E-Book, Deutsch, 354 Seiten
ISBN: 978-3-8444-3180-3
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Zielgruppe
Klinische Psycholog_innen, Neuropsycholog_innen, Forensische Psycholog_innen, gutachtlich tätige Mediziner_innen, Auftraggeber_innen psychologischer Gutachten
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Biologische Psychologie, Neuropsychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Physiotherapie, Physikalische Therapie Rehabilitation
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Kriminalpsychologie, Forensische Psychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie Psychologische Diagnostik, Testpsychologie
Weitere Infos & Material
|46|Kapitel 2
Beschwerdenvalidierung in der Medizin – Klinische Tests zur Beschwerdenvalidierung
Bernhard Widder 2.1 Einführung
Der Begriff der Beschwerdenvalidierung wird häufig primär mit neuropsychologischen Tests in Verbindung gebracht. Der zugehörige angloamerikanische Begriff des Symptom validity testing wurde jedoch erstmals im Zusammenhang mit funktionellen Sensibilitätsstörungen genannt (Pankratz, 1979), und das in der Neuropsychologie gängige Prinzip der Alternativwahlverfahren war schon zuvor bei der Untersuchung psychogener Blindheit eingesetzt worden (Theodor & Mandelcorn, 1973). Bereits auf Basis dieser weitgehend in Vergessenheit geratenen Arbeiten ist damit unschwer zu begründen, dass Beschwerdenvalidierung zur Differenzialdiagnose unklarer Krankheitsbilder in allen medizinischen Fachgebieten von Bedeutung ist. Aus drei Gründen betrifft dies in besonderem Umfang Begutachtungen: Angesichts der meist bereits umfangreich vorliegenden Vorbefunde ergeben sich im Rahmen von Begutachtungen nur selten völlig neue Diagnosen, sodass der Diagnosestellung nur relativ geringe Bedeutung zukommt. Die zu Begutachtenden sind meist davon überzeugt, dass ihnen aufgrund ihrer Beschwerden eine Entschädigung zusteht, sodass sie diesem Wunsch dann verständlicherweise auch mehr oder weniger umfangreich Ausdruck verleihen. In den meisten Rechtsgebieten hat Derjenige, der den Antrag auf eine Entschädigung stellt, das Vorliegen seiner Beschwerden im sog. Vollbeweis – d.?h. ohne vernünftigen Zweifel – zu beweisen, sodass der Sachverständige hierdurch bedingte Funktionsstörungen gegenüber dem Auftraggeber des Gutachtens schlüssig begründen muss. Die gutachtliche Kernaufgabe besteht daher – zumindest bei Zustandsgutachten – darin zu klären, ob und in welchem Umfang die geklagten Beschwerden und die damit zusammenhängenden Funktionsstörungen tatsächlich bestehen. |47|Die meisten gutachtlichen Schritte dienen – unter Nutzung aller verfügbaren Verfahren der Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung – der Beschwerdenvalidierung. 2.1.1 Beweisrechtliche Grundlagen In Anlehnung an das übliche juristische Vorgehen kann die erforderliche gutachtliche Beweisführung bei demonstrierten körperlichen Funktionsstörungen auf zweierlei Weise erfolgen (Abbildung 2.1). 2.1.1.1 Anscheinsbeweis Hierunter verstehen Juristen üblicherweise die Situation, wenn nach allgemeiner Erfahrung ein bestimmter Geschehensablauf zu typischen Folgen führt, sodass im konkreten Einzelfall als bewiesen anzusehen ist, dass es zu diesem Ablauf gekommen ist, sofern es keine konkreten Anhaltspunkte für einen anderen Verlauf gibt. In medizinischer Hinsicht ist dies z.?B. der Fall, wenn bei einer geklagten Fatigue-Symptomatik im Rahmen einer Multiplen Sklerose bereits im MRT eine große Herdlast ersichtlich ist, die damit nach aller Erfahrung zu ausgeprägten klinischen Symptomen führt, angesichts einer ödematös geschwollenen, überwärmten Hand kein vernünftiger Zweifel am Vorliegen eines komplexen regionalen |48|Schmerzsyndroms (CRPS) mit hierdurch bedingten außergewöhnlichen Schmerzen besteht, eine radiologisch ersichtliche Sprunggelenksarthrose mit einer entsprechenden Bewegungseinschränkung korreliert oder nach einem Ereignis von der Qualität der Ramstein-Katastrophe oder des Zugunglücks von Eschede von einem Beteiligten nachfolgend Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung geklagt werden. 2.1.1.2 Indizienbeweis Anders sieht die Situation aus, wenn nicht bereits prima facie ein geklagtes Beschwerdebild nachweisbar ist oder ein Zusammenhang mit einem Schädigungsereignis deutlich wird. In diesem Fall gilt es, möglichst viele Indizien zu sammeln, anhand derer dann eine „Brücke“ zwischen einem Schädigungsereignis und geltend gemachten Schädigungsfolgen gebildet werden kann und/oder subjektiv geklagte Beeinträchtigungen in tatsächlich bestehende Funktionsstörungen „transferiert“ werden können. Diese Aufgabe ist im engeren Sinne „Beschwerdenvalidierung“, die in Abgleich von Aktenlage, Exploration, Beobachtung und erhebbaren klinischen Befunden zu erfolgen hat. 2.1.2 Primärer/sekundärer Krankheitsgewinn Körperlich nicht erklärbare Symptome werden heutzutage zunehmend mit dem Begriff funktionell umschrieben (Espay et al., 2018). Im therapeutischen Kontext mag dies sinnvoll sein, um eine mögliche Stigmatisierung von Patienten zu vermeiden und dadurch den therapeutischen Zugang zu erschweren. Im gutachtlichen Kontext gilt jedoch zwingend, sich zum einen an ICD-Diagnosen zu orientieren, zum anderen lassen die bei funktionellen Störungen als Ursache genannten Begriffe wie Fehlanpassungen oder dysfunktionale Verhaltensweisen (Popkirov & Hoheisel, 2020) ausdrücklich offen, ob es sich hierbei um eine krankheitswertige Störung handelt, die Ausdruck eines seelischen Konflikts (primärer Krankheitsgewinn) mit einer möglichen „plastischen“ Veränderung von Hirnstrukturen ist, oder ob die Symptomatik dazu benutzt wird, materielle oder immaterielle Vorteile (sekundärer Krankheitsgewinn) zu erlangen (Abbildung 2.2). Kompliziert wird die Situation dadurch, dass es zwischen den genannten Formen umfangreiche Überschneidungen gibt und körperlich begründete Beschwerden bewusst oder unbewusst psychogen verstärkt (aggraviert) werden können. Hier ist es dann die Aufgabe des Untersuchers, diese Anteile aufgrund seiner Kenntnis der pathoanatomischen, pathophysiologischen und psychopathologischen Zusammenhänge möglichst klar herauszuarbeiten und sie von in der Gutachtensituation „normalen“ Verdeutlichungstendenzen abzugrenzen. |49|Körperlich nicht erklärbare „funktionelle“ Beschwerden können sowohl Ausdruck einer psychischen Krankheit als auch eines Entschädigungs- und/oder Entlastungswunsches sein. 2.1.3 Aussagefähigkeit der Beschwerdenvalidierung Hinsichtlich der in den folgenden Kapiteln vorliegende Zusammenstellung der wichtigsten klinischen Beobachtungen und Tests zur Beschwerdenvalidierung ist zunächst festzuhalten, dass diese lediglich dazu geeignet sind, organische von nicht organischen „funktionellen“ Störungen abzugrenzen, was damit nichts über deren Krankheitswertigkeit aussagt. Nur in zwei Situationen – sofern sich keine Hinweise auf eine artifizielle Störung ergeben – erscheint ein einzelner Befund in der Lage, eine bewusste Vortäuschung nachzuweisen: Die dargestellten Symptome sind nachweislich außerhalb der Untersuchungssituation nicht vorhanden (z.?B. bei Beobachtung unmittelbar vor oder nach der gutachtlichen Untersuchung, bei Demonstration einer schwergradigen schlaffen Lähmung bei völlig intakter Muskulatur). Die dargestellten Symptome erfordern ein erkennbar planvolles Handeln (z.?B. unterhalb der Ratewahrscheinlichkeit liegende Ergebnisse in einem Alternativwahlverfahren). Alle sonstigen Beobachtungen und Tests stellen lediglich Indizien dar, die mit unterschiedlicher Wertigkeit...