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E-Book, Englisch, Band 45, 158 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 209 mm, Gewicht: 302 g

Reihe: Sozialwissenschaftliche Studien des Instituts für Auslandsforschung

Meyer Multipolare Welt

Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung, Band 45

E-Book, Englisch, Band 45, 158 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 209 mm, Gewicht: 302 g

Reihe: Sozialwissenschaftliche Studien des Instituts für Auslandsforschung

ISBN: 978-3-03810-459-9
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Dieser Band enthält die Vorträge, die im Frühjahrs- und Herbstsemester 2018 am Schweizerischen Institut für Auslandforschung gehalten wurden. Eine Reihe von hochkarätigen Gastvortragenden referierte zum Thema 'Multipolare Welt'. Zur Diskussion standen aktuelle politische Entwicklungen und Herausforderungen sowie die Perspektiven der Demokratie mit Fokus auf Europa. Weitere Themen: Frankreich unter dem neuen Präsidenten, die Rolle Deutschlands und die der Schweiz in Europa.
Mit Beiträgen von Ignazio Cassis, Andrzej Sebastian Duda, Yoshihiro Francis Fukuyama, Sigmar Gabriel, Christian Lindner, Andreas Rödder, Peter Sloterdijk, Michaela Wiegel.
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Politik in Masken – Über das Demokratie-Dilemma PETER SLOTERDIJK Vortrag vom 19. April 2018 Im Folgenden gehe ich der Vermutung nach, dass die Daseinsweise der modernen Politik im Ganzen immer auch eine Existenz unter falschen Pässen einschliesst, sofern diese sich unter reaktivierten antiken Namen wie «Republik» und «Demokratie» präsentiert. Ich möchte die Hypothese prüfen, ob diese politischen Gebilde insgesamt nicht von Anfang an und unvermeidlich mit einem hohen Faktor pseudonymischer Intensität ausgestattet waren. Falls die Vermutung sich erhärtet, wäre zu erwägen, ob das aktuell weit verbreitete Unbehagen in der Demokratie nicht einen halbmanifesten Protest der Bevölkerungen an der machthabenden Pseudonymie zum Ausdruck bringt. Unter deren Vorherrschaft hätte der Abstand zwischen den Phrasen und den Zuständen sich so weit geöffnet, dass die kollektive Vernunft hierauf mit Skepsis und Verdrossenheit, ja mit Ressentiment und Verachtung antworten muss, vorausgesetzt, dass nicht eine zeitgemässe Ablenkungs- und Zerstreuungsstrategie obenauf kommt – in Fortführung der klassischen Panem-et-circenses-Politik –, die sich darauf versteht, die unzufriedenen Massen zu demobilisieren. Ich möchte in diesem Passus sowie in den drei folgenden Abschnitten Evidenz für die These entwickeln, dass der Terminus «Demokratie» in seinem aktuellen Gebrauch tatsächlich mit hohen pseudonymischen Energien geladen ist. Er dient im Alltag der öffentlich-rechtlichen Semantik dazu, vier mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Figuren realer politischer Machtausübung zu kaschieren, die unter ihrem wahren Namen unmöglich allgemein zustimmungsfähig wären. Diese vier Figuren intensiver Pseudonymie nenne ich: Oligokratie, Fiskokratie, Mobokratie und Phobokratie. In ihnen verkörpern sich gleichsam die abgedunkelten Partialtriebe der nominellen Demokratien. Wie schon in römischen Zeiten unter der Alleinherrschaft von Octavianus Augustus das monarchische Motiv verdunkelungspflichtig war – tatsächlich blieb in der gesamten Kaiserzeit der Titel «König» (rex) verpönt –, so sind es in den heutigen demokratischen Systemen jene Motive, die unter dem so noblen wie irrealen Decknamen der «Herrschaft des Volks über sich selbst» völlig andere, keineswegs volkhafte, geschweige denn volkstümliche Konfigurationen politischer Gewalt ins öffentliche Geschäft einbringen. Der Ausdruck «Oligokratie» deutet auf einen von Anfang an so prägnanten wie umstrittenen Grundzug moderner republikanisch-demokratischer Regierungssysteme. Er indiziert, dass das Kollektiv, das man das «Volk» nennt, immer schon ein Kompositum aus den Wenigen (hoi oligoi) und den Vielen (hoi polloi) bildet. Das starke Merkmal der modernen Demokratien nach 1776 und 1789 zeigt sich in der Forderung, dass die Wenigen künftig aus den Vielen «hervorgehen» sollen. Bertolt Brecht hat das in seinem Gedicht «Paragraph eins» prägnant ironisch formuliert: «Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. – Aber wo geht sie hin?» In der alten Ständegesellschaft hatten sich die oligoi aus den Geburtswenigen rekrutiert, die sich ohne Umschweife die aristoi, wörtlich: die Besten bzw. die Edlen, nannten; zu ihnen gesellten sich die Wenigen aus Berufung hinzu, die den Korpus des Klerus bildeten. Beide Gruppen zusammen machten zur Zeit ihrer Hochblüte maximal 2 bis 3 Prozent der Gesamtpopulation aus. Als Sièyes 1789 die Devise ausgab, der Dritte Stand sei für sich allein eine «vollständige Nation», kam die Ahnung auf, wie rasch die Abschaffung der Wenigen durch die Vielen auf die Agenda einer unerfahrenen Demokratie geraten kann. Der populäre Refrain «Les aristocrats à la lanterne!» deutete in seiner mordlustigen Gutgelauntheit eine mögliche Richtung der Entwicklung an. Tatsächlich war in der neuen Ordnung der Dinge das Auftauchen einer neuen Kategorie von Wenigen fürs Erste nicht vorgesehen. Die realen Verhältnisse sorgten umgehend für besseres Wissen: In den Turbulenzen zwischen 1792 bis 1794 wurde sichtbar, wie eine historisch neue Form von Wenigen-Herrschaft ans Ruder kommt. Die logische Quelle der neuen Oligokratie war unverkennbar der politisierte Volksbegriff, der durch Autoren wie Rousseau und Sièyes ins kollektive Bewusstsein implantiert worden war. Wenn die politische Macht künftig nicht mehr von Gottes Gnaden (de droit divin) ausgeübt werden konnte, sondern einem Mandat der scheinbar integren Ganzheit entsprang, die nun mit neuem Akzent le peuple hiess, dann musste man über ein schlüssiges Verfahren verfügen, wie der Wille des neuen Souveräns sich in den Wenigen kontrahierte, um die Intentionen der Vielen so unverfälscht wie möglich zu verkörpern. Seither beruht das demokratische System auf einer Art Mystik der Repräsentation. Sie nimmt die Vorstellung einer Vertretung durch Verdichtung für sich in Anspruch. In modernen Grosspopulationen soll jeweils ein parlamentarischer Abgeordneter imstande sein, die Intentionen von 100 000 Personen zu «repräsentieren»; bei verfassunggebenden Versammlungen wächst die Kondensation auf das Verhältnis von eins zu einer Million. Die wesentliche Problematik der Vertretung Vieler durch Wenige kommt aber erst jenseits der parlamentarischen Abbild-Beziehungen und deren spezifischer Mystik zum Vorschein. Es war von Anfang an ein offenes Geheimnis der «Volksherrschaft», dass es in ihr eine Gruppe von Wenigen gab, die das postmonarchische System zu ihren Gunsten manipulierten. Die neuen oligoi trieben die pseudonymische Dynamik der jungen Demokratie schon früh auf die Spitze, indem sie von dem überraschenden Vorrecht Gebrauch machten, sich – jenseits der Delegierung durch Wahlen – als direkte Inkarnationen des «Volks» zu präsentieren. Jean-Paul Marat bot für diese Delegationsmystik das deutlichste Exempel: Als unerbittlicher Agitator reklamierte er, der sich und sein Kampfblatt «den Freund des Volkes» nannte, für seine Person das Vorrecht, das «Auge des Volkes» zu sein: In dieser Eigenschaft nahm er die Fähigkeit in Anspruch, zu erkennen, wer es nicht länger verdient habe, als Teil des Volkskörpers am Leben zu bleiben. Zu Beginn seiner Mission meinte Marat, die Revolution könne mit der Tötung von 500 Schädlingen am Gemeinwesen auskommen; gegen Ende seiner blutrünstigen Selbsterregung forderte der selbst ernannte Tribun 100 000 Opfer. Zugleich war Marat nur einer von den neuen Wenigen, die sich selbst als Kondensate oder Inkarnationen des Volksganzen inszenierten. Es war die pseudonymische Dynamik im Innersten der neuen politischen Semantik, die es jedem Klub, jedem Ausschuss, jeder Ortsgruppe des Deliriums gestattete, sich selbst das Volk, die Nation, den Konsensus, die volonté générale zu nennen, ohne jemals die zu repräsentierenden Massen zu fragen, ob sie sich in ihren selbstsendenden Abgeordneten wiedererkannten. Retrospektiven Schätzungen zufolge hätten die Jakobiner, die mit ihrem Verbalradikalismus den Nationalkonvent vor sich hertrieben, bei allgemeinen Wahlen im Jahr 1793, als der Kopf des Königs unter der Guillotine fiel, kaum mehr als 3 bis 4 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Das Phänomen einer glaubwürdigen Majorität demokratischen Stils gab sein authentisches historisches Debüt weder in den Turbulenzen des 14. Juli 1789, die de facto Sache einer quantitativ nicht sehr bedeutsamen Menge von Erregten auf den Strassen von Paris waren, noch bei der Aufhebung der Monarchie am 22. September 1792, als die Abgeordneten der Convention Nationale gegen die breite Volksstimmung die Abschaffung der Monarchie und die Proklamation der Republik beschlossen. Sein entscheidender Auftritt vollzog sich bei den Ereignissen des Juli 1794. Damals brachte eine Gruppe von entschlossenen Deputierten der gemässigten Linie – man nannte sie später, im linken Lager meist mit verächtlicher Betonung, die Thermidorianer – den Mut auf, noch im Saal des Konvents gegen das extrem-minoritäre Terrorregime Robespierres aufzustehen. Die Hinrichtung des «Unbestechlichen» am 28. Juli 1794 – ohne vorausgehenden Prozess – war vermutlich der letzte, möglicherweise der einzige Moment in der Geschichte Europas (von der allgemeinen Zustimmung zur Niederwerfung des Hitler-Regimes im Mai 1945 abgesehen), als die Wenigen und die Vielen eines Landes sich nahezu ausnahmslos zu einer gemeinsamen Überzeugung bekannten. Zehntausende von Zeugen aller Stände und Parteien spendeten, dem Bericht Merciers zufolge, dem Scharfrichter Sanson mehr als fünfzehn Minuten lang Beifall, als er Robespierre auf der Place de da Révolution enthauptet hatte. Die nicht enden wollende Ovation drückte die Zurückweisung von Robespierres düsterer Erkenntnis aus, wonach die Herrschaft der Tugend – wie vielleicht jeder Herrschaft – nichts sei ohne den Schrecken. In ihr verbarg sich das seit dem Auftauchen der frühen Imperien gültige Grundgesetz der sozialen Synthesis, wonach die Kohärenz politischer Grosskörper – neben dynastischen Hypnosen und kollektiven Narzissmen – stets auch durch Effekte phobokratischer Mittel bedingt wird. Die weitere Entwicklung des demokratischen Motivs im Europa des 19. Jahrhunderts zeugte von der zunehmenden Entfremdung der neuen Wenigen (alias Grossbürgertum und politische Klasse) und den alten und neuen Vielen (herkömmliches Bauerntum, moderne Fabrikarbeiterschaft, kleinbürgerliche Angestelltenwelt). Die Fraktionen der nachrevolutionären «Gesellschaft» traten sich nicht mehr als...


Martin Meyer, Dr. Dr.h.c., Studium der Geschichte, der deutschen Literatur und Philosophie an der Universität Zürich. Seit 1992 Leiter der Feuilleton-Redaktion der 'Neuen Zürcher Zeitung'. Das Schweizerische Institut für Auslandforschung (gegründet 1943 auf Anregung des Bundesrats) mit Sitz in Zürich ist ein politisch und wirtschaftlich unabhängiges Kompetenzzentrum für Wissensvermittlung und Hintergrund. Es wirkt durch öffentliche Veranstaltungen, insbesondere Vorträge, nach aussen. Es behandelt aktuelle Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur und wählt dafür qualifizierte und international angesehene Referenten.

Martin Meyer, Dr. Dr.h.c., Studium der Geschichte, der deutschen Literatur und Philosophie an der Universität Zürich. Seit 1992 Leiter der Feuilleton-Redaktion der 'Neuen Zürcher Zeitung'.
Das Schweizerische Institut für Auslandforschung (gegründet 1943 auf Anregung des Bundesrats) mit Sitz in Zürich ist ein politisch und wirtschaftlich unabhängiges Kompetenzzentrum für Wissensvermittlung und Hintergrund. Es wirkt durch öffentliche Veranstaltungen, insbesondere Vorträge, nach aussen. Es behandelt aktuelle Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur und wählt dafür qualifizierte und international angesehene Referenten.


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