Pesch / Dohle / Maywald | Ganztag im besten Interesse der Kinder | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Pesch / Dohle / Maywald Ganztag im besten Interesse der Kinder

Kinderrechte für Große Kinder verwirklichen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-451-83142-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Es ist zu wenig, im Rahmen der Ganztagsdebatte nur Zahlen und Strukturen zu diskutieren. Die Autor(inn)en des Buchs nehmen das psychische und physische Wohlergehen der betroffenen Kinder und eine demokratische Verfasstheit ganztägiger Bildung in den Blick. Denn für eine gesunde Entwicklung bedürfen Große Kinder der Beachtung der Kinderrechte und der Lebensbedürfnisse, Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit.
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„Am liebsten treffe ich mich mit meinen Freundinnen“
Die Bedeutung der Gleichaltrigen
Ludger Pesch Schon in der Verbindung der Worte „Schule“ und „Kindheit“ zu „Schulkindheit“ zeigt sich, welche große Rolle wir der Schule zur Charakterisierung dieses Lebensalters zubilligen. Sicherlich ist die Schule ein wichtiger Faktor kindlicher Entwicklung. Hier kann systematisch untersucht und geforscht werden, wie die Welt funktioniert und was sie zusammenhält. Den eigentlichen Motor der Entwicklungsimpulse im Lebensalter von etwa sechs bis dreizehn Jahren sehen viele Forscher:innen jedoch im sozialen Leben der Kinder, in der Dynamik unter Gleichaltrigen. Mit dem Begriff „Schulkinder“ ist deshalb nur unzureichend erfasst, was für diese Kinder Bedeutung hat. Nicht zuletzt deshalb sprechen die Herausgeber:innen dieses Buches von den „Großen Kindern“ und haben sich zur „Initiative für Große Kinder e. V.“ zusammengefunden. Die neue Herausforderung: Leben unter Gleichaltrigen
Hans Oswald und Lothar Krappmann vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben die Thesen von Forschern wie Piaget, Erikson und Youniss in langjährigen Beobachtungen von Großen Kindern überprüft und Forderungen für eine den Entwicklungsbedürfnissen angemessene Pädagogik formuliert (Krappmann & Oswald 1995). Denn in den Beziehungen untereinander treten die Kinder in ein neuartiges soziales Verhältnis, das ihnen etwas abverlangt und das sie zugleich in vielen zentralen Entwicklungsbereichen fördert. Dieses neue Verhältnis hat Jean Piaget erstmals vor beinahe einhundert Jahren folgendermaßen beschrieben: „Die Erwachsenen sind […] dem Kind zugleich überlegen und ihm durch ihre schützende Sympathie sehr nahe. Daher schwankt das Kind ihnen gegenüber zwischen einer Haltung des Bittens und Forderns und einer Haltung der vollkommenen Verbundenheit. […] In keinem der beiden Fälle tritt das Kind aus seiner eigenen Perspektive heraus, um sie mit der anderen zu koordinieren [….]. Der Spielkamerad dagegen, der als Individuum zugleich anders und gleich ist, wirft ein neues Problem auf: die ständige Unterscheidung zwischen dem eigenen Ich und dem des anderen und die Wechselseitigkeit dieser beiden Perspektiven. Aus diesem Grund spielt die Kooperation zwischen Gleichaltrigen eine so große Rolle“ (nach Krappmann 2000, S. 133). Entscheidend ist, dass die Kinder in diesem Lebensabschnitt erstmals einen wesentlichen Schritt aus der Familie und ihrem Normensystem heraus machen. Bisher waren es die Erwachsenen, die für den Alltag der Kinder und die Regulierung von uneindeutigen Situationen zuständig waren. Mit dem Schuleintritt beginnt nicht nur die Zeit der sozialen und kognitiven Herausforderung des Unterrichts. Zugleich begegnen sich die Kinder untereinander in viel offeneren Situationen als in denen, die von Erwachsenen organisiert sind. Kinder treten in der Gemeinschaft der Gleichaltrigen in einen sozialen Raum, der nicht mehr von den Vorentscheidungen der Erwachsenen determiniert ist. In der Gleichaltrigengruppe müssen deshalb alle Regeln neu verhandelt werden. Die Bedeutung dieser Begegnungen sollte auch in Zeiten institutionalisierter Kindheit nicht unterschätzt werden, obwohl sie zunächst nur relativ geringe Zeitphasen in Anspruch nehmen: der Schulweg (sobald ihn Kinder eigenständig bewältigen), die Unterrichtspausen, die Phasen des freien Spiels im Laufe des Tages. In der Gleichaltrigengruppe, die auch zunächst immer eine Gleichberechtigten-Gruppe ist, muss alles ausgehandelt werden. Erwachsene, die uneindeutige Situationen entscheiden, sind nicht da und werden von den meisten Kindern auch nicht gewünscht. Doch dieser permanente Verständigungsprozess spricht nach Krappmann (2000, S. 134 ff.) die gesamte Entwicklung des Kindes an: Es muss argumentieren lernen ebenso wie zuzuhören; es muss lernen, sich an Absprachen zu halten, um stabile Spielpartnerschaften zu entwickeln. Dieser Aushandlungsprozess fördert also sehr wichtige Fähigkeiten • Kooperation: Um ein gemeinsames Spiel entstehen zu lassen, sind immer wieder entsprechende Vereinbarungen zu treffen. • Kognition: Über die sprachlichen Aushandlungsprozesse entwickeln sich das Verständnis und das Interesse für Logik, das heißt, eine von allen geteilte Sicht der Wirklichkeit und der in ihr geltenden Gesetze. • Moralisches Empfinden: In gelingenden Aushandlungsprozessen erlebt das Kind, was gut für das Zusammenleben ist. Umgekehrt kann es Erlebnisse von Manipulation und Unfairness geben, die wiederum zeigen, welche Faktoren dafür eher ungünstig sind (vgl. Krappmann 2000, S. 134 ff.). Mühen und Gewinne des Aushandelns
Diese Erfahrung der Gleichberechtigung führt dabei nicht geradewegs und mühelos zu einem harmonischen Ausgleich. Im Gegenteil: Die prinzipielle Gleichwertigkeit hat oft lautstarke und zeitraubende Auseinandersetzungen zwischen Großen Kindern zur Folge. Sie sind ungeheuer sensibel, Gerechtigkeit hat einen hohen Stellenwert. Dazu berichtet Lothar Krappmann: „Das Beispiel eines Fußballspiels … auf einem Innenhof, das wir gefilmt haben und analysiert haben, demonstriert sehr anschaulich, wie sich diese Entwicklungsprozesse vollziehen. Die Regelung der Streitigkeiten unter den Kindern nahm mehr Zeit in Anspruch als das Spiel selber. Das Tor war nur mit Jacken markiert worden. Als der Ball am Torwart vorbeiflog, schrie die eine Mannschaft ‚Tor!‘, die andere ‚Latte!‘, obwohl es gar keine Latte gab. Ein Schiedsrichter, der hätte entscheiden können, war nicht vorhanden. ‚Wenn das ein Tor war‘, behauptete die eine Mannschaft, ‚dann war das vorhin ein Foul und wir kriegen Elfmeter!‘ Sie bekamen nach langem Hin und Her einen Elfmeter, und der Streit ging dann darum weiter, wer den Ball treten soll und so fort“ (in: Berry & Pesch 2000, S. 135). Das Beispiel zeigt nicht nur einen mühsamen und letztlich erfolgreichen Aushandlungsprozess im Rahmen eines Spiels, das auf Konkurrenz ausgelegt ist und das nur weitergehen kann, wenn sich die Beteiligten auf ein Mindestmaß an Regeln verständigen können. Denn implizit mitverhandelt wird hier ja auch die grundsätzliche Frage, was Fairness, Interessenausgleich ausmachen, letztlich: was uns miteinander gut leben lässt. Das Beispiel steht damit auch für die These von Piaget, dass Kinder eine autonome Moral letztlich nur im Kontakt mit Gleichaltrigen entwickeln können – also dort, wo nicht ein Erwachsener mit seinem Einfluss regulierend eingreift. Insofern ist es entwicklungsförderlich, wenn in der von Krappmann geschilderten Szene kein Erwachsener als Schiedsrichter:in eingreift. Die „Lösung“ des Streits im Fußballspiel mag Erwachsenen fragwürdig erscheinen. Aber die Konzepte der Kinder sind einander ähnlicher als das der Erwachsenen – und damit ist eine Auseinandersetzung in der Wygotskischen „Zone der nächsten Entwicklung“ gegeben, worauf Heike de Boer (2010, S. 103) hinweist. Auch Holger Brandes (2010, S. 21) plädiert dafür, dass die Erwachsenen in der Lernbegleitung (schon) von Kindergarten-Gruppen diese „soweit als möglich von einer direkten Lenkung zu entwöhnen“, […] (damit) die Kinder sich wirklich wechselseitig anregen und in einem ko-konstruktiven Prozess gemeinsame Bedeutungen und Erkenntnisse entwickeln“. In der Ganztags-Studie von Walther, Nentwig-Gesemann und Fried (2021) finden sich zahlreiche Beispiele, wie das des „Dinosaurierspiels“ (ebd., S. 76 ff.) oder des „Kletterbaums“ (ebd., S. 86), in denen Kinder im Symbolspiel Bedeutungen und Beziehungen untereinander aushandeln, die den Erwachsenen im Alltag meist verborgen bleiben. Damit korrespondieren meine eigenen Gesprächserfahrungen mit Kindern während der Besuche von Ganztagseinrichtungen: Ich höre häufig, dass Kinder kritisieren, wenn sich Erwachsene regulierend in Streitigkeiten einmischen; sie behaupten in solchen Situationen ihr Recht, eigenständig Konflikte auszutragen (vgl. Pesch 2017, S. 121 f.). Bedeutung der Freundschaft
Die Gestaltung von Freundschaften ist eine weitere Besonderheit dieses Lebensalters, auf die Erik H. Erikson (1992) hinweist: Es ist die Erfahrung der Gleichberechtigung, der Loyalität und der gegenseitigen Anerkennung, die zwischen Neunbis Zwölfjährigen erstmals nach eigener Wahl geübt wird. Erikson schreibt dieser Erfahrung sogar die Kraft zu, Vorurteile der Erwachsenenwelt zu überwinden. Ein Charakteristikum einer guten Freundschaft ist die Möglichkeit, sich durch die Rückmeldung des Freundes bzw. der Freundin mit anderen Augen sehen zu können. Auf dieses Vermögen zum Perspektivenwechsel ist ein erfolgreich kooperierendes Kind angewiesen, so wie eine demokratische Gesellschaft auf diese Fähigkeit ihrer Mitglieder angewiesen ist. Ein Psychologe, der aus therapeutischer Sicht die Erfahrung Heranwachsender verfolgte, ist Harry S. Sullivan (nach Krappmann 2000, S. 131 f.). Er sieht in den Kindern im achten bis zehnten Lebensjahr durch zumeist gleichgeschlechtliche Freundschaften das Gefühl dafür entstehen, was ein anderer...


Maywald, Jörg
Dr. Jörg Maywald ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums. Von 1995 bis 2021 war er Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, von 2002 bis 2022 Sprecher der National Coalition Deutschland, dem Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Seit 2011 ist er Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam.

Pesch, Ludger
Ludger Pesch, Experte für Qualität im Situationsansatz (EfQuiS), ist Mitbegründer des Instituts für den Situationsansatz (ISTA). Er ist Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses (PFH) und Professor für Erziehungswissenschaft/ Kindheitspädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).

Ludger Pesch, Experte für Qualität im Situationsansatz (EfQuiS), ist Mitbegründer des Instituts für den Situationsansatz (ISTA). Er ist Direktor des Pestalozzi-Fröbel-Hauses (PFH) und Professor für Erziehungswissenschaft/ Kindheitspädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).
Dr. Jörg Maywald ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums. Von 1995 bis 2021 war er Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, von 2002 bis 2022 Sprecher der National Coalition Deutschland, dem Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Seit 2011 ist er Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam.


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