Miller | Nachts ist das Meer nur ein Geräusch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Miller Nachts ist das Meer nur ein Geräusch

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-552-05847-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Maud stürzt in Tims Leben. Sieben Meter tief stürzt sie vom Deck des aufgebockten Segelschiffs auf zerbröckelte Ziegelsteine. Der Schlaks aus guter Familie und die eigenwillige Naturwissenschaftlerin werden ein Paar. Doch als ihre Tochter bei einem Autounfall ums Leben kommt, bricht ihr Leben auseinander. Maud verkriecht sich auf dem alten Segelboot; und obwohl sie vorher noch nie über heimische Gewässer hinausgesegelt ist, macht sie sich von England aus allein mit der „Lodestar“ über den Atlantik auf die Reise. Andrew Miller entwickelt aus einem Familienroman das Drama einer Frau, das von der Liebe erzählt, von Mutterschaft, vom Abenteuer der Einsamkeit und immer wieder vom Meer.
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2
Keine Relingsstützen, keine Reling. Und vielleicht haben sich auch die Pechdämpfe auf sie ausgewirkt. Der Krankenwagen war schon von weitem zu hören. Er musste unter anderem den Fluss überqueren. Bei ihrer Ankunft legten die Sanitäter Maud eine Halswirbelsäulenschiene an und drehten sie dann um wie ein kostbares archäologisches Fundstück, eine Moorleiche aus der Zeit um Christi Geburt, so fragil wie Asche. Sobald sie stabilisiert war, setzte einer der Sanitäter Tim auf die hintere Trittstufe des Krankenwagens und erklärte ihm, er habe einen Schock erlitten, müsse sich aber keine Sorgen machen, weil es seiner Freundin unter den gegebenen Umständen recht gut gehe. Man werde sie ans obere Ende des Tals fahren, dort werde sie vom Hubschrauber übernommen. Der Hubschrauber werde sie nach Plymouth in die Klinik fliegen. In einer halben Stunde sei sie dort. Als Tim wieder zu sich kommt, als das Zittern aufhört und sein Kopf wieder auf eine Weise zu arbeiten beginnt, die ihm bekannt vorkommt, sitzt er mit einer karierten Decke um die Schultern im Büro des Jachthafens. Topfpflanzen, Aktenschränke, Karten des Flusses. Ein sonnengebleichtes Poster von einem Segelboot, einer Rennjacht alten Stils, flach, übertakelt, mit einem Dutzend Besatzungsmitgliedern, die auf der Luvseite sitzen und die Beine baumeln lassen. Die Frau, die den Krankenwagen gerufen hat, unterhält sich leise mit dem Mann im Anzug. Sie bringt Tim einen Becher Tee. Der Tee ist brühheiß und ungenießbar süß. Tim nippt daran, dann steht er auf und faltet die Decke zusammen. Er braucht einen Moment, um den Gedanken abzuschütteln, dass er auch verletzt worden ist, dass eine Verletzung vorliegt, die er finden und sich ansehen müsste. Er bedankt sich bei dem Mann und der Frau (er ist absolut höflich – diese Schulen!), dann geht er hinaus zu der Stelle, wo sein alter Lancia geparkt ist, und fährt nach Plymouth. Es ist schon fast dunkel, als er dort ankommt. Die Klinik kommt ihm wie einer der schrecklichsten Orte vor, an denen er je gewesen ist. Er kann die Notaufnahme nicht finden. Eine Zeitlang steht er im erleuchteten Eingangsbereich der Urologie, bis ein Pförtner ihn fragt, ob alles in Ordnung sei, und ihm den Weg zeigt – einen zwischen Büschen hindurchführenden Pfad, der zu einem Vorplatz führt, wo Krankenwagen um breite Türen mit Gummiflansch geparkt sind. Am Empfang will die Frau hinter dem Glas wissen, in welcher Beziehung er zu Maud steht, und nach kurzem Zögern sagt er, er sei mit ihr befreundet. Sie will ihm nichts über Mauds Befinden, ihren Zustand sagen. Er denkt, dass sie es wahrscheinlich nicht weiß. Er setzt sich im Wartezimmer auf eine abgewetzte rote Bank. In seiner Nähe sitzt ein älteres Paar. Die beiden machen den Eindruck von Menschen, die kürzlich aus einer zerbombten Stadt geflüchtet sind – oder wie er sich solche Leute vorstellt. Eine halbe Stunde vergeht. Er geht zum Schalter zurück. Die Frau ist von einer anderen Frau abgelöst worden. Diese hier ist freundlicher. »Moment, bitte«, sagt sie. Sie ruft auf der Schwesternstation an, irgendwo auf der anderen Seite der Schwingtür. »Stamp«, sagt sie. »Ist heute Nachmittag mit dem Hubschrauber gekommen?« Sie hört zu, sie nickt. »Ja«, sagt sie, »okay … ja … ja … ein Freund … ja … in Ordnung … danke.« Sie legt auf. Sie sieht Tim an und lächelt.   Maud bleibt drei Nächte in der Klinik. Die erste Nacht verbringt sie auf der Intensivstation, dann wird sie zur Überwachung in einen älteren Teil der Klinik verlegt. Von den Fenstern der Station aus kann man zwar nicht das Meer, aber das vom Meer ausgehende Licht sehen. Zehn Frauen zu beiden Seiten des Zimmers, eine mit einer Kinderstimme hinter einem Wandschirm, so fettleibig, dass sie es nicht ertragen kann, angesehen zu werden. Vom Krankenhaus benachrichtigt, kommen Mauds Eltern aus Swindon zu Besuch. Sie sind beide Lehrer, vielbeschäftigte Menschen. Sie haben eine Tüte Schokokugeln und ein paar Zeitschriften mitgebracht, aus denen einzelne Bilder sorgfältig ausgeschnitten und vielleicht schon mit dem Gerät in der Küche laminiert worden sind, Bilder von der physischen Welt oder Bilder, die das menschliche Dasein illustrieren, jene Aspekte, die sich Schulkindern am ehesten vermitteln lassen. Ihre Mutter nennt sie Maudy, ihr Vater poliert seine Brille. Mitten in der Unterhaltung mit ihnen schläft Maud ein. Ihre Eltern sehen sie an, das wachsweiße Gesicht auf dem Kissen, den Verband um ihren Kopf, der einer enganliegenden Mütze gleicht. Sie schauen sich um, ob ein ruhiger und fachkundiger Mensch da ist, der die Dinge vielleicht in die Hand nehmen könnte. Bei ihrer Entlassung hat sie ein Gipsbein und ein Paar Krücken. Tim fährt sie nach Bristol zurück. Er hat die letzten drei Nächte in einem Hotel in der Nähe der Docks verbracht, wo chinesische Seeleute in Unterwäsche durch die überheizten Flure streiften, ein breithüftiges Schlendern von Zimmer zu Zimmer, jedes Zimmer mit offener Tür, auf den Betten fläzend Gruppen von Männern, die rauchten und fernsahen. Er verstaut ihre Krücken hinten im Wagen. Sie ist sehr still. Er fragt, ob er das Radio einschalten soll, und sie sagt, das sei ihr egal. Er erkundigt sich, ob sie Schmerzen hat. Er fragt, ob sie sich an irgendetwas erinnert. Er sagt, es tue ihm leid, und als sie fragt, wieso, sagt er, das wisse er nicht. Es tut ihm trotzdem leid. Dass sie sich verletzt hat. Ihre Wohnung liegt in der Woodland Road, nicht weit entfernt von der biologischen Fakultät der Universität, wo sie sich auf den Master vorbereitet. Sie wohnt hier schon seit mindestens sechs Monaten, doch für Tim hat der Ort, als er ihr die Treppe hinauf gefolgt ist, etwas seltsam Unbewohntes. Er hat Schwestern – die Zwillinge – und bestimmte Vorstellungen über Räume, die von Mädchen bewohnt werden, die Duftkerzen auf dem Kaminsims, Kleider, die auf Bügeln an der Rückseite von Türen hängen, Plaids, Regenmäntel, Fotos in herzförmigen Rahmen. In Mauds Wohnung sieht er nichts dergleichen. In dem kleinen Flur stehen aufgereiht zwei Paar Sport- und ein Paar Wanderschuhe. Die Möbel im Wohnzimmer sind in drei Brauntönen gehalten. An den Wänden hängen keine Bilder. Licht von der Straße dringt durch ein großes Fenster und fällt auf einen Teppich der Sorte, die dazu gedacht ist, jeglicher Beanspruchung standzuhalten. Alles ist ordentlich. Wenn es nach etwas riecht, dann nach dem Gebäude selbst. Sie setzt sich in einen der Sessel, die Krücken auf dem Boden neben sich. Er kocht ihr Tee, obwohl keine Milch im Kühlschrank ist. Sie ist blass. Sie sieht erschöpft aus. Er sagt, er finde, er solle die kommende Nacht auf dem Sofa schlafen, außer natürlich, es gebe jemand anders, den sie rufen könne. »Du sollst nicht allein sein«, sagt er. »Jedenfalls nicht in den ersten vierundzwanzig Stunden. Das steht in dem Merkblatt des Krankenhauses.« »Mir geht’s gut«, sagt sie, und er sagt: »Na ja, wahrscheinlich eher nicht. Jedenfalls noch nicht.« Ihre Schränke sind leer. Er geht in aller Eile einkaufen. Im Supermarkt fragt er sich, ob er ihre Lage ausnutzt, ob er alles andere als bloß ein hilfsbereiter Freund, sondern vielmehr ein manipulatives, berechnendes Arschloch ist. Aber der Gedanke führt nicht sehr weit. Er füllt den Korb, bezahlt und geht, Stadtwind im Gesicht, mit ausgreifenden Schritten zur Wohnung zurück. Er kocht ein Käsesoufflé. Er ist ein guter Koch, und das Soufflé ist leicht und appetitlich. Sie bedankt sich, isst davon drei Bissen. Sie schläft aufrecht sitzend im Sessel. Es ist ein wenig langweilig, ein wenig besorgniserregend. Als sie aufwacht, sehen sie eine Stunde fern, dann geht sie durch die Tür in ihr Schlafzimmer. Er räumt ab, liegt auf dem Sofa unter seinem Mantel wach. Er würde gern ein geheimes Tagebuch finden und über ihre geheimen Gedanken lesen. Ihre Sexphantasien, ihre Angst vor Einsamkeit, ihre Pläne. Hat sie ein Tagebuch? Seine Schwestern haben Tagebücher, ganze Bände, größtenteils mit kleinen Schlössern daran, aber er ist sich ziemlich sicher, dass Maud keines hat, und wenn, würde sie nicht ihre Sexphantasien, ihre Angst vor Einsamkeit verzeichnen. Durch die Gardine am Fenster sieht er einen leicht verwischten Mond, und als er die Augen schließt, sieht er Chinesen wie Zigarettenrauch dahintreiben. Er wacht auf, als Maud sich übergibt. Sie hat es bis ins Bad geschafft; die Tür ist offen, das Licht brennt, ein grelles Licht. Er sieht sie von hinten im Nachthemd, über das rosafarbene Waschbecken gebeugt. Viel zu erbrechen hat sie nicht. Er bleibt an der Tür stehen, um sie auffangen zu können, aber sie hat die Finger um die Hähne geschlungen, hat sich abgestützt. Das Krankenhaus ist fünf Fahrminuten entfernt, jedenfalls zu dieser Nachtzeit. Man nimmt sie sofort auf, fährt sie in einem Rollstuhl weg. Er kommt nicht mehr dazu, auf Wiedersehen zu sagen oder ihr viel Glück zu wünschen.   Als er am nächsten Morgen wiederkommt, sagt man ihm, sie liege auf Elizabeth Fry, einer Station im fünften Stock, auf der Vorderseite. Er steigt viele Treppen hinauf, breite grüne Stufen, ein Fenster bei jedem Absatz, sodass sich die Stadt beim Höherkommen immer weiter ausbreitet, sich als Konglomerat von Städten erweist, Dutzenden vielleicht, jede um das Skelett dessen gruppiert, woraus sie entstanden ist. Zunächst kann er Maud nicht finden. In ihren Betten, ihren Flügelhemden sind die Patienten einander seltsam ähnlich. Langsam geht er an den Fußenden von Betten vorbei, bis er sie schließlich zusammen mit fünf anderen in einem Anbau findet, Name und Aufnahmedatum auf die Weißwandtafel über ihrem Kopf geschrieben. Sie hat bereits Besuch, eine Frau mit langen, grauen, offen getragenen Haaren und Kitten-Heel-Schuhen mit Leopardenmuster an den...


Miller, Andrew
Andrew Miller wurde 1960 in Bristol geboren und lebt heute in Somerset. Alle seine Romane sind auf Deutsch bei Zsolnay erschienen, darunter 1998 Die Gabe des Schmerzes, für den er den Impac Dublin Literary Award bekam, und 2013 Friedhof der Unschuldigen, ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award. Sein neuer Roman Nachts ist das Meer nur ein Geräusch wurde 2017 veröffentlicht.


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