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E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Mayr Unter Bombern

Fritz Walter, der Krieg und die Macht des Fußballs

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-7453-1109-9
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Fritz Walter wäre am 31. Oktober 2020 100 Jahre alt geworden. Unvergessen, wie er 1954 in Bern die deutsche Fußball-Elf als Kapitän zum WM-Titel führte. Was kaum einer weiß: wie Walter den Zweiten Weltkrieg überlebte, während 38 andere Nationalspieler starben. Als Obergefreiter des Heeres und später als Unteroffizier der Luftwaffe entging er mehrmals nur knapp dem Tod.

Andere Spieler hatten weniger Glück und weniger mächtige Fürsprecher. August Klingler etwa musste 1944 trotz anderslautendem Befehl an die Ostfront. Er wäre 1954 ebenfalls zur Legende geworden. Der Journalist Stefan Mayr erzählt vom Wahnwitz des Krieges und von der Macht des Fußballs. Fesselnd für alle Generationen. Nicht nur für Fußballfans.
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HARTE SCHULE IN DER RINNE
»Die heftigsten Zweikämpfe spielten sich in der Rinne ab. Der Fritz spielte allein gegen uns, gegen uns zwei oder drei. Der dribbelte uns aus, wie er wollte. Bei ›zehn‹ zog er wieder ab, mit dem Fahrrad, und ließ uns streitend zurück.« (Rudi Michel, Journalist aus Kaiserslautern) Nach seinem ersten Spieltag auf dem Betzenberg verbringt Fritz mehr Zeit denn je zwischen den Kanaldeckeln von Kaiserslautern. Er versucht, die Tricks der FVK-Männer nachzuahmen. So lange, bis er sie beherrscht. Immer und immer wieder, jeden Tag, jede Woche. Sobald er mit dem Schulranzen auf dem Rücken das Haus Richtung Barbarossa-Volksschule verlässt, hat er einen Ball am Fuß und rennt mit ihm durch die Gassen.6 Schon vor dem Unterricht beginnt das Spiel. Der Schlusspfiff ist die Schulklingel. In der Pause wird weitergekickt. Und nach Schulschluss auch. Oft, bis es dunkel wird. Hausaufgaben? Egal. Fritz Walter mag vielleicht der kleinste und schwächste »Kanälcher« sein. Aber bald ist er der beste weit und breit. Das bleibt auch den Fußballvereinen nicht verborgen. Sowohl der VfR als auch der FVK wollen Fritz in ihre Schülermannschaft aufnehmen. Die Walters entscheiden sich für den FVK. Weil der Fritz das will. Aber auch, weil seine Mutter ein Paar Fußballstiefel für den Fritz verlangt, und für die hat der VfR kein Geld. Und ein bisschen, weil die Mama als Berlinerin den »feineren« FVK gegenüber dem Arbeiterclub VfR bevorzugt.7 In den Arbeitervierteln der Stadt nennen sie den FVK nur »die Schnäker«. Die Schnösel, die feinen Pinkel. Weil die denken, sie sind was Besseres. Fritz ist das egal. Er will so gut werden wie die Stürmer von den »Ersten Herren« des FVK. Im Training bringen sie ihm mannschaftsdienliches Spiel bei. Und Taktik und Disziplin. Bei seinem ersten Einsatz in der Schülerelf ist Fritz noch keine acht Jahre alt. Der schmächtige Neuling wird als rechter Verteidiger aufgestellt. Das ist gar nicht nach dem Geschmack des wilden Straßenfußballers. Der ist zwar außerhalb des Spielfeldes ein stiller, schüchterner, zurückhaltender Typ. Aber auf dem Feld sieht man ihn voller Energie, Selbstvertrauen und Frechheit. Hier hält ihn nichts zurück, gar nichts. An einem Ostertag liegen sie gegen FK Primasens mit 0 : 4 zurück. Da zieht es den Walter Fritz unwiderstehlich nach vorne. Ab in den Sturm. Und tatsächlich schießt er den Anschlusstreffer zum 1 : 4-Endstand. Immerhin. Voller Stolz über sein erstes Tor als Vereinsspieler geht er in die Kabine. Aber dort prasselt eine Strafpredigt auf ihn ein: »Aus dir wird im Leben nie ein Stürmer!«, schimpft der Jugendleiter. Im Übrigen habe ein deutscher Bub gefälligst die Anordnungen eines Erwachsenen zu befolgen. Wo kämen wir da hin ohne Zucht und Ordnung!? Fritz muss viele weitere Spiele hinten in der Abwehr verbringen. So lange holt er sich sein Können fürs Toreschießen beim Beobachten der FVK-Männer und vor allem beim wilden Kicken in der Stadt. Fast jede Straße hat ihre eigene Mannschaft. Sie treffen sich auf dem »schiefen Plätzje«, auf dem »Maideberg«, hinter der Nähmaschinenfabrik Pfaff. Sie treten gegen zerbeulte Konservendosen, zusammengewickelte Stofflappen und Tennisbälle. Sie rempeln und halten, zupfen und zerren, schimpfen und schreien. Vor allem der flinke Fritz muss oft Fouls wegstecken. Eine harte, aber wichtige Schule. Wenn abends die Gasbeleuchtung angeht, werden die Kämpfe noch intensiver und noch härter. Die wirtschaftliche Situation in Kaiserslautern verbessert sich. Nach den dunklen Jahren des Krieges und der Inflation beginnen die Leute, ihr Leben wenigstens ein bisschen zu genießen. Sie wollen Spaß haben. Und haben wieder Geld, um »beim Walter« einen trinken zu gehen. Das Leben der Walters verläuft ruhig, angenehm, friedlich. 1929 darf Fritz auch beim FVK erstmals offiziell auf Torejagd gehen. Als Rechtsaußen. Eigentlich will er ja Mittelstürmer spielen. Aber besser als nichts. Jetzt schießt er im Schnitt immerhin zwei Tore pro Spiel. 1931 wird der FVK in 1. FC Kaiserslautern umbenannt. Und beim Kanälches spielt der elfjährige Fritz jetzt mit seinen Brüdern Ludwig (9) und Ottmar (7). Sie sind gut, die Walters. Richtig gut. Abends, wenn die kleinen Brüder Lud und Ottes heimgehen und die Gegner von Fritz nicht länger veräppelt werden wollen, steigt er auf sein Rad und sucht sich weitere Kontrahenten. Er kurvt durch die »Fünftel« der Stadt. In Kaiserslautern gibt es keine Viertel, sondern Fünftel. Die Stadt ist in fünf Feuerlöschbezirke eingeteilt – jeder von ihnen hat Straßenschilder in seiner eigenen Farbe. Oft taucht Fritz Walter im weißen Fünftel auf. Bei der Kottenschule. Dort kicken die Brüder Ernst und Werner Liebrich mit ihrem Freund Rudi Michel ganz passabel herum. Häufig spielt Fritz allein gegen zwei oder drei. »Der dribbelt uns aus, wie er will«, ruft Rudi, der Älteste der chancenlosen Gegner. Nach jedem Tor vom Fritz muss er mit drei Fingern den schweren Kanaldeckel hochheben, damit Werner Liebrich den Ball aus dem Gully fischen kann. Beim zehnten Mal zieht Fritz wieder ab und lässt die Verlierer streitend zurück.8 Nach den Spielen sind die Straßenschuhe der Buben reichlich ramponiert. Die Liebrich-Brüder polieren ihre Treter zwar stets mit Bürste und Lappen, die sie in einem Kellerfenster versteckt haben. Aber so sehr sie auch schrubben und tun, sie können nicht alle Schrammen verbergen. Dann setzt es Schläge von der Mutter mit dem Teppichklopfer. »Aber die Tracht Prügel hält uns nicht davon ab, dem Ball hinterherzuspringen«, hielt Ernst Liebrich später fest.9 Irgendwann kaufen sich die Buben sogar ihren ersten eigenen Ball. In Säcken sammeln sie bei Bekannten und Verwandten Kartoffelschalen und verkaufen sie an Bauern. Das mühsam gesparte »Kartoffelgeld« legen sie zusammen und gehen damit zum Kaufhaus Wohlwert an der Ecke Kerststraße, Riesenstraße. Voller Stolz kommen sie mit ihrem ersten Gemeinschafts-Gummiball nach Hause. »Die Quetsch«, wie sie ihn nennen, wird gehütet wie eine Kristallkugel. Vor allem vor den Wachtmeistern müssen sie den Ball schützen. Die würden das kostbare Stück am liebsten beschlagnahmen und abstechen. Spielende Kinder sind nicht erwünscht auf den Straßen. Kickende schon dreimal nicht. Vielen Deutschen ist die »Fußlümmelei« verpönt als unwürdiger Sport der Engländer. Überhaupt wird die Stimmung in der Stadt immer schlechter und rauer. Die »Große Depression« erreicht auch die Pfalz. Viele Menschen verlieren ihre Arbeit, haben nichts mehr zu essen. Die demokratische Regierung in Berlin schafft es nicht, die Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen auf die Menschen zu lindern. Davon profitieren die Nationalsozialisten, es beginnt der Aufstieg der NSDAP. Immer öfter geraten nun auch auf den Plätzen und Straßen Kaiserslauterns die Anhänger der Parteien aneinander. Vor allem im Arbeiterviertel Kotten bekriegen sich Sozialdemokraten, Kommunisten und Nationalsozialisten. Nicht immer bleibt es bei Schlägereien, manchmal wird auch zur Waffe gegriffen. »Besonders an Wahltagen muss man mit allen möglichen Vorkommnissen rechnen«, berichtet Ernst Liebrich.10 Im Kopf des späteren FCK-Spielers, drei Jahre jünger als Fritz, brennt sich ein Bild ein: Sein Vater steht vor seiner Kottenschule. Mit einem blutroten Plakat, auf dem Hammer und Sichel leuchten. Um den besten Platz ringend, weil die Schule heute ein Wahllokal ist. Vaters Kontrahenten haben Poster mit drei parallelen Pfeilen. Andere nennen sich Zentrum. Und dann gibt es die Braunhemden. Mit braunen Krawatten, Capas oder Schirmmützen, Schulterriemen und Koppelschloss. Auf ihrem Plakat erkennt der junge Ernst ein Emblem, das ebenfalls rot ist. Aber darauf sieht er einen weißen Ball mit einem komischen, eckigen schwarzen Muster. Das Wort Hakenkreuz kennt er noch nicht. Er ahnt nicht, wie viel Zerstörung und Verzweiflung die Menschen unter diesem Banner in die Welt bringen werden. Auch in seine Familie. Im Januar 1933 hängt in den Klassenzimmern der Barbarossa-Schule ein neues Bild. Nicht mehr Paul von Hindenburg, sondern Adolf Hitler. »Das ist unser neuer Reichskanzler«, sagt der strebsame Fritz. Der Lehrer sagt beim Betreten des Klassenzimmers nicht mehr: »Guten Morgen, ihr Buben.« Die Klasse antwortet nicht mehr: »Guten Morgen, Herr Lehrer.« Jetzt heißt es: »Heil Hitler!«11 Und die Schüler müssen nun den rechten Arm nach vorne strecken, wenn der Lehrer hereinkommt. Nur die jüdischen Kinder nicht. Die dürfen den Hitlergruß nicht zeigen. In der Nacht vom 12. auf den 13. März 1933 schlagen die Nationalsozialisten in der Innenstadt die Schaufenster diverser Kaufhäuser ein und werfen die Auslagen auf die Straße. Weil die Besitzer jüdisch sind. Betroffen sind...


Stefan Mayr, 1972 geboren, war in jungen Jahren Bayernligaspieler des FC Augsburg. Nach einem Germanistikstudium wurde er Redakteur der Süddeutschen Zeitung, für die er auch über die Fußballbundesliga berichtete. Seit 2016 ist der verheiratete Vater dreier Kinder SZ-Korrespondent in Stuttgart. Mayr ist Autor einiger Fußballbücher und des Standard-Nachschlagewerks Dinner for One von A bis Z.


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