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E-Book, Deutsch, 459 Seiten

Noll Grundriss der Wirtschaftsethik

Von der Stammesmoral zur Ethik der Globalisierung

E-Book, Deutsch, 459 Seiten

ISBN: 978-3-17-029450-9
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wirtschaftsethik ist im Zeitalter der Globalisierung zu einem zentralen Diskussionsthema geworden. Für dieses Lehrbuch wurde nun erstmals kein systematisch-analytischer Ansatz, sondern ein historisch-genetischer Zugang zur Wirtschaftsethik gewählt. Durch die Herausarbeitung der vielfältigen und komplexen historischen Wandlungsprozesse werden pointierend Leitbilder bzw. Paradigmen der Wirtschaftsethik vorgestellt, die über den Lauf der Geschichte das Denken und Handeln geprägt haben. Ausgehend von der Entwicklung der Horden- und Stammesmoral bis hin zur Globalisierung der letzten Jahrzehnte wird ein historischer Streifzug unternommen, bei dem der Verfasser sieben wohlunterscheidbare Paradigmen herausarbeiten kann.
Die Darstellung ist ein wissenschaftlich fundierter Grundriss zu einem komplexen Themenfeld an der Schnittstelle von Ökonomik, Geschichte, Theologie und Philosophie, der bewusst interdisziplinär angelegt ist, aber aufgrund seiner verständlichen Sprache sowohl für Fachleute der verschiedenen Disziplinen als auch für akademisch Vorgebildete einen Zugang zur Geschichte der Wirtschaftsethik bietet.
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1;Deckblatt;1
2;Titelseite;4
3;Impressum;5
4;Inhaltsverzeichnis;6
5;Vorwort;10
6;1 Die Bedeutung von Moral und Ethik für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess;18
7;2 Zur Entwicklung einer Horden- und Stammesmoral;28
7.1;2.1 Vorgeschichte: Ein interdisziplinäres Projekt;28
7.2;2.2 Rahmenbedingungen vorgeschichtlicher Existenz;30
7.2.1;2.2.1 Biologische, anthropologische und soziale Entwicklungen;30
7.2.2;2.2.2 Grundlinien einer Ökonomie der Steinzeit;31
7.3;2.3 Denkweise, wirtschaftliches Verhalten und Moralität;37
7.3.1;2.3.1 Von mythisch-magischer und dogmatischer Denkweise;37
7.3.2;2.3.2 Moral in der Horde;42
7.3.3;2.3.3 Moral und wirtschaftliches Verhalten;48
8;3 Griechische Antike: Die Lehre vom wohlgeordneten Haus;54
8.1;3.1 Zeitliche Einordnung der griechischen Antike;54
8.2;3.2 Wirtschaftliche, soziale und politische Verhältnisse;55
8.3;3.3 Entstehung antiker Philosophie und Ethik;57
8.3.1;3.3.1 Vom Mythos zum Logos;57
8.3.2;3.3.2 Sokrates, Platon und Aristoteles: Ihre Beiträge im Überblick;59
8.4;3.4 Drei grundlegende Erkenntniswege;60
8.5;3.5 Tugendethik – Leitlinien für eine Individualethik;63
8.6;3.6 Der wohlgeordnete Kosmos: Ordnungsethik für eine geschlossene Gesellschaft;66
8.6.1;3.6.1 Zum Verhältnis von Oikos und Polis;67
8.6.2;3.6.2 Unnatürliche Erwerbskunst (Chrematistik) und die Institutionen der Marktwirtschaft;74
8.7;3.7 Das Erbe der griechischen Antike;77
9;4 Jüdische und frühchristliche Traditionen: Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit;82
9.1;4.1 Ursprung und Verbreitung des jüdischen und christlichen Glaubens;82
9.2;4.2 Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Palästina;83
9.3;4.3 Religiös-biblische Traditionen und ihr Beitrag zur Ethik;88
9.3.1;4.3.1 Die Bibel als Quelle religiöser und moralischer Vorstellungen;88
9.3.2;4.3.2 Zum Zusammenhang von Religion, Recht und Moral;92
9.3.3;4.3.3 Ethische Grundaspekte im Alten und Neuen Testament;95
9.4;4.4 Maßstäbe für wirtschaftliches Handeln aus biblischer Sicht;99
9.4.1;4.4.1 Arbeitsethos, Erwerbsstreben und Genuss;99
9.4.2;4.4.2 Eigentum, Sozialbindung, Zins und Preis;104
9.4.3;4.4.3 Macht, Herrschaft und staatliche Redistribution;107
9.4.4;4.4.4 Gerechtigkeit und Gleichheit;109
9.4.5;4.4.5 Ausdifferenzierung der Wirtschaft: Handel und Geldwesen;111
9.5;4.5 Der Beitrag der jüdisch-christlichen Ethik zur Entfaltung wirtschaftsethischer Kategorien;112
10;5 Mittelalter: die Moralphilosophie als »Magd der Theologie«;116
10.1;5.1 Zeitliche Einordnung;116
10.2;5.2 Das »finstere« Mittelalter: Wirtschaftliche, soziale und politische Verhältnisse;117
10.3;5.3 Das mittelalterliche Weltbild und die Stellung der Kirche;125
10.4;5.4 Patristik und Scholastik: Wichtige Denker und ihr Beitrag;130
10.5;5.5 Schöpfungsordnung, Wirtschaften und Wirtschaftsethik;136
10.5.1;5.5.1 Die Einbettung der Wirtschaft in die Schöpfungsordnung;137
10.5.2;5.5.2 Tugendethik und Wirtschaften;139
10.5.3;5.5.3 Wirtschaftsethische Lehren der Scholastik;140
10.5.3.1;5.5.3.1 Arbeit – Fluch oder Segen?;140
10.5.3.2;5.5.3.2 Erwerbsstreben und Eigentum;142
10.5.3.3;5.5.3.3 Die Lehre vom gerechten Preis;144
10.5.3.4;5.5.3.4 Wucherzins und Höllenqualen;146
10.5.3.5;5.5.3.5 Caritas und Armenfürsorge;148
10.6;5.6 Das Mittelalter: Finsteres Zeitalter und Nährboden für eine neuzeitliche Wirtschaftsethik;154
11;6 Neuzeit: Herausbildung einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ethik;158
11.1;6.1 Zeitliche Einordnung;158
11.2;6.2 Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungslinien;160
11.3;6.3 Zur neuzeitlichen Denkweise und Moralitat;167
11.3.1;6.3.1 Die Reformation;167
11.3.2;6.3.2 Beiträge der Philosophie zur Entwicklung eines neuen Menschen- und Weltbildes;169
11.4;6.4 Philosophische Strömungen und ihre Beiträge zur Entfaltung einer neuzeitlichen Ethik;173
11.5;6.5 Zur Entfaltung wirtschaftsethischer Grundkategorien;182
11.5.1;6.5.1 Das Anliegen der klassischen Politischen Ökonomie;182
11.5.2;6.5.2 Zusammenspiel von Individual-und Sozialethik;185
11.6;6.6 Tugendethik, Pflichtenethik oder Nutzlichkeitsethik – Leitlinien für eine Bürgermoral;189
11.7;6.7 Grundaspekte einer Ethik des Kapitalismus;192
11.7.1;6.7.1 Zum Sinn des Wirtschaftens: Bedürfnisbefriedigung oder Erwerbsstreben als Selbstzweck?;192
11.7.2;6.7.2 Arbeitsethos, Beruf und Berufung: Luther, Calvin und die Folgen;195
11.7.3;6.7.3 Legitimation des Privateigentums;198
11.7.4;6.7.4 Ethische Rechtfertigung von Verträgen, Märkten und Wettbewerb;201
11.7.5;6.7.5 Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft: Staatsaufgaben und Gerechtigkeit;205
11.7.6;6.7.6 Die Moral der Akteure: Unternehmer, Manager, Kapitalgeber, Arbeiter und Konsumenten;208
11.8;6.8 Der Beitrag des Liberalismus zur neuzeitlichen Wirtschaftsethik;214
12;7 Bundesrepublik: Neoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft – ein »gebandigter Kapitalismus«;222
12.1;7.1 Zeitliche Einordnung des Neoliberalismus;222
12.2;7.2 Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse – eine Skizze;223
12.2.1;7.2.1 Vom »Wirtschaftswunder« zur Stagnation;223
12.2.2;7.2.2 Klassengesellschaft, Mittelstandsgesellschaft oder Zweidrittelgesellschaft?;227
12.2.3;7.2.3 Von der Bonner zur Berliner Republik;234
12.2.4;7.2.4 Ein zwiespältiger Befund;238
12.3;7.3 Bewusstseinslagen und Wertewandel;240
12.4;7.4 Anthropologische und sozialphilo-sophische Wurzeln des Neoliberalismus;245
12.5;7.5 Zur Entfaltung ethischer Grundkategorien;249
12.5.1;7.5.1 Das Werturteilsproblem;249
12.5.2;7.5.2 Zum Zusammenspiel von Institutionenethik und Individualethik;250
12.6;7.6 Der ethische Gehalt der Sozialen Marktwirtschaft;253
12.6.1;7.6.1 Ziele des Eigennutzstrebens;253
12.6.2;7.6.2 Arbeit, Arbeitsmärkte und Arbeitsethik;255
12.6.3;7.6.3 Erwerb und Nutzung von Privateigentum;258
12.6.4;7.6.4 Unternehmertum, Aktiengesellschaft und Haftung;259
12.6.5;7.6.5 Markt und Wettbewerb;261
12.6.5.1;5.5.4 Von frommen Klosterbrüdern, edlen Rittern und sündigen Kaufleuten;151
12.6.5.2;7.6.5.1 Zur moralischen Qualität eines Marktsystems;261
12.6.5.3;7.6.5.2 Die Bedeutung des Leistungswettbewerbs;263
12.6.6;7.6.6 Ordnungspolitik – der starke Staat;266
12.6.7;7.6.7 Sozialpolitik und Wettbewerbsordnung;269
12.6.7.1;7.6.7.1 Ordnungspolitik als Sozialpolitik;269
12.6.7.2;7.6.7.2 Existenzielle Notlagen und Subsidiaritätsprinzip;270
12.6.7.3;7.6.7.3 Startgerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz;271
12.6.7.4;7.6.7.4 Staatliche Sozialpolitik zur Realisierung »sozialer Gerechtigkeit«?;272
12.7;7.7 Anspruch und Realität »der« Sozialen Marktwirtschaft;274
12.7.1;7.7.1 Aufgeklärte Marktwirtschaft und kollektive Vernunft: Das Stabilitätsgesetz;274
12.7.2;7.7.2 Koordinierter Kapitalismus und »Deutschland AG»;276
12.7.3;7.7.3 Funktionswandel des Sozialstaats zum Wohlfahrtsstaat;279
12.8;7.8 »Baustelle« Deutschland?;282
13;8 Globalisierung: »Entgrenzter« Kapitalismus;286
13.1;8.1 Zur historischen Einordnung der Globalisierung;286
13.2;8.2 Entwicklung, Ursachen und Triebkräfte weltweiter Marktintegration;288
13.3;8.3 Wirtschaftsethische Rechtfertigung der Globalisierung;290
13.3.1;8.3.1 Globalisierte Wirtschaft und Wohlstandszuwachs;292
13.3.2;8.3.2 Freiheit und Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung;295
13.3.3;8.3.3 Globalisierung: Wegbereiter fur eine internationale Friedensordnung?;297
13.3.4;8.3.4 Ethik und Globalisierung – Ein Zwischenfazit;299
13.4;8.4 Global Governance;299
13.5;8.5 Ein Weltgesellschaftsvertrag – kein Weltethos!;300
13.6;8.6 Weltpolitische Aufgaben im Überblick;303
13.7;8.7 Akteure der Globalisierung – zur Global Governance Architektur;305
13.7.1;8.7.1 Hat sich der Nationalstaat überlebt?;305
13.7.1.1;8.7.1.1 Souveränitätsverluste?;307
13.7.1.2;8.7.1.2 Entmachtung des Nationalstaates?;308
13.7.1.3;8.7.1.3 Vom Ende des Sozialstaates und der Aufweichung von Sozial- und Umweltstandards;313
13.7.2;8.7.2 Intergouvernementale Zusammenarbeit, supranationale Organisationen oder Weltstaat;317
13.7.3;8.7.3 Multinationale Unternehmen, Lex mercatoria und Corporate Social Responsibility;321
13.7.4;8.7.4 NGOs – Experten aus Engagement;326
13.7.5;8.7.5 Das Individuum – ein Weltburger;327
13.8;8.8 Bleibendes Unbehagen;329
13.8.1;8.8.1 Zuwanderungsbeschrankungen: Wie liberal ist die westliche Welt?;329
13.8.2;8.8.2 Armutsbekämpfung: Entwicklungshilfe oder Weltsozialpolitik;332
13.8.3;8.8.3 Zur Tragödie der Allmendegüter und der Zukunftsfähigkeit der Menschheit;336
13.8.4;8.8.4 Das überforderte Individuum;338
14;9 Fazit;342
15;Anmerkungen;345
16;Literatur;425
17;Stichwortverzeichnis;451
18;Personenverzeichnis;458


Würden die Menschen endlich aufhören, über den anderen als übelwollenden und bösen Menschen zu sprechen und nach »Schurken im Stück« zu suchen, sondern stattdessen damit beginnen, auf die mit Alltagsmenschen besetzten Institutionen zu schauen, dann könnte sich ein weites Feld für eine wirkliche Gesellschaftsreform auftun. James Buchanan Vorwort
(1) Die Geschichte der Philosophie beginnt, wenn man einigen Chronisten glauben darf, mit dem Griechen Thales und einem typischen wirtschaftsethischen Konflikt. Dabei ging es um Folgendes: Thales von Milet, ein wohl ebenso ideenreicher Philosoph wie pfiffiger Geschäftsmann, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte, erkannte eines Tages, dass die diesjährige Olivenernte besonders ertragreich zu werden verspricht. Daher kauft er alle Ölpressen auf, um sie zu Monopolpreisen nach der Ernte weiter zu vermieten. Ist dieses Verhalten moralisch legitim? Darf Thales den Informationsvorsprung für seine eigenen Interessen, zur Mehrung des eigenen Wohlstandes, nutzen? Oder hätte er seine Vertragspartner über sein Wissen aufklären müssen, handelte er also unmoralisch und ist sein Verhalten letztlich gemeinschaftsschädlich?
Nun, ob Thales wirklich der erste Philosoph war, ist genauso umstritten wie auch, ob die hier erzählte Geschichte überhaupt stimmt.1 Beides soll an dieser Stelle allerdings nicht weiter interessieren. Wir werden auf die Problematik des »gerechten« Preises, um die es hier im Kern geht, später noch eingehen. Vor allem eines sollte an der kleinen Geschichte deutlich werden: Seit Beginn der Menschheit gab es Knappheit an Ressourcen, haben die Menschen die meiste Zeit ihres Lebens damit gefristet, sich in mühseliger Weise, buchstäblich »im Schweiße ihres Angesichts« das »tägliche Brot« zu erarbeiten. Und sie traten dabei zueinander in Kooperations- und Konkurrenzbeziehungen. Das sind die entscheidenden »Zutaten« dafür, dass es von jeher wirtschaftsethische Problemlagen gegeben haben muss, Konflikte, so mag man bei unbefangener Betrachtung geneigt sein zu glauben, für die die Menschen nach möglichst nachvollziehbaren und sinnfälligen Lösungen gesucht haben. Dieses seit Anbeginn der Menschheit ewig aktuelle Problem der Knappheit der Ressourcen und die arbeitsteilige Bewältigung solcher Knappheitssituationen gibt Anlass zu der Frage, welchen expliziten und mehr noch impliziten Regeln die Menschen über den Lauf der Geschichte beim Wirtschaften jeweils gefolgt sind. Und dies wirft inzidenter die weitere Frage auf, welche Wertvorstellungen in diesen Regeln enthalten waren. (2) Erstaunlicherweise hat die Ethik als Teildisziplin der Philosophie, als Moralphilosophie, dem Lebenssachbereich Arbeit und Wirtschaft lange Zeit relativ wenig Beachtung geschenkt. Zwar haben sich Philosophen und Theologen von Anbeginn an immer auch mit ökonomischen Fragen befasst, doch meist eher nebenbei und mit gehöriger Distanz zum Gegenstand. Für die Geschichte der Wirtschaftsethik gilt daher der Befund, auf den Otfried Höffe vor einiger Zeit aufmerksam gemacht hat: »Wer sich aber die großen Werke der abendländischen Ethik anschaut, der findet erstaunlicherweise, dass von der Wirtschaft so gut wie keine Rede ist.«2 Und was für die Moralphilosophie gilt, das gilt auch für die Geschichtswissenschaften. Dafür möge Jacob Burckhardt, der große schweizerische Historiker des 19. Jahrhunderts, als Kronzeuge genannt werden, der in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« als die großen »drei Potenzen« den Staat, die Religion und die Kultur, nicht aber die Wirtschaft behandelte.3 (3) Inzwischen hat sich die Lage entscheidend geändert; die »Wirtschaft« ist spätestens im 20. Jahrhundert und insbesondere im Zeitalter der Globalisierung zu »der« Potenz schlechthin geworden. »Die Wirtschaft ist unser Schicksal« hatte bereits 1921 der deutsche Außenminister Walther Rathenau formuliert, und mittlerweile wird von vielen die »umfassende Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse« diagnostiziert.4 Im Gefolge dieser Entwicklungen, nicht zuletzt als »Krisensymptom«, erfährt auch die Wirtschaftsethik einen stürmischen Aufschwung. Genauer müsste man formulieren, dass seit der »Wiederentdeckung« wirtschaftsethischer Fragestellungen in den 1990er Jahren ein wahrer »Boom« zu diagnostizieren ist. Von Wiederentdeckung zu sprechen ist deshalb sachgerecht, weil bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bekannte Ökonomen und Philosophen – genannt seien nur Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel – die Wirtschaft zum Gegenstand wirtschaftsethischer und ideengeschichtlicher Betrachtungen gemacht und damit kontroverse und langanhaltende Diskussionen ausgelöst haben.5 Während sich nun aber gegenwärtig erneut eine Fülle von Veröffentlichungen und eine Vielzahl von Tagungen um die Exposition eines Wirtschaftsethik-Paradigmas und um die Aufarbeitung ethischer Dilemmata bemühen, erfolgt die Aufarbeitung wirtschaftsethischer Entwicklungslinien aus historischer Perspektive bislang eher kursorisch.
(4) Eine Geschichte zur Wirtschaftsethik, auch wenn sie hier vorsichtig als Grundriss bezeichnet wird, mag manchem als »Parforceritt« erscheinen. Ein solcher Versuch begegnet in den Fachdisziplinen vermutlich schnell dem Vorbehalt, eine Vielzahl von Aspekten oder Zusammenhängen nicht gesehen oder tiefgründig genug gewürdigt zu haben. Dieser Einwand ist für solch eine breit angelegte Studie besonders ernst zu nehmen, weist zugleich aber auf eine grundsätzliche Schwierigkeit aller sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung hin. Sie liegt darin begründet, dass zunächst erst einmal aus der sinnlosen Unendlichkeit allen Weltgeschehens das Wichtige herausdestilliert werden muss.6 Doch was ist das Wichtige? Darauf gilt es im ersten Kapitel noch genauer einzugehen. Diese Vorbemerkungen dienen vielmehr nur dem Zweck, einige Begründungen dafür zu liefern, warum das Anfertigen eines solchen Buches aus Sicht des Verfassers ein wichtiges Anliegen ist, allerdings ohne die Begrenzungen und Defizite solchen Vorhabens zu leugnen.
(5) Zum einen möchte ich ein Lehrbuch zu einer Materie vorlegen, bei der es für Studierende, aber auch andere an der Thematik Interessierte schwierig ist, einen leicht fassbaren und verständlichen Überblick zu gewinnen. Es gibt mittlerweile zwar etliche gute Einführungslehrbücher in die Wirtschaftsethik. Man kann sich auch mit wirtschaftshistorischen, dogmen- oder ideengeschichtlichen Grundlagenwerken auseinandersetzen, die wirtschaftsethische Aspekte mit bearbeiten. Spannende Bücher wurden in den letzten Jahren auch über die Entwicklung des Menschen und menschlicher Sozietäten vorgelegt, die wichtige Einblicke in die Genese von Moral ermöglichen.7 Doch in allen dokumentiert sich auch die Ausdifferenzierung und Fragmentierung heutiger Wissensfelder. Die Schnittstelle dieser Disziplinen, insoweit es um die Entwicklung der wirtschaftsethischen Debatte aus historischer Perspektive geht, ist indes bislang – soweit erkennbar – nicht oder nicht zureichend besetzt. Insofern hoffe ich mit diesem Integrationsversuch eine Lücke schließen zu helfen.
(6) Das Buch wählt also einen anderen als den üblichen Zugang zu wirtschaftsethischen Fragestellungen. Ethik als normative Theorie vom guten und richtigen menschlichen Handeln hat sich unter ständigem Wandel in der Zeit vollzogen, präsentiert sich demzufolge immer schon zugleich als Geschichte der Ethik.8 Diese Perspektive will Orientierungswissen liefern, indem sie dazu anregt, die Genese wirtschaftsethischer Ideen nachzuvollziehen. Damit lassen sich insbesondere auch die Streitfragen um das Institutionensystem von Marktwirtschaften und die mit ihnen verknüpften Anreize und Sanktionen aus ihrem Entwicklungsprozess her erschließen und verstehbar machen. Der primäre Ertrag eines historisch-genetischen Zugangs zur Wirtschaftsethik besteht im Gegensatz zu einer systematisch-analytischen Herangehensweise sicher nicht darin, aus den aufgezeigten Streitfragen vergangener Epochen konkrete Lösungshinweise für aktuelle wirtschaftsethische Kontroversen zu erhalten. Doch lässt sich aus Entstehung und Ausdifferenzierung wirtschaftlicher Kategorien und Institutionen und der dahinter stehenden ethischen Anschauungen vielfach eher und besser erkennen, warum wir heute da stehen, wo wir stehen. Es geht also darum, das Verständnis um den »moralischen Gehalt« vormoderner Ordnungen wie des marktwirtschaftlichen Institutionengefüges aus historischer Perspektive zu befördern und Gründe für den Wandel zu erkennen.
(7) Dabei soll deutlich werden, dass die Ordnung, in der wir heute leben, nicht primär menschlicher Vernunft und planvollem Vorgehen entsprungen ist, sondern in wesentlichen Teilen das Ergebnis eines unpersönlichen, komplexen Entwicklungsprozesses ist.9 Diese Erkenntnis legt nahe, dass es auch nicht beliebige Gestaltungs- oder Eingriffsmöglichkeiten zur Fortentwicklung gibt, vielmehr gilt es die Pfadabhängigkeit des Wandels von Institutionen, von Normen und Wertsystemen zu beachten.10 Daher erfüllt der historisch-genetische Zugang eine weitere Funktion: Vermutlich ist keine andere Wissenschaft wie die Geschichte so sehr in der Lage, die Probleme der Interdependenz und daraus resultierender Kontingenz sozialen Handelns plastisch zu machen. Und...


Prof. Dr. Bernd Noll lehrt Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsethik an der Hochschule Pforzheim.


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