Šnajder | Die Reparatur der Welt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

Šnajder Die Reparatur der Welt

Roman

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

ISBN: 978-3-552-05940-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Gesandten Maria Theresias reisen in die Hungergebiete des Schwabenlandes und locken Urvater Kempf nach "Transsilvanien". Mehr als 150 Jahre später kommen erneut Gesandte, die die sogenannten Volksdeutschen heim ins Reich holen und für die Waffen-SS rekrutieren sollen. Der Dichter Georg Kempf wird an die Ostfront geschickt, desertiert und kehrt nach Kriegsende nach Jugoslawien zurück, weil ihm die Russen schriftlich attestieren, "für die richtige Sache" gekämpft zu haben. Georg freundet sich mit der Partisanin Vera an, sie heiraten. Doch die Geschichte macht es ihnen schwer, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Ein sprachmächtiges Epos von den Extremen des 20. Jahrhunderts am Schicksal einer Familie.
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Der bunte Flötenspieler von Hameln   In Deutschland schreibt man ein Hungerjahr. Es regnet ohne Unterlass, alles ist vermodert. Die Kartoffel ist noch nicht als Freund der Armen erkannt, manche ziehen sie nur ihrer schönen Blüten wegen. Stürme wälzen das Korn nieder. Auch die Kriege haben das ihre getan. Soldaten essen, säen aber nicht. Die Ställe stehen leer, kein Vieh ist zu hören, dafür wimmern die Häuser vor Hunger. Die Armut hat keine Freunde. An den Herbstabenden sitzen die Männer um eine Öllampe, schweigen und rauchen ihre Pfeifen, die Frauen schneiden Kohl klein. Es gibt nichts anderes als Kohl, und der hängt allen zum Hals heraus. An einem solchen Abend trat ein Unbekannter in den schwachen Lichtkreis der Öllampe. Weder konnte sich später jemand erinnern, wer ihn ins Haus gelassen, noch ob man ein Anklopfen gehört hatte. Er war von mittlerem Wuchs oder etwas darunter. Als er den Hut abnahm und sich tief verbeugte, sah man seine leuchtende Glatze. Er schien eine Schnauze zu haben, ja, er hatte statt der Nase einen Zinken und dazu noch einen gewaltigen Schnurrbart. Und doch konnte das ein menschliches Gesicht mit einem etwas ausgeprägten Profil sein. Aber alle schworen auf eine Schnauze. Man ist immer schnell dabei, einen Fremden schlechtzumachen. In dem Dorf hatte man seit dem Krieg keinen Menschen mehr gesehen, der nicht hier geboren worden war. Ob dieser eine Schnauze oder ein Gesicht mit einer großer Nase hatte, blieb ungeklärt; alle waren sich jedoch darin einig, dass es in der ganzen Erscheinung des Unbekannten etwas gab, das bei ihnen, ohne dass sie wussten, warum, Gänsehaut hervorrief. Dazu auch ein Schaudern, denn er war kein gewöhnlicher Mensch. Es ist so langweilig zu hungern. Der Unbekannte brachte Unruhe unter dieses Dach. Würde das gut ausgehen? Einer der angeseheneren, jedenfalls stattlicheren Männer im Dorf griff zur Axt hinter dem Ofen, aber ein anderer fasste ihn an der Hand. »Siehst du denn nicht, dass dieser Herr uns etwas sagen will?« Der Unbekannte verneigte sich tief vor seinem Befürworter, schnäuzte sich (einige der Anwesenden behaupteten bis zu ihrem Lebensende steif und fest, dass er seinen Rattenschwanz einrollte und in die Hose stopfte) und begann seine Rede so: »Meine Herrschaften! Erlaubt mir, mich an euch im Namen meines Herrn zu wenden, dessen gehorsamer Diener ich bin. Für ihn würde ich alles tun, und sagte er mir etwa: ›Geh zum Bach und ertrinke ein bisschen‹, würde ich es glatt tun. Meinem Herrn ist euer Leid wohlbekannt, ich komme in seinem Auftrag, um euch die Rettung anzubieten.« Die Frauen schoben die Berge kleingeschnittenen Kohls beiseite, rückten näher und setzten sich auf den Boden. Der Unbekannte verneigte sich wieder. »Schaut euch doch um: nichts als Not und Elend. In den Räucherkammern gähnende Leere, die Ställe verödet, was es dort gab, wurde geschlachtet, im Dorf hinter dem Berg ist die Pest ausgebrochen. Von den Kartoffeln ist nur ein schwarzer, giftiger Brei geblieben. Ich weiß, dass früher Menschen mit ähnlichen Angeboten zu euch kamen. Ich weiß, dass es solche gibt, die die deutschen Lande bereisen und Kinder stehlen, was nachher den Zigeunern untergeschoben wird. In den deutschen Landen wissen alle von dem bunt gekleideten Flötenspieler, der die Bürger der Stadt Hameln in Niedersachsen schändlich betrogen hat. Er soll alle ihre Kinder entführt haben, sie sollen verschwunden sein, einfach so verschwunden, in einem Berg … Aber das ist eine üble Verleumdung!« … An der Stelle vollzog der Unbekannte eine seiner zeremoniellen Verbeugungen … »Meine Herrschaften! Wer hat je gehört, dass ein Berg sich wie ein Wolfsrachen öffnet?« »Und wer hat je eine Ratte reden hören«, fiel ihm der älteste Bauer ins Wort, der später sogar noch auf dem Totenbett behauptete, der Unbekannte sei eine Ratte gewesen, eine sehr große, etwas wie eine Überratte. »Jemand muss doch reden! Ihr aber tut nichts als schweigen und leiden! Wäre unter euch ein richtiger Mann, würde er verstehen, was ich euch sagen will. Ihr braucht einen Führer!« »Wir wissen, dass in jener Stadt Hameln nahe Hannover ein wandernder Scharlatan versprach, die Stadt von den Ratten zu befreien, und dann mit seinem Flötenspiel die Kinder entführte, von denen man nie mehr etwas gehört hat. Man hätte ihn mit einer Axt totschlagen sollen.« »Das ist eine traurige Geschichte«, sagte der Unbekannte. Aber jede Geschichte hat zwei Enden: Das erste wird nach einem Tag mühseligen Hackens und Pflügens erzählt, das zweite am Tag des Herrn.« »So nenn uns denn das erste Ende.« »Der Tod, natürlich, und sterben kann man überall.« »Und das Ende für den Sonntag?« »Transsilvanien.« Keiner der Anwesenden hatte je etwas von diesem Land gehört. Ein Schweigen erfüllte die Stube und breitete sich auch unter anderen Dächern aus. Das ganze Dorf lauschte. Die bis dahin geführten Gespräche versiegten. »Etwas Aufmerksamkeit, meine Herrschaften, unterbrecht mich bitte nicht, sonst verliere ich den Faden, und wenn ich den Faden verliere, seid auch ihr verloren.« Der Mann, der ihn als Erster anfallen wollte, griff wieder zur Axt. »Meine Herren«, verbeugte sich der Unbekannte, »hört zu, was ich euch zu sagen habe, danach könnt ihr mich erschlagen, falls es euch gelüstet, einen Fremden zu töten. Das ist immer leicht getan. Aber wozu, wenn ich euch eine gute Nachricht, ein neues Evangelium bringe.« »Von dieser Sorte gibt es hier Legionen. Bei der Kirchweih kann man für eine kleine Münze von einem Hasen oder von einer bärtigen Frau eine gute Nachricht bekommen.« »Aber ihr wisst wenig, darum habt ihr auch keine Ahnung, wo das Glück auf euch wartet. Hinter den sieben Bergen, die ihr einigermaßen kennt, liegen andere und wieder andere, die euch unbekannt sind. Durch diese Berge hindurch fließt ein großer Strom, den man mit etwas Glück sorglos und preiswert befahren kann. Nachdem er die Berge hinter sich gelassen, durchquert der Strom eine Ebene. Die Erde dort ist schwarz und so fruchtbar, dass man schon eine Woche nach der Aussaat ernten kann. Das ist jenseits der großen Wälder, die niemandem gehören und wo man nicht wegen eines gesammelten Bündels Holz ausgepeitscht wird. Dort in der Ferne liegt Transsilvanien. Dort wird es euch gutgehen, hier gibt es für euch kein Leben, hier werdet ihr verenden zusammen mit den Ratten, da braucht euch kein Flötenspieler aus Hameln die Kinder zu rauben; ihr werdet an Hunger und Pest sterben oder von uniformierten Säufern erschlagen.« Schweigen breitete sich aus. Nur der Regen war zu hören, der wer weiß zum wievielten Mal in diesem Hungerjahr herunterprasselte. »Wenn diese Erde so gut ist, warum bearbeitet sie niemand?« »Für diese Erde ist kaum ein Pflug vonnöten.« Unter dem Dach war es still, als hätte auch der Regen aufgehört. »Wenn die Erde so gut ist, wird sie bestimmt jemandem gehören.« Der Unbekannte verneigte sich: »Freilich. Alle gute Dinge haben ihren Besitzer.« »Mir scheint«, sagte einer, »dieser Geselle will uns für das Heer anwerben! Am besten«, flüsterte er, »wir bringen ihn nach draußen und erschlagen ihn hinter dem Haus.« Obwohl diese Worte hinter der Wand aus Kohlköpfen geflüstert wurden und man sie gar nicht hören konnte, vernahm der Unbekannte sie. »Lasst mich wenigstens ausreden. Mein Herr hat viele Besitztümer in Transsilvanien. Dort gibt es keinen Hunger, keine Not.« »Aber wenn die Erde dort so fruchtbar ist, warum geht dein Herr nicht selbst zum Acker und besamt ihn?« In diesem Augenblick begannen einige zu glauben, es sei vielleicht doch etwas Wahres an dem, was der Mann erzählte. Unter diesem Dach bildeten sich zwei Parteien: Die einen waren dafür, dass man den Fremden auf der Stelle erschlug, die anderen fanden, man müsse ihm eine Chance geben. Die Angeseheneren unter den Männern zogen sich in einen anderen Raum zurück, um zu beratschlagen, was zu tun sei. »Meine Herrschaften! Wenn ich richtig sehe, seid ihr sehr uneins«, sagte der Unbekannte, als die Männer aus den Kohlköpfen zurückkehrten. »Deshalb leidet ihr so große Not, deshalb knurren eure Mägen. Ihr braucht einen Führer. Selbst einer, den ihr auf der Stelle töten würdet, ist besser als gar keiner. Ich kann euch nicht als solcher dienen, da ich selbst schon geführt werde. Aber einen besseren als meinen Herrn werdet ihr nicht finden, dafür verbürge ich mich, denn ich habe auch keinen besseren gefunden. Darf ich mich jetzt verabschieden?« Da die Abstimmung unentschieden ausfiel, wurde ihm das gewährt. »Bereitet euch vor! Zu gegebener Stunde werdet ihr mehr wissen. Dann und nicht früher komme ich wieder!« Der Unbekannte verschwand, aber, wie alle beteuerten, nicht durch die Tür. Offenbar war er durch ein Loch in der Wand geschlüpft, das bis dahin niemand bemerkt hatte. Man konnte annehmen, er sei ein Gedanke aus der Vergangenheit. Gar niemand glaubte, dass er aus der Zukunft kam. Die Gedanken, sogar die schlimmsten, kennen keine Hindernisse. Sie werden nicht legitimiert, dringen durch Wände, reisen schnell. »Dann komme ich wieder!« Die Worte, mit denen der Unbekannte sich verabschiedet hatte, klangen allen noch in den Ohren. Man wusste nicht recht, ob sie eine Drohung oder eine Verheißung waren. Transsilvanien? Das Land hinter sieben Bergen? Jenseits der Wälder? Nach dem Urteil der Klügsten unter ihnen lag das in großer Ferne, irgendwo am Rande der Erdscheibe. Von diesem Rand könne man unschwer in ein Nichts stürzen, aber wo bliebe dann das Glück? Das wäre wie – ersaufen. So wie alle Ratten von Hameln ersoffen sind. Allerdings...


Šnajder, Slobodan
Slobodan Šnajder, geboren 1948 in Zagreb, war langjähriger Chefredakteur der Theaterzeitschrift PROLOG. Er schreibt Prosa, Essays und vor allem Theaterstücke. International bekannt wurde er durch sein Stück Der kroatische Faust. Er ist politischer Kolumnist der Tageszeitung Novi list und seit 2001 Intendant des Theaters der Jugend, Zagreb. Für den Roman Die Reparatur der Welt wurde er mehrfach ausgezeichnet.


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