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Mohr Die Schützen

Roman

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ISBN: 978-3-89656-568-6
Verlag: Querverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz



Der Krieg als Schauplatz einer zaghaften Liebesgeschichte zweier Wehrmachtssoldaten. Berührend, bewegend, verboten. - Der Geschichtsstudent Timo beschäftigt sich für ein Seminar eher widerwillig mit den Kriegserinnerungen seines Großvaters Ernst. Bei den Recherchen stößt er allerdings auf überraschende Informationen, die seinen Forschergeist nun doch anregen. Er entdeckt nämlich, dass sich Ernst an der Ostfront in einen anderen Wehrmachtssoldaten verliebte. Bei seinem Großvater reißen Timos Nachforschungen alte Wunden auf. Er ist wie sein Enkel homosexuell, hat seine Liebe aber nie leben können, denn als er sich zum ersten und einzigen Mal in einen Mann verliebte, war er bereits verheiratet. Aus Mangel an Courage und Gründen der Vernunft entschied er sich für Ehefrau und Familie. Auch Timo und seinen jordanischen Freund Ammar trennen Welten. Enkel und Großvater machen sich auf den Weg, aus der Geschichte zu lernen - gemeinsam und jeder für sich. Am Ende erkennt Timo, dass er die Chance hat, die seinem Großvater verwehrt war: für seine Liebe zu kämpfen.

Thomas Mohr arbeitet als Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk. Er studierte Geschichte, Journalistik und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Schon vor seinem Magisterabschluss schrieb er für verschiedene Zeitungen und wechselte dann Anfang der 90er Jahre zu dem Radiosender NDR 2, für den er bis heute tätig ist. Die Schützen ist der erste Roman des 45-jährigen Hamburgers.
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Kapitel 2
Wenn er die Augen öffnete, schaute er direkt in die tief stehende Sonne. Zu dieser Tageszeit tat es noch weh, deshalb schloss er sie wieder. Seine Augenlider von innen betrachtet leuchteten in hellem Orange. Ernst atmete die heiße Spätsommerluft tief ein. Seit Wochen hatte er keinen Augenblick der Ruhe. Der Vormarsch in Russland schien fast noch reibungsloser zu verlaufen als die Eroberung Polens. Seit Juli ging es kontinuierlich Richtung Osten. Wenn nichts dazwischen kam, würde er Weihnachten im Kreml feiern. Da war sich Ernst sicher. Er öffnete die Augen, weil ein schwarzer Fleck die weißlich-orange Fläche auf der Netzhaut unterbrach. Erst erkannte er nur schemenhaft die Silhouette eines Mannes. Der Oberkörper wippte bei jedem Schritt mit, die typische Gangart energetischer kleiner Männer, die die Bewegung auf dem Innenfuß abrollten, um sich ganz zum Schluss mit dem großen Zeh noch einmal in die Höhe zu schnellen. Wahrscheinlich hat ihnen jemand einmal gesagt, dass sie dadurch größer wirken, dachte Ernst. Zwar sah er nur den Schattenriss, identifizierte aber selbst aus der Distanz seinen Kameraden und besten Freund Gustav. „Na, was sagst du?“, brüllte er schon von Weitem. Ernst wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Er hielt die Hand vor die untergehende Sonne, um Gustav fixieren zu können. Er hatte seinen Oberkörper entblößt. Das sah er. Satte Muskelpakete saßen auf Brust, Schultern und Oberarmen, obwohl sie knapp zwei Jahre aus dem Training waren. In Rostock hatten sie der Ruderstaffel ihres Gymnasiums angehört. Ernst hatte seine Muskeln verloren – aufgrund der Mangelernährung bei der Wehrmacht. Gustavs Organismus schien die einseitige Ernährung dagegen nicht zu stören. „Bist blind, oder was?“ Jetzt war er so nah, dass er die Sonne komplett hinter seinem kompakten Körper verdeckte. Wie bei einem Fotoapparat konnte Ernst nun die Blende so verändern, dass der Vordergrund sichtbar und scharf wurde. Als er ihn neu fokussierte, sah er auch gleich, was er schon längst hätte kommentieren sollen. „Du bist doch verrückt!“ Gustav hatte seine welligen schwarzen Haare abrasieren lassen. Er kehrte bestimmt gerade von der Entlausung zurück. Bei dem Vormarsch war Pflege von Körper und Material wieder einmal zu kurz gekommen, was schon nach wenigen Tagen zu ungebetenen Gästen geführt hatte. „Guck, alles ab!“ Gustav fuhr mit der Handfläche über seinen nackten Schädel. „Selbst am Sack. Da sollen die Filzläuse mal sehen, wo sie sich festbeißen.“ Ernst hätte jetzt viel sagen wollen. Dass anderes Ungeziefer keine Haare benötigt, um sich festzusetzen, dass Gustav wie ein Sträfling aussieht oder dass er die für ihre Freizeit gelockerte Anzugsordnung sehr strapaziert, wenn er halb nackt herumläuft, aber Gustav gackerte unaufhörlich mit seinem ansteckenden Lachen, dass Ernst keine Lust verspürte, den Vernünftigen oder gar den Vorgesetzten zu spielen, der er war. Ernst hatte es zum Oberfeldwebel geschafft und leitete die Gruppe, in der Gustav immer noch als Gefreiter diente. Ehrgeiz gehörte noch nie zu seinen Stärken, aber der Humor. Obwohl Ernst sich ehrgeiziger, erfolgreicher und zielstrebiger gab, war er immer stolz darauf gewesen, dass Gustav ihn zu seinem Freund gemacht hatte. Gustav lebte in einer unbeschwerten Leichtigkeit, von der Ernst sich gern anstecken ließ. Deshalb gab er sich auch jetzt einen Ruck und versuchte locker zu sein. „Dein Kopf sieht jetzt aus wie eine Eichel!“, lästerte Ernst. Der Spruch kam unfreiwillig gut an, Ernst hatte tatsächlich an die Frucht des Eichenbaums gedacht. Als Gustav aufschrie vor Gelächter, gab Ernst aber vor, die Pointe bewusst gesetzt zu haben. Die anschließende Stille nutzte Ernst für seinen einstudierten Auftritt. Er nahm eine feierliche Haltung an, setzte ein gespielt offizielles Gesicht auf und fingerte einen Umschlag aus seiner Brusttasche. „Der Herr … Post!“ „Von Elli? Ich glaub es nicht.“ „Ich hätte ihn fast selbst geöffnet, weil du so lange unterwegs warst.“ „Du weißt, dass du das nicht überlebt hättest.“ Gustav wandte sich mit suchendem Blick um. Er wollte das Lesen des Briefes an einem angemessenen Ort zelebrieren und ja nicht von Kameraden oder gar Vorgesetzten gestört werden. Ihm fiel ein verlassener Hochsitz am Waldrand ins Auge und die beiden gingen dorthin. Elli war eine weitere gemeinsame Leidenschaft der beiden: Ernsts Verlobte und Gustavs Schwester. Alle drei waren in demselben Kinderheim aufgewachsen, das zwar den romantischen Namen „Drachenhaus“ getragen hatte, aber die drei sehr wohl in nationalsozialistischer Gesinnung gradlinig zu jungen Erwachsenen heranbildete. Elli war irgendwann zu der eingeschworenen Männerfreundschaft dazu gestoßen. Sie liebte ihren Bruder kompromisslos. Und Gustav war es dann auch, der es einfädelte, dass Elli als Ernsts Freundin reibungslos in das Zweiergespann integriert worden war. Außenstehende hatten Probleme damit, die Konstellation zu verstehen, herauszufinden, wer mit wem wie verbunden war. Aber die drei genossen die Verwirrung. Gerade Elli liebte es, durch bewusst gelegte falsche Fährten, den Eindruck zu erwecken, sie sei Gustavs Freundin. Beim Öffnen des Briefes fiel ihnen zuerst ein Foto in die Hände. Es zeigte die drei im Sommer 1939 beim Zelten an der Ostsee. Elli in der Mitte, eingerahmt von Ernst links und Gustav rechts. Es war ihr erster und einziger gemeinsamer Urlaub gewesen. Zuvor hatten die drei das Kinderheim nur für organisierte Zeltlager verlassen, die Jungen als Mitglieder der Hitlerjugend, Elli mit dem Bund Deutscher Mädel. Die beiden betrachteten das Bild und waren in Gedanken sofort wieder zurück in diesem wundervollen Sommer. Die Welt mochte den bevorstehenden Krieg geahnt, die Eskalation mit Bestürzung verfolgt haben. Für Elli, Gustav und Ernst war es der schönste Sommer ihres Lebens. Während die Weltmächte Deutschland davon abhalten wollten, den Kontinent in einen Krieg zu verwickeln, quälten die drei ganz andere Probleme. Wohin fahren wir in den Sommerferien, wer leiht uns die Fahrräder, woher bekommen wir ein Zelt? Sie waren verliebt und naiv. Zumindest ihre Naivität hatten sie jetzt verloren. Neben dem Foto war ein schweres, kleines Paket in dem Brief. Gustav griff danach. Ein klimperndes Päckchen, gefertigt aus mehrfach gefaltetem Zeitungspapier. Er wog es in den Händen und sah fragend zu Ernst. Der entfaltete das Papier und gab den Blick frei auf zwei Silberketten mit zwei identischen Anhängern aus Kupfer. Gustav griff danach und musterte sie genau, während Ernst in der aus einer alten Zeitung fabrizierten Verpackung eine Papierrolle entdeckte. Er zog sie auf und fand diesen Text: „Zwei Schützen, um meine Schützen zu schützen.“ Das simple Wortspiel erklärte sich Gustav und Ernst sofort. Bei den Anhängern handelte es sich um Darstellungen des Sternzeichens Schütze, eine Anspielung auf ihren Geburtstag, den beide im Dezember feierten. Verlegen musterten sie die Anhänger. Öffentlich Schmuck zu tragen, war untersagt, deshalb platzierten die Männer den Talisman in ihrer linken Brusttasche, direkt am Herzen. Das Geschenk von Elli machte ihnen noch einmal bewusst, dass ihnen jeden Tag der Tod drohte, dass ihr wundervolles Dreigespann vom Krieg zerstört werden und dass der scheinbar ewige Sommer jederzeit enden konnte. Als der Krieg am 1. September 1939 begann, waren Ernst und Gustav gerade in ihr letztes Jahr am Gymnasium gestartet. Ernst musste Gustav ständig helfen und anspornen. Ohne Ernsts Unterstützung wäre Gustav nach der zehnten Klasse mit dem Abschluss der mittleren Reife abgegangen. Jetzt stand er kurz vor dem Abitur, was ihn und seine verbliebenen Verwandten sehr stolz machte, denn ein gehobener Bildungsabschluss war unüblich in seiner Familie von Werftarbeitern. Der Krieg veränderte aber alles. Am 2. September meldete sich Gustav – in glühender Anbetung Adolf Hitlers – freiwillig für den Dienst an der Waffe. Die Wehrmacht ordnete ihn sofort einer Ausbildungskompanie der Infanterie zu. Mit dieser spontanen Entscheidung hatte er Tatsachen geschaffen, die sowohl Ernst als auch Elli in einen Schock versetzten. Beide hatten gehofft, dass Gustav und Ernst zumindest bis zum Abitur nicht in den Krieg hineingezogen wurden. Tagelang quälte sich Ernst: Sollte er seinem Impuls folgen, es seinem Freund gleichtun und sich in das Kriegsgeschehen werfen? Oder sollte er den Weg beschreiten, den er sich vorgezeichnet hatte? Früher oder später würde er in den Krieg ziehen müssen, so viel war klar. Aber sollte er nicht doch versuchen, das Abitur zu machen? Er entschied sich für die Freundschaft mit Gustav. Und zwar ganz und gar: Er meldete sich für dieselbe Einheit an. Aufgrund seiner überdurchschnittlichen schulischen Leistungen in allen Fächern hätte er sich auch für eine Offizierslaufbahn entscheiden können. Die Loyalität zu seinem besten Freund wog in dem schwierigen Entscheidungsprozess schwerer. So war schon im September das Dreigespann zerschlagen. Die jungen Männer zogen in den Krieg. Zurück blieb Elli, die jeden Tag fürchtete, die beiden Menschen zu verlieren, die sie am meisten liebte. Deshalb schrieb sie so oft wie möglich Briefe an, wie sie zu sagen pflegte, „ihre Männer“. Und weil jeder Brief mehr als ein paar flüchtig verfasste Zeilen war, hüteten Ernst und Gustav ihre Zeilen wie einen Schatz. Die liebevollen Worte spendeten Trost, wenn Heimweh plagte, aber sie bewiesen auch, dass in Rostock der Alltag weiterging. Wenn der Krieg erst einmal vorüber war, konnten sie zurück in ihr normales Leben. Die Briefe waren ein Pfand dafür, dass Elli ihnen zu Hause ihren Platz freihielt. In diesem Brief...


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