Meyer-Blanck Christentum und Europa

XVI. Europäischer Kongress für Theologie (10.–13. September 2017 in Wien)

E-Book, Deutsch, Band 57, 840 Seiten

Reihe: Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

ISBN: 978-3-374-05854-9
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Vom 10. bis 13. September 2017 veranstaltete die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie den XVI. Europäischen Kongress für Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Wien. Der Kongress stand unter dem Thema »Christentum und Europa« und beschäftigte sich mit der Frage, welche Gestalt der europäische Kontinent dem Selbstverständnis des Christentums gegeben hat und welche aktuelle und zukünftige Bedeutung der christliche Glaube für die europäische Identität hat. Am ersten Tag ging es um das Christentum in der europäischen Geschichte, am zweiten um das Christentum in der europäischen Pluralität und am dritten um das Christentum in der europäischen Wissenskultur; im Mittelpunkt der Eröffnungsveranstaltung standen religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland Österreich. Der Band dokumentiert die Plenar- und Sektionsvorträge des Kongresses.

[Christianity and Europe. XVIth European Congress for Theology]
From September 10 to 13, 2017, the Scientific Society for Theology organized the XVIth European Congress for Theology at the Theological Faculty of the Vienna University. The congress, under the theme »Christianity and Europe«, dealt with the question which specific self- image Christianity has been given by the European continent and what could be the current and future impact of the Christian faith on European identity. The subthemes of the three days were Christianity in European history, Christianity within European plurality, and Christianity in European knowledge culture. The opening event focused on the theme of religious diversity and participation in Austria, regarded as an immigration country. The volume documents the plenary and session presentations of the congress.
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Ist die Bibel ein europäisches Buch?
Eine Außenseiterperspektive1 Carl Stephan Ehrlich Ich muss zugeben, dass ich etwas verblüfft war, als ich die Einladung zu dieser Tagung erhielt; denn ich bin weder Europäer noch evangelisch, nicht einmal Christ. Doch als man mir zusicherte, dass man mich genau deswegen einladen wolle, nämlich damit ich eine Außenseiterperspektive zur Geltung bringe, habe ich sofort zugesagt. Aber bin ich, obwohl ich Jude und Amerikaner bzw. Kanadier bin, wirklich ein Außenseiter im heutigen Rahmen? waren gebürtige Wiener, die aus rassistischen bzw. antisemitischen Gründen aus ihrer Heimatstadt vertrieben wurden. Dennoch gelang es ihnen, in der Neuen Welt ein neues Leben aufzubauen. Allerdings, auch wenn man Menschen aus Europa vertreiben kann, bleiben sie in der europäischen Kultur im weitesten Sinne verwurzelt. So kam es, dass meine erste Sprache genau genommen das zu Hause gelernte Deutsch war und dass ich – wie mein Schwager es spöttisch nennt – in Wien am Connecticut River3 aufgewachsen bin, einem Fluss, den, wenn ich mich richtig daran erinnere, Heinrich Heine beschrieben hat, auch wenn er ihn nie zu Gesicht bekam. So spiegelt meine Herkunft die einseitige jüdische Liebesbeziehung zur europäischen Kultur – zur Kunst, Literatur und Musik –, aber leider nicht das Leben innerhalb der europäischen Kultur wider. Abb. 1a. Der Schülerausweis des Leonhard (später Leonard H.) Ehrlich. Er besuchte das jüdische Chajes-Realgymnasium in Wien. Aber lassen wir die Frage der kulturellen Zugehörigkeit als unbeantwortbar beiseite! Nicht zu übersehen ist, dass ich als Jude »In diesen heil’gen Hallen« – wenn ich eine der großen Arien Sarastros aus dem zweiten Akt von Mozarts Zauberflöte zitieren darf – ganz folgerichtig eine Außenseiterperspektive einnehme. Allerdings stehe ich damit wohl nicht allein. Jedenfalls kann ich als Jude sehr gut das Lebensgefühl von vielen von Ihnen nachvollziehen, die als kleine evangelische Minderheit im überwiegend katholischen Österreich leben. Aber wir leben zugleich auch in einem Zeitalter der Ökumene, das die früheren innerchristlichen Religionskriege durch friedliche theologische Debatten abgelöst hat, eine begrüßenswerte Entwicklung, die sich in der modernen Welt auch auf die Beziehungen zu den Schwesterreligionen des Judentums und des Islams positiv auswirkt, und dies nicht nur in der europäischen Gesellschaft. Zwar sind sowohl der Dreißigjährige Krieg als auch die Schoah Vergangenheit, aber ihre Auswirkungen dauern weiterhin an. Abb. 1b. Der Reisepass der Edith Schwarz (verh. Ehrlich). Während der NS-Zeit mussten alle jüdischen Mädchen den Mittelnamen Sara annehmen, so wie alle Jungen den Mittelnamen Israel als Kennzeichen haben mussten. Nun komme ich endlich zu meinem vorgegebenen Thema: Ist die Bibel ein europäisches Buch? Die Frage scheint auf den ersten Blick einfach zu sein; aber sie ist vielschichtig und nicht leicht zu beantworten. Erstens wird die Sammlung der Bücher, die die jüdische Gemeinde als vierundzwanzig zählt, in der evangelischen Kirche als neununddreißig gerechnet. Beide Traditionen beginnen mit der Tora bzw. dem Pentateuch, aber danach weichen sie in der Reihenfolge voneinander ab. Der Tanach gibt mehr oder weniger den Vorgang der Kanonisierung wieder. Das Alte Testament wiederum folgt der Anordnung nach Gattungen in der Septuaginta, der antiken jüdischen Übersetzung des Tanachs ins Griechische, die von der griechisch sprechenden frühchristlichen Kirche als Heilige Schrift übernommen wurde. Dort bilden nach dem einleitenden Pentateuch die Geschichtsbücher den zweiten Teil des Alten Testaments, die Weisheitsbücher den dritten und die Propheten den vierten. Nicht zufällig kommt diese Reihenfolge der christlichen Theologie entgegen – wir könnten in diesem Fall sogar von Teleologie sprechen. Denn diese Reihenfolge der Bücher lässt eine christologische Interpretation zu, nach der die historischen Bücher auf die Vergangenheit, die Weisheitsbücher auf die Gegenwart und die Propheten auf die Zukunft bzw. auf die Offenbarung des Neuen Testaments bezogen sind. Wenn man bedenkt, dass das Christentum unter den sechshundertdreizehn Geboten, die das Judentum im Pentateuch zählt, vor allem die sogenannten Zehn Gebote hervorhebt,7 könnte man sagen, dass das theologische Gefälle in den beiden religiösen Traditionen geradezu gegenläufig ist: Das Judentum betont die vorderen Bücher, das Christentum den Schluss. Obwohl das Judentum und der Islam, jeder in seiner heiligen Sprache Hebräisch bzw. Arabisch, verwandte Begriffe für ihre heiligen Schriften gebrauchen, nämlich Mikra und Koran, was beides »das Vorgelesene« bedeutet, haben nur das Judentum und das Christentum einen gemeinsamen Text, den beide Religionsgemeinschaften als Bibel bezeichnen. Das gilt, auch wenn sie sich nicht einig sind, wie dieses Wort zu deuten ist und welche Bücher dazugehören. Das Ergebnis ist, dass Juden und Christen unterschiedliche Vorstellungen haben, wenn sie über die Bibel sprechen. Der Begriff »Bibel« ist insofern nicht eindeutig. Was Judentum und Christentum in oberflächlicher Weise verbindet, ist dasselbe, was die zwei Schwesterreligionen auch trennt. Wie wir alle wissen, leitet Europa seinen Namen von dem Mythos ab, wonach der Götterkönig Zeus in der Gestalt eines Stiers Europa, die Tochter des Königs Agenor von Tyros, entführt haben soll. So kam die Landmasse westlich von Asien und nördlich von Afrika zu dem Namen Europa, auch wenn deren Grenzen lange Zeit nicht eindeutig zu bestimmen waren. Heute verstehen wir unter Europa den westlichen Teil eines Megakontinents, dessen Hauptteil in Asien liegt. Die Grenze zwischen den beiden Erdteilen wird üblicherweise mit den Gebirgsketten des Ural und des Kaukasus gleichgesetzt. Aber was zu Europa gerechnet wird, hat sich im Laufe der Jahrhunderte mehrmals geändert. In der Antike hat man Europa vor allem in dem sozusagen »zivilisierten« griechisch-römisch-christlichen Teil des Kontinents gesehen. Dabei wurde Europa eher als kultureller bzw. religiöser Bereich statt als rein geographischer Begriff verstanden. Doch die Grenzen dieses Bereichs änderten sich, als der Einfluss der griechischen Staaten, des Römischen Reiches und der westlichen bzw. römisch-katholischen Kirche sich ausdehnte. Es ist üblich, Europa mit dem Einflussbereich des Christentums gleichzusetzen, aber auch der Islam hat zu verschiedenen Zeiten auf der Iberischen Halbinsel, im Südosten Europas und in den Balkanländern Fuß gefasst. Während die Bibel die Grundschrift des Christentums und der christlichen Welt darstellt, kann man dasselbe nicht für den Islam behaupten. Andererseits liegt in der modernen Welt der Schwerpunkt des Christentums nicht mehr in seiner europäischen Heimat, sondern in der südlichen Hälfte Afrikas und in Südamerika. Die Verbindung Europas mit der Bibel – oder umgekehrt der Bibel mit Europa – ist in unseren Tagen nicht mehr gültig.13 Aber war sie es je? Aber die überwiegende Mehrzahl der Bücher ist ein Erzeugnis des Alten Vorderen Orients und spiegelt dessen facettenreiche Kultur von der Eisenzeit bis in die persische Epoche wider, die mit der Eroberung Alexanders des Großen im späten 4. Jahrhundert vor der Zeitrechnung zu Ende ging.  – Etwas anderes, das unsere Luftblasenwelt vor der Zerstörung schützt, sind die Berge bzw. die Säulen am Ende der Welt, die die Welt verankern und stabilisieren. Die biblische »Feste«, der wir in Genesis 1,6–8 zuerst begegnen, ist die harte Schale, die die Welt vor dem zerstörerischen Wasser abschirmt. Sonne, Mond und Sterne sind Lichter im Himmel, die sich vor dem Hintergrund der Himmelsschale bewegen. Das Bild, das wir so gewinnen, ist uns als Erben der europäischen Kultur fremd. Obwohl wir ein ähnliches Bild bei den Vorsokratikern in Kleinasien finden, ist diese Vorstellung dem Abendland seit dem Aufkommen der Sokratiker unbekannt geblieben. Seither haben andere Weltvorstellungen das europäische Gedankengut beeinflusst. Dies ist nur ein kleines Beispiel, um zu zeigen, dass die Hebräische Bibel zumindest in ihrem Ursprung kein europäisches Buch gewesen ist, obwohl sie von der europäischen bzw. christlichen Welt zu einem solchen gemacht wurde in einem Vorgang, den wir heute vielleicht als kulturelle und religiöse Vereinnahmung bezeichnen würden. Eine ähnliche Auslegung finden wir in Genesis 18, wo Abraham und Sara von drei himmlischen Wesen in Männergestalt besucht werden. So, wie der mittelalterliche jüdische Kommentator Raschbam, bzw. Rabbi Schmuel ben Meir, diesen theologisch schwierigen Text verstanden hat, ist einer von den Männern Gott selbst – eine ziemlich häretische Bemerkung für einen Theologen, der an einen unsichtbaren Gott geglaubt hat –, die anderen beiden sind wohl als himmlische Boten bzw. Engel zu verstehen. In einer christologischen Lesart hingegen werden die drei Männer wiederum mit Vater, Sohn und Heiligem Geist identifiziert. Aber das bedeutet noch immer nicht eine Europäisierung, außer wir setzen Europa mit dem Christentum gleich. ...


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