Notz / Hummel | Wintererde | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

Notz / Hummel Wintererde

Mein Leben als Magd

E-Book, Deutsch, 300 Seiten

ISBN: 978-3-8387-1980-1
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Zehn Jahre alt war Inge, als sie sich zum ersten Mal als "Hütemädchen" verdingen musste. Ihre Herrin war streng und lieblos und das Mädchen musste viel erdulden. Als der Krieg aus war, konnte Inge nach Hause zurück, doch dort erwarteten sie nur Arbeit und Schläge. Mit 15 ging sie erneut in Stellung, diesmal als Magd beim "Adlerwirt". Es war ein hartes Leben, doch Inge Notz fand immer wieder schöne Momente, für die sie bis heute tiefe Dankbarkeit verspürt. In diesem Buch erzählt sie davon, was das Leben ihr gab und wie sie ihren Weg fand.
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PROLOG: HERBORN Die Mutter stößt einen langen Schrei aus. Wir hören ihn durch die Tür des Schlafzimmers, in dem sie am Nachmittag mit der Hebamme verschwunden ist. Ein kalter Schauer jagt mir den Rücken hinunter. Meine Schwester Rosmarie sitzt neben mir auf der Eckbank und drückt sich an mich. Sie ist ein Jahr jünger als ich. »Muss sie sterben?«, flüstert sie mir zu. Es ist eine Frage, die ich selbst nicht zu stellen gewagt habe, obwohl ich seit Stunden – seit die Schreie der Mutter zu uns dringen wie Hilferufe – an nichts anderes denken kann. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals vor Angst. Ich hebe die Schultern und blicke im schwindenden Tageslicht, das durch das Küchenfenster fällt, unsicher hinüber zu meiner älteren Schwester Hannelore. Sie ist dreizehn und weiß oft die Antwort auf unsere Fragen. Doch nun sieht sie genauso verloren und ängstlich aus, wie ich selbst mich fühle. Gemeinsam harren wir in der kleinen Küche aus und lauschen den Geräuschen aus dem Nachbarraum, die unser atemloses Schweigen und das Ticken der Wanduhr, das aus dem Wohnzimmer zu uns herübertönt, durchbrechen. Plötzlich öffnet sich die Tür, und die Hebamme schiebt ihren massigen Körper in die Öffnung. »Heißes Wasser, schnell!«, befiehlt sie. Sie ist eine kleine, dicke Frau mit einem weißen Trägerschurz über dem graublauen Kleid. Ihr Gesichtsausdruck ist so undefinierbar wie die anderen Male, wenn sie uns an diesem Nachmittag Aufträge erteilt hat. Aber auf ihrer Schürze erkenne ich nun zwei dunkle Flecken, die mir zuvor nicht aufgefallen sind. Ein Schauer jagt über meinen Rücken. Hannelore springt auf und eilt zum Herd, um frisches Wasser aufzusetzen. Doch die Hebamme lässt sich nicht mehr blicken, um es abzuholen. Erst nach einer Ewigkeit, wie es mir scheint, öffnet sich die Schlafzimmertür abermals, und sie tritt zu uns in die Küche, wobei sie die Tür sorgfältig hinter sich zuzieht. »Die Mutter hat ein Kindle bekommen, aber es ist tot. Es kam zu spät«, verkündet sie mit unbewegter Miene. Atemlos starren wir sie an. »Eure Mutter lebt.« Ich spüre, wie sich mein Herzschlag beruhigt. Rosmarie richtet sich auf, sie braucht den Schutz meines Kinderkörpers nun nicht mehr. Hannelore sieht traurig aus. Am Abend schiebt die Hebamme die Wiege vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Darin liegt das reglose Baby, gewaschen und in weiße Säuglingswäsche gekleidet: Jäckchen, Hemdchen und Strampelhose. Wir stellen uns ringsherum auf und blicken auf unseren Bruder, der den Namen Georg tragen sollte. Er hat schwarze Haare und scheint zu schlafen. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist, und so ergreife ich seine winzige Hand. Sie fühlt sich steif und kalt an, und ich zucke zurück. Rosmarie steht mir gegenüber und streichelt Georgs Stirn. Hannelore sinkt auf das Sofa, das neben dem Oranier Ofen steht. »’s ist leichter zu ertragen, wenn man schreit«, sagt die Hebamme nüchtern, die neben uns steht und über Georg wacht. Ich blicke sie an, dann laufe ich aus dem Raum und aus dem Haus in den Wald hinein, der hinter unserem Haus beginnt. Dort, unter dem hohen Dach der Fichten, versuche ich zu verstehen, was mit meinem Bruder geschehen ist. Ich bin neun Jahre alt. Am nächsten Tag, einem Sonntag, kommt der Schreiner, ein großer, kräftiger Mann mit schwarzen Stiefeln. Er trägt einen schmalen, weißen Sarg unter dem Arm, der sehr zerbrechlich wirkt. Mit schweren Schritten geht er ins Wohnzimmer, stellt den Sarg auf den Tisch und blickt wortlos auf unseren Bruder herab. Es ist totenstill im Raum. Dann hebt die Mutter Georg, der sich die ganze Nacht über nicht bewegt hat, aus der Wiege und legt ihn sanft auf die Holzwolle und das weiße Papier, mit dem der Holzsarg ausgeschlagen ist. Ihr Gesicht ist so weiß und starr wie eine Maske. Es macht mir Angst, sie so zu sehen. Der Schreiner legt ein Tuch über den Sarg, dann wendet er sich zur Tür. »Behüt euch Gott«, sagt er und nimmt Georg mit sich fort. Die Mutter und Hannelore weinen stumme Tränen. Rosmarie und ich stehen betreten daneben. Einerseits bin ich traurig, andererseits bin ich froh, dass wenigstens die Mutter noch bei uns ist. Auf unseren Vater können wir nicht zählen, er ist im Wirtshaus, wie fast immer, wenn er nicht bei der Arbeit oder auf dem Feld ist. Er schafft in einer Ofenfabrik in Niederscheld als Former. Mit dem Fahrrad fährt er die fünf Kilometer dorthin. Nach der Arbeit kommt er meist nicht nach Hause, sondern macht gleich in der Gaststätte »Gefahr« halt, wo er sich mit seinen Kumpanen betrinkt. Auch am Wochenende nach der Feldarbeit geht er dorthin und vertrinkt das meiste von dem, was er verdient hat. Am Nachmittag steigen Rosmarie und ich hinauf auf den Dachboden, wo im Sommer die Blätter der Tabakpflanzen hängen, die wir mit Nadel und Faden aufgefädelt und auf eine Leine gehängt haben. Wir interessieren uns für die großen Koffer aus fester Pappe, die hier ebenfalls ihren Platz haben. Einmal im Jahr, wenn Vater Urlaub hat, fahren wir damit zu unseren Großeltern nach Amberg. Wir können diesen Tag kaum erwarten. Es ist für uns eine große Freude, sie zu besuchen, denn dort gibt es einen kleinen Tante-Emma-Laden, in dem wir Semmeln bekommen und wo wir in die bunten Gläser voller Bonbons mit Himbeer- und Waldmeistergeschmack greifen dürfen. Wenn wir sie zu gierig lutschen, wird der Oberkiefer ganz wund. »Leg dich rein«, fordert Rosmarie mich auf, »dann mach ich zu.« »Aber wenn ich keine Luft mehr bekomm’, machst auf, ja?« Sie nickt. Ich hebe meinen Rock hoch und krieche hinein. Sie macht den Koffer zu, doch als ich nach einer Weile rufe: »Aufmachen!«, reagiert sie nicht. Ich trommele gegen den Koffer und glaube zu ersticken. Da höre ich Rosmarie lachen. »Mach auf, ich krieg’ keine Luft mehr!«, rufe ich voller Angst. Ich stelle mir Mutters Gesicht vor, wie sie meinen toten Körper in einen Sarg legt. Nach einer Ewigkeit höre ich das Schloss klicken. Böse sehe ich Rosmarie an, als ich herausklettere. Doch sie streckt mir nur die Zunge heraus und läuft weg. Keine von uns ahnt, dass wir diese Koffer schon bald benutzen werden. Und zwar nicht, um Urlaub zu machen. Als wir uns tags darauf um kurz nach sieben auf den Schulweg machen, ist der Streit vergessen. Während wir an der Brauerei mit ihrem See vorbeilaufen, auf dem wir im Winter immer Schlittschuh laufen, vorbei an den Apfelbäumen, von denen der Vater jedes Jahr einen anderen mietet, sodass wir hinaufsteigen und ernten können, sehe ich noch immer Georgs weißes Gesichtchen vor mir und den Kummer der Mutter. Ob mein Bruder es im Himmel wenigstens besser hat als wir anderen Kinder hier unten auf der Erde? Ist er nun im Paradies, von dem der Pfarrer jeden Sonntag predigt? Und weiter geht es, immer weiter. Eine halbe Stunde müssen wir laufen, und heute bin ich froh darüber. Hinauf auf die Eisenbahnbrücke mit ihren vielen Holzstufen, durch die Kaiserstraße, an der Kaiser-Maximilian-Statue vorbei und über die steinerne Brücke der Dill, auf der ich von Weitem die Ruth sehe, die in meine Klasse geht. »Wart’ auf uns! Warte!«, rufe ich. Sie dreht sich um und bleibt stehen. Als wir zu ihr gerannt kommen, lacht sie uns an. Sie ist meine beste Freundin, und wie ich trägt sie die Haare geflochten und zu Affenschaukeln gebunden. Am Sonntag, wenn wir zur Kirche gehen, bindet meine Mutter eine rote Schleife in jeden Zopf, aber heute hat die Ruth sogar die gleichen Haarspangen wie ich, und es tut mir gut, sie nach diesem Wochenende zu sehen. Ihr Lachen vertreibt Georgs Bild aus meinem Kopf. Mein Blick streift den gelben Stern, den sie seit Neuestem auf ihrer blauen Jacke trägt. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, frage ich mich, was er zu bedeuten hat. Ich weiß, dass er bedeutet, dass sie Jüdin ist. Aber warum es so wichtig sein soll, dass sie diesen Stern tragen muss, will mir nicht in den Kopf. Die Ruth ist doch wie ich: Wir lachen fröhlich, wenn ich beim Kästchenhüpfen auf einem Bein balanciere und wie ein Storch aussehe, der gerade einen Frosch verschluckt hat. Ich mag sie gern. Und sie mich auch. Auch der Metzger und seine Frau tragen den Judenstern. Und als ich neulich beim Bäcker war, kam ich sofort dran, obwohl vor mir noch eine Frau stand. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich, dass auch sie den Judenstern trug. Was hat es nur auf sich mit diesem Stern? Wir laufen zusammen den Berg hinauf zum dicken alten Ritterturm mit seinem spitzen Dach, den niemand je betreten darf, und je näher wir dem Schulhaus kommen, desto mehr Kinder treffen wir. Die Mädchen tragen bunte Kleider und Spangensandalen, die Jungen kurze Hosen und karierte Hemden, und alle haben lederne Ranzen, aus denen Schwammdöschen und Trockenläppchen heraushängen, die hin und her wippen, wenn man rennt. Ich gehe gern zur Schule, obwohl der Lehrer sehr streng ist und immer einen Stock bei sich hat. Damit schlägt er uns, wenn er nicht zufrieden mit unserem Benehmen oder unseren Leistungen ist. Das Schulgebäude mit seinen acht Klassenräumen taucht nun vor uns auf. Ein Stück dahinter liegt die Heilanstalt für spastisch gelähmte Kinder, in der meine Mutter ihre Ausbildung als Krankenpflegerin gemacht und meinen Vater kennengelernt hat. Jedes Mal, wenn ich das dunkle Gebäude sehe, gruselt es mich. Die kranken Kinder müssen auf Gutshöfen schaffen, und die Leute flüstern, dass diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, umgebracht werden. Die Ruth und ich beeilen uns, damit wir nicht zu spät kommen. Sonst müssen wir nachsitzen, eine ganze Stunde lang. Oder zwanzigmal schreiben: Ich darf nicht zu spät zur Schule kommen. Einmal ist mir das passiert, danach nie wieder, aus Angst vor Schlägen und Bestrafung. Auch meine Hausaufgaben...


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