Neiman / Wildt | Historiker streiten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Neiman / Wildt Historiker streiten

Gewalt und Holocaust – die Debatte

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-8437-2766-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der neue Historikerstreit über die Wurzeln des Holocaust und die Gewalt im 20. Jahrhundert
Erneut steht die Frage im Raum: War der Holocaust ein singuläres Ereignis, und wie unterscheidet er sich von anderen Völkermorden? Heute geht es nicht mehr um den Vergleich mit den stalinschen Gräueln wie noch beim ersten Historikerstreit 1986/87. Das drängende Problem der Gegenwart ist: Wie kann eine Gedenkkultur aussehen, die auch die lange verdrängten deutschen Kolonialverbrechen einbezieht?
Mit Beiträgen von  Emily Dische-Becker, Omer Bartov, Yehuda Bauer, Sebastian Conrad, Mischa Gabowitsch, Mario Keßler, Sami Khatib, Volkhard Knigge, Per Leo, Eva Menasse, A. Dirk Moses, Jan Philipp Reemtsma, Ingo Schulze, Fabian Wolff und Benjamin Zachariah.
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Susan Neiman
Wie die beiden Historikerstreite zusammenhängen
Ich finde es ironisch, dass es einer Philosophin zufällt, den Mangel an historischem Bewusstsein in beiden Historikerstreiten zu bemerken. Als ich mich für den ersten Historikerstreit zu interessieren begann, vor allem daran, wie er in Erinnerung geblieben ist, war er noch keineswegs allgegenwärtig, sondern kaum mehr präsent. Und es gab keinen Historikerstreit 2.0. Am ersten Historikerstreit könnte heute die Geschwindigkeit faszinieren, mit der er vergessen worden ist. 1987 gab es hierzulande einen fast durchgehenden Konsens: Nolte und Hillgruber gehören zu den Ewiggestrigen, Habermas und Augstein haben in der Öffentlichkeit gesiegt. Den Holocaust dürfe man nicht mit anderen Verbrechen vergleichen, nicht einmal mit Stalins Mordtaten, die 1986/87 hinreichend bekannt waren. Die DDR, die nach einem Zeit-Artikel der Philosophin Margherita von Brentano, Akten- statt Leichenberge hinterlassen hatte, spielte im Historikerstreit kaum eine Rolle. Doch kaum war nur zwei Jahre später die Mauer gefallen, wurde ständig von den »zwei deutschen Diktaturen« geredet. Konservative beeilten sich, Hunderttausende von angeblich systemnahen Ostdeutschen von ihren Posten zu entfernen, mit der Begründung: Wir geben ja zu, die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit war nicht besonders gründlich – dieses Mal aber wollen wir es richtig machen. Der eben erst gefundene Konsens, dass die Nazi-Verbrechen unvergleichlich seien, war verschwunden. Eine weichere Variante war bei Linksliberalen zu hören: »Ich will ja nicht gleichsetzen, aber …«, um dann doch das Unrecht der DDR so sehr an Nazi-Unrecht heranzurücken, dass es einer Gleichsetzung nahekam. Wie Ingo Schulze geschrieben hat: Sobald man einen Staat als Unrechtsstaat bezeichnet, braucht man nicht mehr über ihn nachzudenken. Niemandem schien dabei aufzufallen, dass damit auch die Singularitätsthese über den Haufen geworfen war. Vergessen war aber auch – und das spielt für die jetzigen Debatten eine große Rolle –, dass die Singularitätsthese keine metaphysische Festlegung, sondern eine politische Antwort auf bestimmte historische Verhältnisse war. Der erste Historikerstreit brach ein Jahr nach der berühmten Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985 aus, und die war damals höchst umstritten. Viele Deutsche, vor allem aus der Nazi-Generation, waren noch keineswegs bereit, ihr Selbstbild als Opfer des Krieges aufzugeben und die Täterrolle zu akzeptieren, wie sie Weizsäcker, wenn auch sanft, seinen Landsleuten empfahl. Auch Nolte und seine Mitstreiter suchten weniger das metaphysisch Absolute als vielmehr politische und psychologische Entlastung, nach dem Motto: »The Bolsheviks made us do it.« Das ist zwar kindisch ausgedrückt, aber der Hinweis auf die Verbrechen anderer als Entlastung für die eigenen hat mehr als kindische Folgen. Denken wir nur an Hitlers Verweis auf den Raubmord an den Ureinwohnern des amerikanischen Kontinents, mit dem er seinen Drang nach Osten rechtfertigte. Zur Zeit des ersten Historikerstreits waren solche Stimmen in Westdeutschland noch sehr präsent, ebenso der Glaube, man habe vor allem in der Wehrmacht gekämpft, um Familie und Heimat vor den asiatischen Horden zu verteidigen. Es würde noch fast ein Jahrzehnt bis zur ersten Wehrmachtsausstellung dauern, und selbst dann schienen die systematischen Verbrechen der Wehrmacht im Osten für viele eine große Überraschung zu sein. Die Kinder der Nazis und ihrer Mitläufer hingegen mussten gar nicht erst Nolte lesen, um diese Abwehrgesten zu verabscheuen. Sie hatten ja selbst erlebt, wie die Vergleiche ihrer Eltern immer nur dazu dienten, deutsche Schuld zu verkleinern. Inzwischen aber behandeln manche Autoren die Singularitätsthese, als ob sie ein Teil der Heiligen Schrift wäre, und nicht eine sinnvolle politische Intervention in einem bestimmten historischen Kontext. Nachdem sie jahrzehntelang vergessen war, wird sie plötzlich wiederentdeckt – seitdem es nicht um Kommunisten, sondern um People of Color geht. Dies ist, glaube ich, weniger eine Folge von latentem Rassismus als eine Folge von dem, was Willi Winkler den »verordneten Antikommunismus« nennt – sowie der kurzlebigen Erinnerung an historische Zusammenhänge. Aber ist nicht doch etwas Singuläres am Holocaust? Diese Debatte gibt es auch unter Juden. Nationalistische Juden behaupten, dass es nie zuvor ein vergleichbares Verbrechen gegeben habe; genauso behaupten nationalistische Afroamerikaner, etwa die Afropessimisten, dass die rassistischen Verbrechen gegen Schwarze älter, schwerwiegender und dauerhafter als alle anderen sind. Für Universalisten, ob jüdisch, schwarz oder sonst was, ist eine solche Opferkonkurrenz mehr als unsinnig: Es schwächt die Solidarität, die wir brauchen, um gemeinsam gegen alle Formen des Rassismus zu kämpfen. Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen der Verfolgung der Juden und der Verfolgung der Schwarzen. Die Vorurteile gegenüber diesen beiden Gruppen sind höchst unterschiedlich, und die Abneigungen gegenüber Asiaten oder indigenen Völkern sind wiederum anders gelagert. Methoden von Verfolgung und Mord variieren je nach Kultur und Zeitalter. Solche Unterschiede können von Historikern, Anthropologen und Soziologen detailliert untersucht werden. Moralisch gesehen sind sie aber belanglos. Wird ein Mensch allein wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe verfolgt, handelt es sich um Rassismus, und dieser muss bekämpft werden – egal, wo und wie er erscheint. Dies zu behaupten, ist keine Relativierung des Holocausts – geschweige denn eine Form des Antisemitismus –, sosehr nationalistische Juden, die das Leid des eigenen Stammes priorisieren, dies auch behaupten mögen. Diese universalistische Haltung ist keineswegs nur bei kosmopolitischen Linksintellektuellen zu finden. Es zeigte sich in der gewaltigen Unterstützung der jüdischen Gemeinden Amerikas für »Black Lives Matter« nach dem Tod von George Floyd. Sämtliche jüdische Einrichtungen, darunter eine Reihe von Holocaust-Museen und Forschungszentren, wollten es nicht nur bei Demonstrationen belassen. Sie haben überdies Programme, Ausstellungen, Vortragsreihen entwickelt, um den amerikanischen Rassismus ein Stück aufzuarbeiten. Der Drang nach Solidarität war viel stärker als der Impuls, die Singularität des Holocausts zu behaupten. Dabei waren sie sogar sehr bereit, aus der deutschen Erfahrung zu lernen. Denn sie mussten nicht warten, bis die Literaturwissenschaft die »multidirektionale Erinnerung« entdeckte. Diese Erinnerung durchzieht die amerikanische Geschichte seit der Sklavenzeit. Versklavte Afrikaner schöpften Hoffnung aus biblischen Geschichten der Hebräer, die Sklaven in Ägypten waren. Die Gospel-Lieder, die diese Hoffnungen reflektieren, werden heute noch gesungen. Nach dem Bürgerkrieg schufen jüdische Unternehmer über fünftausend Schulen für die befreiten Afrikaner, denen Lesen und Schreiben während der Sklavenzeit verboten gewesen war. In den 1930er-Jahren berichteten afroamerikanische Zeitungen von der Verfolgung der Juden in Deutschland und zogen immer wieder Parallelen zur eigenen Erfahrung. Diese Parallelen waren nicht zufällig: Inzwischen wissen wir, dass Nazi-Juristen die amerikanischen Rassengesetze studierten, als sie die Nürnberger Gesetze schrieben). Viele Professoren, die aus Deutschland und Österreich emigrieren mussten, fanden Stellen an schwarzen Colleges. Albert Einstein war nur der bekannteste Emigrant in den USA, der sich, kaum den Nazis entronnen, stark für die Bürgerrechtsbewegung engagierte. Obwohl sie nur 2 Prozent der Bevölkerung stellten, machten Juden 30 Prozent aller Weißen aus, die in den 1960er-Jahren im tiefen Süden für die Bürgerrechte der Schwarzen kämpften, als solches Engagement manchmal tödlich war. Auch wenn spätere Spannungen, für die beide Gruppen verantwortlich waren, diese Erinnerungen trübten, sind sie nie ganz verschwunden. Dass die Demokraten, jedenfalls vorläufig, überhaupt eine Chance zu regieren haben, liegt vor allem daran, dass im vergangenen Januar ein Schwarzer und ein Jude zusammen kämpften und so die Senatswahlen in Georgia gewannen. Von Paul Robeson über Bob Dylan bis Toni Morrison gehört es zur amerikanischen Kultur, diese geteilte Erinnerung wachzuhalten. Die Enthistorisierung der Singularitätsthese verhindert daher die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung. Und diese muss ausdrücklich gewürdigt werden – etwas, was leider nie so recht in Mode gekommen ist. Nicht nur Menschen, die sich »Anti-Deutsche« nennen, sind von vornherein überzeugt, dass es außer Brotbacken nichts von den Deutschen zu lernen gäbe. Solche Vorwürfe bestätigen eine der Hauptthesen meines Buches Von den Deutschen lernen: In keinem anderen Land wird selbst verhaltenes Lob so scharf zurückgewiesen. Kritik ist dagegen immer willkommen. Doch das, was bisher erreicht wurde, als leeres Ritual zu verwerfen, ist ziemlich provinziell, von anderen Ländern aus gesehen Meckern auf hohem Niveau. Schwarze Amerikaner müssen immer noch in einem Land leben, wo Konzentrationslager als Hochzeitskulissen dienen und Symbole der Sklavenzeit von Abermillionen Weißen verherrlicht werden – beispielsweise bei dem versuchten Coup am 6. Januar 2021. Sie wären zutiefst dankbar, wenn Denkmäler für die Opfer und nicht für die Täter gebaut würden – und auch geschätzt, selbst wenn sie bloß »Kranzabwurfstellen« sein mögen. Das wäre wenigstens eine offizielle Anerkennung nationaler Schuld; Gesinnungsänderungen dauern natürlich länger. Derzeit gibt es noch keinen Bürgerkrieg, aber »Geschichtskriege«, wie die Amerikaner sagen. Sie finden nicht nur in den Feuilletons, sondern auch auf...


Wildt, Michael
Michael Wildt, geboren 1954 in Essen, ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Studie Generation des Unbedingten gilt als Schlüsselwerk zum Verständnis des Nationalsozialismus. Zuletzt veröffentlichte er den Bestseller Zerborstene Zeiten (2022).

Neiman, Susan
Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums. Geboren in Atlanta, Georgia, studierte sie Philosophie an der Harvard Universität und der Freien Universität Berlin. Bevor sie 2000 die Leitung des Einstein Forums übernahm, war sie Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt erschien Von den Deutschen lernen (2020).

Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums. Geboren in Atlanta, Georgia, studierte sie Philosophie an der Harvard Universität und der Freien Universität Berlin. Bevor sie 2000 die Leitung des Einstein Forums übernahm, war sie Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt erschien Von den Deutschen lernen (2020).


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