Niemeyer | Die dunklen Seiten der Jugendbewegung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 276 Seiten

Niemeyer Die dunklen Seiten der Jugendbewegung

Vom Wandervogel zur Hitlerjugend

E-Book, Deutsch, 276 Seiten

ISBN: 978-3-7398-0611-2
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Das Buch versucht erstmals seit fünfzig Jahren eine kritische Gesamtdarstellung der deutschen Jugendbewegung, bewusst nicht endend 1933, sondern 1945. Die zentralen Ergebnisse dieser detektivisch angelegten Arbeit werden mittels der provokanten Leitfrage nach einer Erziehung vor Auschwitz organisiert und sind aufrüttelnd, teils schockierend. Zerstört wird endgültig der Mythos, den NS-belastete Jugendbewegungsveteranen - wie die Historiker Günther Franz und Theodor Schieder -
mittels williger Helfer über Jahrzehnte hinweg und wider besseres Wissen um den Wandervogel und das Meißnerfest vom Oktober 1913 verbreitet haben.

2. Auflage mit einem Vorwort von Micha Brumlik.
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Einleitung Warum man der DFG dankbar sein sollte
„Dem Staat ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit.“ (Friedrich Nietzsche) Das Hohe Lied auf das Meißnerfest und die Meißnerformel vom Oktober 1913 wird in Tagen wie diesen und sicherlich auch später immer mal wieder gern angestimmt werden. Derlei Jubel scheint der Sache nach gerechtfertigt zu sein, die Meißnerformel selbst ist über jeden Verdacht erhaben: Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.1 Dies war damals fortschrittlich, mutig, wenn nicht geradezu verwegen, wie das von Peter Dudek2 in Erinnerung gerufene Beispiel des Hamburger Lehrers Max Tepp lehrt. Er nämlich verweigerte nach 1918 mit erstaunlicher Verbissenheit, unter Berufung auf die für ihn verpflichtende Meißnerformel, den Amtseid selbst auf die Weimarer Reichsverfassung. So betrachtet scheint es folgerichtig, dass das Tepp-Vorbild Gustav Wyneken (1875–1964) im Mai 1947 seiner Meinung Ausdruck gab, die Nazis hätten wohl kaum die Macht erobern können, „wäre dieses Bekenntnis der Glaube des ganzen deutschen Volkes gewesen.“3 Im Wörtchen ‚wäre‘ verbirgt sich indes schon das ganze Problem, deutlicher: In den vielen völkisch orientierten Jugendbewegten, die die Meißnerformel von Beginn an als ‚kosmopolitisch‘ bekämpften (s.S. 186 ff.).4 Terminologisch geredet und auf das hinter diesem Dissens verborgene Problem bezogen: Wenn soziale Bewegungen „kollektive Aktivitäten von einer gewissen Dauer [sind], die auf eine mehr oder weniger tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft oder deren Verhinderung abzielen,“5 ist die um 1900 anhebende und angeblich 1933 infolge von Verbot oder freiwilliger Gleichschaltung endende bürgerliche Jugendbewegung sicherlich eine soziale Bewegung gewesen. Sie kann, etwa in der Linie einer Bemerkung Wynekens, als „Glied in einer Kette neuzeitlicher Emanzipationsbestrebungen“6 lesbar gemacht werden. Dies würde es erlauben, den 1896 noch für die Arbeiterbewegung reservierten Begriff der sozialen Bewegung um das Attribut „neu“ zu erweitern.7 Freilich, und um vorerst noch einmal die Prämisse in Augenschein zu nehmen: Wollte die Jugendbewegung eigentlich eine Veränderung im Positiven, also im Sinne der Meißnerformel? Oder war sie doch eher negierend tätig, also gegenaufklärerisch in Richtung einer bereits für überwunden geglaubten Gesellschaftsverfasstheit oder in Richtung eines als verblasst deklarierten spezifisch deutschen Mythos? Die in (pädagogischen) Lexika dargebotenen Antworten weisen in der Regel in die erstgenannte Richtung. Die Jugendbewegung gilt hier oftmals als „Erneuerungsbewegung.“8 Dem folgt im gegebenen Fall, dass erst spät („spätestens 1933“) „sichtbar [wird], dass Teile der J. die Nähe zu rechtsextremen und nationalsozialistischen Organisationen nicht vermieden, z. T. sogar aktiv gesucht haben.“9 In der Hauptsache dominiert in Darstellungen dieser Gattung also das Bild einer Bewegung, „in der sich die (bürgerliche) Jugend von den starren Lebensformen der Erwachsenen (Familie, Schule, Betrieb, Armee, Kirche) zu befreien und den Prozess ihrer Sozialisation selbst mitzubestimmen suchte.“10 Ein weit weniger günstiges Urteil ergibt sich in der Linie einer Erwägung von Theodor W. Adorno, der in den 1950er Jahren den Einwand zu Papier brachte: Man weiß, wohin es die Jugendbewegung gebracht hat; wie ohnmächtig und unwahr sich der Versuch erwies, die Ferienmaskerade zum Sinn des Daseins zu erheben.11 In der Folge konkretisierte sich diese Kritik, zumeist (weiterhin) im Widerspruch zum (deutschen) Mainstream,12 auf den offenbar auch Justus H. Ulbricht 1989 zielte bei seinem Argument (unter Berufung auf Emigranten wie Walter Laqueur und George L. Mosse13): Es wäre […] falsch, die problematische Entwicklung der Jugendbewegung […] auf den Zeitraum nach 1918 zu begrenzen. Schon der Jugendbegriff der Vorkriegsbewegung war politisch nicht mehr unschuldig, spielten in ihm doch Kategorien wie ‚Heimat‘, ‚Volk‘ und ‚ Vaterland‘ eine eminente Rolle.14 Wohl wahr und mit einem zwanzig Jahre jüngeren Zitat aus der Feder Winfried Mogges, dem langjährigen Leiter des Burgarchivs, geredet: Einige Blicke schon in die frühesten Bundeszeitschriften zeigen, dass die sozusagen offizielle Wandervogelbewegung längst vor dem ersten Krieg im völkischen Lager stand. Genauer: Man findet fast keine anderslautenden Texte.15 Äußerungen wie diese waren fördernd für ein Projekt wie das auf den nächsten Seiten zu besichtigende. Es basiert auf langjährigen Studien, auch im Archiv der deutschen Jugendbewegung (im Folgenden: AdJb16) auf Burg Ludwigstein, und es soll auch dem Einsteiger den Stand der Jugendbewegungsforschung anschaulich machen. Eine Warnung ist dabei vorab vonnöten, ausgehend vom hier als Motto vorangestellten Zitat Nietzsches,17 das schon Harry Pross (s. S. 28 ff.) beflügelte.18 Pross war es denn auch, der die Erfahrung machen musste, dass Forschungen zur Jugendbewegung durchaus en vogue und beliebt sind – allerdings, mit Nietzsche gedacht, nicht allzu kritisch, also ‚nützlich‘ sein sollten. Diesen Rückschluss erlaubt der Umstand, dass die DFG 2012 einen Forschungsantrag19 ablehnte, der in Weiterführung einschlägiger Vorstudien20 darauf zielte, „Motive für Auslassungen“ in Werner Kindts Dokumentation der Jugendbewegung im „NS-apologetischen Bereich“ zu erkunden. Die denkwürdige Begründung lautete, die „kritische Revision“, die durch das Projekt in Aussicht gestellt werde, sei „in der neueren Forschung zur Jugendbewegung […] längst angekommen.“21 Dies erinnert ein wenig an Arno Klönnes Argument von 2009, die auf den hier thematischen Bereich bezügliche „gezielte Vergesslichkeit“ bzw. „Gedächtnisschwäche“ sei „inzwischen weitgehend korrigiert.“22 Ist dem aber wirklich so? Ein Beispiel kann hier vielleicht weiterhelfen: Sven Reiß verwies 2010 im Jahrbuch des AdJb darauf, dass in der Kurzbiographie der Kindt-Edition über den durch die Nazizeit als ‚Fachredner für Rassepolitik‘ (1937) – außerdem SA, NS-Lehrerbund, HJ (1933), NSDAP (1937) – schwer belasteten und von seinem (vormaligen) Kameraden Karl Thums (auch deswegen) hoch geschätzten (s. S. 46) Pfadfinderführer Heinrich Banniza von Bazan (1904–1950) nur mitgeteilt werde, „dass er Oberstudienrat wurde und sich seit 1924 als Familienforscher betätigte.“23 So weit, so skandalös, nur: In der Linie des DFG-Fachkollegiums gedacht, hätte Reiß noch hinzusetzen müssen, dass derartige Auslassungen bei Kindt eher die Regel denn die Ausnahme seien. Fälle dieser Art führen direkt hinein in den Ende 2012 erschienenen Band jenes Periodikums. Geboten wird hier eine Bilanz zu neunzig Jahren Archivtätigkeit. Sicherlich: Günther Franz (s. S. 37) wird zumindest in einer Fußnote zum Beitrag der aktuellen Archivleiterin „als nachweislich überzeugter Nationalsozialist“24 gelistet. Warum aber bleibt die Frage ungestellt, welche Folgen dieser Umstand für seine Amtsführung hatte? Ein weiteres Beispiel: Über Hans Wolf (1896–1977), seines Zeichens Mitbegründer dieses Jahrbuchs sowie von 1954 bis 1976 Leiter des Archivs, heißt es in jenem Beitrag lediglich, dass „über dessen Tätigkeit im Nationalsozialismus und im Krieg die Unterlagen auffällig schweigen“25 – nicht aber, was den Unterlagen im AdJb problemlos zu entnehmen gewesen wäre und seit 2010 auch in publizierter Form vorliegt:26 Wolf war Mitglied der SS. Derlei Versäumnisse sind auffällig und finden sich auch bei Barbara Stambolis, aktuell Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat jenes Archivs, die im Übrigen die Kindt-Edition unverdrossen als „Mammut-Werk“27 lobt und auch in Sachen zweier weiterer Hauptverantwortlicher für dieses Projekt – Theodor Schieder und Hans Raupach – nur mitzuteilen weiß, dass sie in ihren jeweiligen Funktionen stets „engagiert tätig“28 waren, nicht aber warum. Deutlicher und im Vorgriff auf Kommendes geredet (s. S. 36 ff.): Schieder ging es nicht lediglich, wie Stambolis noch 2013, ihn zitierend, schreibt, um „Wiederherstellung des historischen Gedächtnisses“29, wenngleich er wohl nicht ganz so stark wie Günther Franz von der Absicht umgetrieben war, die NS-Vergangenheit vergessen zu machen. Dieses Thema freilich scheint kaum auf der Agenda des AdJb zu stehen. Gewiss: Ein von...


Christian Niemeyer ist Professor (i. R.) für Sozialpädagogik an der TU Dresden und Schriftleiter der "Zeitschrift für Sozialpädagogik" sowie Mitherausgeber der bei Beltz/Juventa erscheinenden Reihe "Bildung nach Auschwitz." Bekannt wurde Niemeyer vor allem als Nietzsche-Forscher (u. a. Nietzsche-Lexikon 2009; 2. Aufl. 2011, auch in spanischer und brasilianischer Übersetzung).


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