein, er kann auch versteckt und im Verborgenen stattfinden, aber es bleibt der seltsame Umstand, dass jeder Moment in einem Theaterstück, der nicht einen Konflikt entweder exponiert oder weiterentwickelt, schlicht und einfach langweilig ist. Das gilt für Schnitzler, Ibsen und Shaw ebenso wie für Ionesco, Beckett und Yasmina Reza, es ist eine Regel, von der sich nicht abweichen lässt, und tut man es doch, ist alles, was auf der Bühne geschieht, im gleichen Moment leblos, blass, tot. III
Ich merke es auch an mir selbst. Wenn ich an einem Roman schreibe, und die Arbeit geht gut voran, fühle ich mich seltsam ausgeglichen, ich fühle mich im Griff einer ironischen Klarheit, ich fühle mich den Menschen gleichzeitig nahe und fern; einen Roman schreiben ist, wenn es gut läuft, ein angenehmer Zustand. Wenn ich an einem Theaterstück schreibe, und es geht gut, bin ich nervös. Ich fühle mich reizbar und angegriffen, ich denke in Konflikten. Es ist kein Zufall, dass wir in der Literaturgeschichte so viele Beispiele von Dramatikern haben, die, um es vorsichtig zu sagen, schwierige Leute waren – von Alkoholikern, von Streithähnen, von Menschen, die ständig hilflose Beute ihres Zorns wurden. Die Form des Dramas bringt es mit sich, dass es nicht angenehm ist, ein Dramatiker zu sein. Mir persönlich sind meine Stücke ebenso wichtig wie meine Romane, aber was den tatsächlichen alltäglichen Prozess des Schreibens angeht, so bin ich lieber der, der an einem Roman, als der, der an einem Stück arbeitet. IV
Der Lyriker und der Romancier sprechen direkt. Die Stimme, die wir hören oder lesen, ist die Stimme des Autors – sie mag verstellt sein, aber sie gehört ihm. Der Dramatiker wie auch der Autor eines Drehbuchs sprechen durch andere, nämlich die Schauspieler. Aber hier endet auch schon die Gemeinsamkeit. Film und Drama sind kollaborative Formen, die nicht eine Person allein, sondern eine Gruppe realisiert, aber der Film ist kein fotografiertes Theater! Er unterliegt anderen Gesetzen und steht dem Roman näher als dem Theaterstück. Überhaupt, der Film. Im Augenblick sieht es ja so aus, als ob er die Gattung ist, die in der zeitlich ausgestreckten Form der Fernsehserie alle anderen Gattungen vertilgend überrollt. Wir alle sehen mehr Filme als wir lesen oder ins Theater gehen. Wir alle sind mit Filmen aufgewachsen und, ob wir es wollen oder nicht, stärker von Filmen geprägt als von Büchern, Dramen, Erzählungen, Gedichten. Für mich gilt das in besonders starker Weise, auch aus familiären Gründen: Mein Vater war Regisseur, meine Mutter ist Schauspielerin, und die Prägung erfolgte nicht nur in äusserlicher, sondern auch innerlicher Weise. Ich war etwa fünf Jahre alt, als ich den Tod meiner Mutter erlebte. Nicht in Wirklichkeit, Gott sei Dank, sie befindet sich bei guter Gesundheit, sondern in einem Fernsehfilm. Die Figur, die meine Mutter darstellte, starb keineswegs vor meinen Augen, ihr Ableben wurde nur von einer anderen Figur gegen Ende des Films kurz erwähnt, und vermutlich hatten auch deswegen meine Eltern nicht daran gedacht, dass etwas so Fernes und Abstraktes mich tatsächlich würde erschrecken können – aber es erschreckte mich, und zwar sehr. Meine Mutter sass neben mir auf dem Sofa, und dennoch regte ihr Tod in der Handlung des Films mich so sehr auf, dass ich gar nicht mehr zu mir finden konnte vor Weinen und Verunsicherung. Meine Mutter ist ein einfühlsamer Mensch, aber nun wusste sie doch nicht recht, wie sie umgehen sollte damit, dass sie ihren kleinen Sohn zu trösten hatte über ihren eigenen Tod – in einem Moment, wo sie doch gesund und munter neben ihm sass. Und auch ich selbst begriff natürlich, dass das alles keinen Sinn hatte, dass meine Traurigkeit völlig unangebracht war und dass es bloss um eine Fiktion ging. Und doch konnte ich mir nicht helfen und weinte hemmungslos. – Diese Geschichte ist vielleicht symptomatisch für viele Dinge – ich weiss nur nicht genau, wofür. Für das komplizierte Verhältnis von Fiktion und Leben womöglich, für die Seltsamkeit des Schauspielerberufs, und sicher auch für die eigentümliche Lage eines Kindes, dessen Eltern im Illusionsgewerbe tätig sind....


Martin Meyer (*1951), Dr. Dr. h. c., Studium der Geschichte, der deutschen Literatur und Philosophie an der Universität Zürich. 1992–2015 Leiter der Feuilleton-Redaktion der NZZ.
Das Schweizerische Institut für Auslandforschung (gegründet 1943 auf Anregung des Bundesrats) mit Sitz in Zürich ist ein politisch und wirtschaftlich unabhängiges Kompetenzzentrum für Wissensvermittlung und Hintergrund. Es wirkt durch öffentliche Veranstaltungen, insbesondere Vorträge, nach aussen. Es behandelt aktuelle Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur und wählt dafür qualifizierte und international angesehene Referenten.


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