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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Meier Der Historiker und der Zeitgenosse

Eine Zwischenbilanz

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-13648-2
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wie hängt die Arbeit des Historikers mit seiner eigenen Biographie und seiner eigenen Lebenszeit zusammen? Was kann Geschichtsschreibung für die Gegenwart leisten? Über diese Fragen hat Christian Meier, der renommierteste Althistoriker Deutschlands, immer wieder nachgedacht. Anlässlich seines 85. Geburtstags zieht er nun Bilanz und reflektiert über die Probleme, die aus dem Verhältnis zwischen der Welt der Geschichte und der Provinz des Historikers erwachsen.Die Fragen, die Historiker an die Geschichte stellen, werden immer auch durch ihre Zeitgenossenschaft beeinflusst. Sie bestimmt ihre Vorstellungen ebenso wie ihre Sorgen und Ängste. Diese Erkenntnis bildet den Bogen von Meiers Antrittsvorlesung, die er 1968 unter dem Titel »Die Wissenschaft des Historikers und die Verantwortung des Zeitgenossen« gehalten hat, zu seiner vielbeachteten Abschiedsvorlesung vom Juli 2012. Der vorliegende Band versammelt diese beiden wichtigen Texte sowie ein Gespräch mit Georg Frühschütz, einem seiner letzten Studenten, in dem Christian Meier über Schwierigkeiten und Freuden des Historikerberufs nachdenkt. Er formuliert seine Sicht auf die Geschichtsschreibung und bewertet die Rolle des Historikers in unserer sich rasant wandelnden Gegenwart – einer Zeit, die es scheinbar längst aufgegeben hat, diesen Wandel geschichtsphilosophisch zu verstehen.
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Abschiedsvorlesung 19. Juli 2012, Ludwig-Maximilians-Universität München Génoito d’an pan en toi makroi chronoi, alles kann passieren (oder auch entstehen) im Laufe einer langen Zeit. So liest man es bei Herodot, dem Vater der Historie (5,9,3). Alles treibt die lange, unzählbare Zeit (ho makros kanarithmetos chronos) hervor aus dem Verborgenen, und das ins Licht Getretene verbirgt sie wieder. Nichts, was man nicht zu erwarten hätte. So heißt es bei Sophokles im Aias (646ff.), etwa eine halbe Generation zuvor. Und etwa 200 Jahre davor hatte Archilochos (74 D.) gedichtet; nichts sei aëlpton, also unerwartbar, unmöglich, seit Zeus die Mittagszeit in Nacht verwandelt und der hellen Sonne Licht sich verbergen ließ. Kalte Angst beschlich da die Menschen. Alle drei Aussagen laufen auf das gleiche hinaus: Man muß, zumindest im Laufe der Zeit, mit allem rechnen. Die Anlässe, die die Autoren zu dieser Art Feststellung bringen, sind unterschiedlich. Archilochos hatte gerade eine Sonnenfinsternis erlebt. Aias will (übrigens zum Schein) einen Sinneswandel begründen, indem er ihn als Niederschlag einer allgemeinen Erfahrung darstellt: Es ist ja überhaupt mit allem zu rechnen. So konnte man es in der damaligen Zeit auf erschreckende Weise erfahren. Herodot hat es mit Behauptungen zu tun, die er zwar für unglaubwürdig hält; aber ausschließen, daß sie wahr sind, kann er auch nicht. Denn es kann eben alles passieren im Laufe einer langen Zeit. Der Erkenntnis Herodots liegt unter anderm die Wahrnehmung eines ganzen Komplexes unerhörter Begebnisse voraus, von denen er handelt. Sie schließen sich zu etwas völlig Neuem zusammen, das er ergründen will: Wo nämlich éine Welt gewesen war, Griechen und Barbaren – man kann auch sagen Europa und Asien – umfassend, sind jetzt zwei. Denn zwischen Griechen und Barbaren hat sich ein tiefer Spalt aufgetan; sie haben sich verfeindet. So hat es Herodot verstanden und ganz ernst genommen. Dies galt es zu erklären. Deswegen hat er seine historischen Untersuchungen angestellt. Was es bedeutet, für was es steht, daß dieser Mann dazu gekommen ist, erstmals eine Historie zu konzipieren, wird heute stark unterschätzt; darauf wird gleich noch zurückzukommen sein. In Wirklichkeit nämlich ist es eine der größten Entdeckungen gewesen, die erst und nur in der damaligen Zeit (abgesehen vielleicht von den Chinesen) möglich war. Jedenfalls sieht man in dieser beiläufigen Bemerkung, wie schon der »Vater der Historie« auf eine der zentralen Konstellationen historischen Weltverständnisses gestoßen ist, vielleicht gar stoßen mußte, wenn er denn zur Geschichtsforschung gelangen wollte: Es ist alles – oder schränken wir es etwas ein: unendlich vieles – möglich, zumindest im Laufe langer Zeit. Man muß, ich würde zuspitzen: man darf aber nicht alles glauben. Im Hinblick auf seine Quellen sagt Herodot an anderer Stelle: Ich muß berichten, was mir berichtet wird. Glauben muß ich es nicht. Anders gesagt: Man hat als Historiker einerseits offen zu sein dafür, daß die Angehörigen der Gattung Mensch ein unglaublich reiches Bukett von Möglichkeiten haben, nicht nur zu handeln und zu denken, sondern auch, was die Völker angeht, sich und ihre Verhältnisse, ihre Mentalität auszuprägen. Unter Umständen mit derart verwunderlichen Ergebnissen, daß man – wenn man sie ernst nimmt – als Phantast angesehen werden kann. »Das gibt’s doch gar nicht«, kann es dann heißen. Andererseits hat der Historiker zu urteilen, das Phantastische eher auszusondern aus dem Bereich des Möglichen, und dann kann sich überraschenderweise auch zeigen, daß ganze Reihen von Dingen in einer bestimmten Zeit nicht erkennbar, geschweige denn veränderbar waren. Man muß sich vorsehen, daß sich in das Urteil nicht die aus der eigenen Zeit, der eigenen Lebenswelt gespeiste Erfahrung einmischt; zugunsten von etwas, was man als Normalität bezeichnen könnte, worein sich indes immer auch Wünsche, teilweise geradezu Allmachtsphantasien mischen können. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte«, hat Karl Marx festgestellt, aber er schränkt sogleich ein, »sie machen sie nicht aus freien Stücken«. Entsprechend muß der Historiker sich immer wieder der Untersuchung von Begrenzungen der Möglichkeiten hingeben. Sonst wird seine Arbeit zum Würfelspiel. Anlaß genug also immer wieder, und immer wieder anders, über Offenheit und Begrenzungen von Kulturen, von Gesellschaften – und von Gruppen und Individuen innerhalb der Gesellschaften – wie von Historikern nachzudenken. In der Spannung zwischen Offenheit für all das Mögliche und realistischer Wahrnehmung der Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem hat der Historiker sich zu bewegen. Stets bereit, sich überraschen zu lassen; ebenso bereit aber auch, dem letztlich Unglaubwürdigen mit seinen Mitteln auf den Leib zu rücken. Und stets in der Gefahr, in der einen oder anderen Richtung zu weit zu gehen. So gehört es zu den Herausforderungen, den Reizen, dem Faszinierenden dieses Berufs. Warum kommen hoch ausgebildete Kulturen wie das alte Ägypten, wie die verschiedenen großen Reiche in Mesopotamien oder an dessen Rändern, im Laufe von Jahrtausenden über monarchisches Regiment niemals hinaus? War das Zufall? Ist zufällig keiner unter Millionen und Abermillionen von Menschen, die unter diesen Verhältnissen über die Zeiten hin gelebt haben, auf die Idee gekommen, daß es anders sein könnte? Oder wenn einer darauf kam, ist er dann abgeprallt an Grenzen des Aufnahme- und Vorstellungsvermögens oder auch am Widerstand hinreichend vieler Anderer? Gewiß, man konnte sich über die Monarchen beklagen, aber nur um sie an ihre Pflichten, in Ägypten an die Ma’at, zu erinnern, die Weltordnung. Das Reich konnte zerfallen, aber nur indem sich einzelne Fürsten, kleinere Monarchen an die Stelle des einen Pharao setzten. Es waren großartige, in manchem vielleicht gar wundervolle Kulturen, die in verschiedenen Teilen der Welt entstanden. Sie waren zu höchst bemerkenswerten Leistungen fähig. Wo sie sich aber große Spielräume erschlossen, zogen sie offenbar, korrespondierend dazu, zugleich allem Denken und Streben Grenzen, die sich in Jahrtausenden nicht überqueren und schon gar nicht durchstoßen ließen. Oder nehmen wir die römische Republik, ein ursprünglich kleines Gemeinwesen, eine Stadt mit einem gewissen Umland. Sie war in der Lage, sich den ganzen Mittelmeerraum und manches darüber hinaus zu unterwerfen, ja dies alles in eine zunächst zwar mangelhafte, auf längere Sicht aber doch erstaunlich stabile und handhabbare politische Form zu fassen. Sie war andererseits bereit und fähig, Dichtung, Kunst und Philosophie der Griechen zu rezipieren. Und doch war die römische Bürgerschaft, ja war indirekt der ganze Herrschaftsbereich, in ihrer Organisation durch enge Begrenzungen des Denk-, des Vorstellungs- und natürlich auch des Handelns- und Veränderungsvermögens bestimmt. Sie konnte sich aus dem tief ins Mentale eingeprägten aristokratischen Regiment, als es vielfältig versagte, als es mit offener Gewalt bis zum Bürgerkrieg nicht fertig wurde, nicht lösen. Als schließlich eine Monarchie unausweichlich wurde, konnte sie sich zwar auf Soldaten, auf Söldner, aber nicht auf ein Volk gegen den Adel stützen, mußte sie sich vielmehr als eine Art Fortsetzung der Aristokratie mit andern Mitteln in das Gegebene einfügen. Ganz – oder doch weitgehend – anders die Griechen. Zwar waren auch sie in eine Reihe von Begrenzungen eingefangen. Nie gelangten sie über ihre Poleis als Politische Einheiten hinaus. Nie über den männerbündischen Charakter dieser Poleis und über die Sklaverei. Nie auch kamen sie dazu, Arbeit hochzuschätzen, und kaum je konnten sie daran denken, wissenschaftliche Erkenntnisse in den Dienst von Produktion zu stellen, geschweige denn, sie um derentwillen zu erstreben. Und doch waren sie zur Ausbildung von Demokratie und zu unerhörtester Entfaltung von Freiheit disponiert. Befähigt, sich all dem zu stellen, was sich vor ihnen, auf ihren durchaus riskanten Wegen an Problemen auftat; ja befähigt, die Erfahrung des Bruchs mit den gleichsam naturwüchsigen Voraussetzungen von Recht und Zusammenleben nicht zu verdrängen, sondern sich ihr zu stellen, bis ins Mutwillige hinein, und daraus im Dichten, Gestalten und Denken vielerlei Konsequenzen zu ziehen. Derart, daß daraus geistige Ansprüche erwuchsen, die bis heute Unruhe stiften, auf die dann insbesondere, so oder so, auch die christliche Theologie sich zu antworten genötigt sah, mit Konsequenzen, die möglicherweise die europäische Kultur derart prägten, daß sie ohne die Griechen nicht denkbar wäre. Fragen über Fragen also. Was ist jeweils erwartbar? Allgemein gesagt: Kann man, muß man den Kreis des Erwartbaren jeweils einschränken? Gerät man dabei als Historiker vielleicht allzusehr in die Gefahr, Menschen Möglichkeiten abzusprechen, die sie durchaus gehabt haben könnten? Wie steht es dann mit der menschlichen Freiheit? Eine Zeit wie die unsere, in der ungeheuer, unheimlich vieles möglich geworden ist, was früher undenkbar war, mag darin, wenn sie sich überhaupt noch mit Geschichte abgeben will, anders denken als frühere. Aber vielleicht – so könnte der Historiker einwenden – verfällt sie damit nur um so größerer Täuschung? Vielleicht bestehen oder entstehen in den Entgrenzungen unserer Tage auch neue – und vielleicht gar erschreckende – Begrenzungen unserer Möglichkeiten? Vielleicht bilden wir uns vieles an Möglichkeiten überhaupt nur ein, und es ist auch heute keineswegs alles erwartbar und – machbar?...


Meier, Christian
Christian Meier, geboren 1929 in Stolp/Pommern, ist emeritierter Professor für Alte Geschichte und einer der herausragenden Historiker Deutschlands. Von 1980 bis 1988 war er Vorsitzender des Verbands der Historiker Deutschlands, von 1996 bis 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Für seine wissenschaftliche Arbeit wurde er mit hohen und höchsten Auszeichnungen geehrt; auch erhielt er 2003 den Jakob-Grimm-Preis für deutsche Sprache. Er hat zahlreiche Werke zur Antike veröffentlicht, darunter „Caesar“ (1982), und „Athen“ (1993). Darüber hinaus greifen Publikationen wie „Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik“ (2001) sowie „Von Athen bis Auschwitz“ (2002).


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