Martinowitsch | Mova | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Martinowitsch Mova

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-86391-163-8
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Minsk im Jahr 4741 chinesischer Zeitrechnung, eine Provinzmetropole im Nordwesten des chinesisch-russischen Unionsstaates. Trotz drakonischer Strafen gelangt immer wieder eine Droge ins Land: Mova. Wer die Mova-Briefchen liest, versteht kaum ein Wort, erlebt aber beglückende Rauschzustände. Chinesische Triaden, belarussische Untergrundkämpfer und die staatliche Suchtmittelkontrolle sind in den Drogenkrieg verstrickt. Oder geht es eigentlich um etwas ganz anderes?

Viktor Martinowitsch (auch: Victor Martinovich), 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Er schreibt regelmäßig für ZEIT online. Martinowitsch wurde bekannt mit dem Roman 'Paranoia' (Voland & Quist 2014), der in Belarus nach Erscheinen inoffiziell verboten wurde und 2013 auch auf Englisch erschienen ist. 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis.
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Dealer
»Es ist das Gesicht, verstehst du? Ausdruck, Augen, Stirn. Pass auf.« Ich stützte mich auf den Tresen und beugte mich vor, stieß dabei gegen mein Glas, dass das Bier aufspritzte, fing es aber ab, bevor es umfallen konnte – so besoffen war ich noch nicht. »Also, schau in diese blauen Augen, mein Freund. Kannst du glauben, dass ein Mensch, der so grundanständige Augen hat, mit Drogen handelt?« Der Barmann lächelte und sprach mir nach: »Mi-di-lo-ge-han-del.« Er hatte es nicht so mit dem »r«. Kam wohl aus dem kantonesischen Süden von China. Keine Ahnung, ob er überhaupt etwas kapiert hatte. Mit den Chinesen ist das eh so eine Sache. Du weißt nie, wann sie dich verstehen und wann sie nur so tun, als ob sie dich verstehen. Und schon gar nicht, wann sie dich nicht verstehen und wann sie nur so tun, als ob sie dich nicht verstehen. Dieser hier sah aus, wie ein Barmann in einer chinesischen Bar mitten in Warschaus Chinatown in unserem gesegneten Jahr 4741 (dem Jahr des Schweins) auszusehen hat. Total unbeteiligt nämlich. Er trug Big Star-Jeans und ein Le Coq-Poloshirt, dabei hätte Zara China besser zu seinem Persönlichkeitsprofil gepasst. Der oberste Kragenknopf war geschlossen. Schon da hätte ich misstrauisch werden müssen. Vorsicht vor zugeknöpften Poloshirtträgern. In die Bar zu gehen und sich mit Bier abzufüllen ist bestimmt nicht das Erste, was man tun sollte, wenn man sich eben rund einhundert Trips im Gesamtwert von siebentausend Neuen Yuan besorgt hat. Schon gar nicht, wenn du auf dem Sprung zum Zug bist, in dem dich eine Stunde später der Zoll, Spürhunde, »Spürhunde«, Scanner und die Staatliche Suchtmittelkontrollbehörde erwarten. Aber ich habe da so meine Methoden. Außerdem ist es schon Tradition. Nach jedem erfolgreichen Ankauf gehe ich ins finsterste Chinatown und gönne mir zwei Triumphgläser Bier. Diesmal waren es halt ein paar mehr als zwei geworden, ja, verdammt. Deshalb konnte ich dann auch die Klappe nicht halten. »Wie heißt du?«, fragte ich den Barmann zum vierten Mal. »Iwan. Wanja.« Er lächelte höflich. Sie sagen immer, dass sie Wanja heißen, wenn sie einen Russen vor sich haben. »Und wie heißt du wirklich?« Er sagte etwas, das ich wie immer nicht einmal wiederholen, geschweige denn mir merken konnte. Was wollte ich auch mit seinem Namen? »Noch eins, ein Dunkles«, bestellte ich. Das letzte Glas war irgendwie schon leer, hatte ich gar nicht mitbekommen. Nein, wie gesagt, ich war nicht betrunken! Früher war ich nach einem erfolgreichen Ankauf immer zu den Türken gegangen und hatte eine Shisha mit ordentlich Ganja weggeraucht. Warschau ist um einiges attraktiver geworden, seit sie Gras legalisiert und Döner verboten haben. Aber Shishas gehen angeblich auf die Gesundheit. So habe ich halt die Triumphbiertradition begründet. Ihr fragt jetzt vielleicht, ob ich auch mal probiert habe, was ich da weiterverkaufe. Bin ich bescheuert? Die Suchtmittelkontrolle erkennt einen Suchti doch sofort! Das prägt sich ein. Wer im Stoff steht, weiß, was ich meine. Wer nicht, braucht eh nicht weiterzufragen. »Das Gesicht, da …« Ich wollte das Gespräch mit dem Barmann fortsetzen, das er, wie es schien, gar nicht aufgenommen hatte. »Da fließt doch alles ein, was du tust. Hier, pass auf, ich hab grad ein Bierchen gezischt. Was ein anständiger Physiognomiker ist, der sieht in meiner Visage auf Anhieb den Bierdurst. Und die Physiognomiker bei denen erst …« Ich wiegte anerkennend den Kopf. Der Chinese hatte jegliches Interesse an meinen Ausführungen verloren und sich dem Netvisor zugewandt, auf dem eine Talkshow lief oder die Wettervorhersage – in den chinesischen Programmen erkennst du das nie so genau. Ich musterte mich kritisch im Spiegel hinter dem Tresen: Persönlichkeitsprofil Marks & Spencer mit einer Spur Tommy Hilfiger-Romantik. Stahlblaue Augen. Jungenhaft rosige Wangen. Student in den höheren Semestern oder Jungdozent. Vielleicht auch Priesteranwärter im Hugo Boss-Tempel. Oder Verkäufer in einer Boutique. Kurzum, eine Assoziationskette aus ausnahmslos positiven, ansprechenden Berufen zum Wohle der Gesellschaft. Bloß nicht lächeln. Ich hätte das Lächeln der besonders Schlauen, heißt es. Das passt nicht zu blauen Augen und rosigen Wangen. »Es ist nämlich so: Ich habe ein Musterschülergesicht. Ich weiß das. Sie wissen das. Die Zollies sehen das Gesicht eines braven, lauteren Menschen, der seinen Brand in einem Warschauer Bierschuppen gelöscht hat – alles klar, keine weiteren Fragen. Macht man eben so in der Welt dort. Wer tatsächlich vor ihnen steht, bleibt schön unter uns beiden. Verstehst du, Wanja, altes Haus, mein Gesicht ist mein größter Trumpf! Weil sonst hätten sie mich bei der ersten Kontrolle am Arsch! Und du willst mir erzählen …« Das alte Haus ignorierte mich beharrlich weiter, aber ich wollte seine Aufmerksamkeit. »In meinem ganzen Leben, Wanja! Nicht ein einziges Mal geschnappt! Und ich fahre seit fünf Jahren alle drei, vier Monate. Nicht ein einziges Mal!« Da bemerkte ich plötzlich, dass ich mich gleich einpissen würde. Ist schon ein Kreuz mit diesem Bier – immer lässt es dir erst ausrichten, es wäre Zeit für den Klogang, wenn du nicht mehr hingehen kannst, sondern rennen musst. Ich also losgerannt und – zum ersten Mal überhaupt an diesem Tag! – meinen Rucksack mit den hundert Trips im Gesamtwert von siebentausend Yuan unbeaufsichtigt stehen gelassen. »Bin ja gleich zurück«, habe ich mir noch gesagt, als ich die Klotür schon hinter mir geschlossen hatte. Hier in Warschau kann ja eh keiner was anfangen mit diesen hundert Trips. Hier kosten sie ja nichts. Also nichts heißt: so gut wie nichts. Keine fünfzig Euro alles zusammen. Aber drüben, daheim, in Minsk, in Chinesisch-Russland, kriege ich dafür, sechs-, ach was, locker siebentausend Yuan, und für einen Neuen Yuan gibt es bekanntlich 1,36 Euro. Glückwunsch, Alter, das nenne ich einen guten Schnitt! Jetzt wollt ihr natürlich wissen, wo ich eingekauft habe. Und denkt, ich erzähle euch nichts. Aber ich erzähle es eben doch, in allen Einzelheiten. Geht doch hin und kauft euch selber was! Und versucht es einzuführen! In Brest sacken sie euch ein, stecken euch bis zur Gerichtsverhandlung für zwanzig Tage in den Knast zu den verlausten westeuropäischen Migranten, die ins Reich der Mitte drängeln, um sich ein paar Tausend Euro für Gallina Blanca-Tütensuppen zu verdienen, damit sie im Alter was zu beißen haben. Das Gericht wird euch dann als Dealer verurteilen, nichts anderes bin ich nämlich, wie ihr inzwischen wohl kapiert habt, und über euch zu Recht die Todesstrafe verhängen, oder es nimmt an, ihr hättet euch für den Eigenbedarf eingedeckt, dann bekommt ihr sechs bis zehn Jahre verschärften Arrest. Also schreibt ruhig mit, bitte sehr! Wenn du in Warschau aus den Bahnhofskatakomben kommst, siehst du den Kulturpalast-Wolkenkratzer, in dem jetzt lauter Boutiquentempel sind (ich kaufe mir immer was am Südeingang, bei der Hermès-Kapelle. Bei ihrem letzten Clip »Temptation is salvation« sind mir die Tränen gekommen, ganz ehrlich. So viel Leidenschaft und dann am Ende das Gefühl, dir sind sämtliche Sünden vergeben! Das ist echt das Allerheiligste! Diese aufrichtigen Menschen sind wirklich das Geld wert, um das sie dich bitten, damit du blasser Niemand dich ihren Ikonen nähern darfst. Die Kohle für die Erlösung durch den Kauf eines kompletten Hermès-Anzugs habe ich mit meinen Minsker Drogengeschäften natürlich noch nicht zusammen, aber ich kaufe mir die Vergebung im Kleinen: Knöpfe, ein Kuli, sogar eine Krawatte habe ich, auch wenn ich sie zu nichts anderem tragen kann. Ich glaube, dass sie gut fürs Karma ist. Und dass gut gekleidete Menschen wie in der Reserved-Werbung auf jeden Fall in den Himmel kommen. Erlösung durch Shopping ist die Top-Religion, auch wenn sie bei uns im Reich der Mitte kaum verbreitet ist). Aber egal. Also, du gehst durch den Tempel zur McDonald’s-Ranch mit den weidenden Sojastieren und der Schockerwerbung »Und wie siehst du nach dem Tod aus?« mit dem taufrischen Toten im Sarg, knackig-frisch wie das Plastikgemüse und die ewigen Pommes. Coole Idee, die Kunden, die sich nur um ihr Aussehen sorgen, mit dem Gedanken zu ködern, die...


Viktor Martinowitsch (auch: Victor Martinovich), 1977 in Belarus geboren, studierte Journalistik in Minsk und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius. Er schreibt regelmäßig für ZEIT online. Martinowitsch wurde bekannt mit dem Roman "Paranoia" (Voland & Quist 2014), der in Belarus nach Erscheinen inoffiziell verboten wurde und 2013 auch auf Englisch erschienen ist. 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis.


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