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E-Book

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

Pichler Lunaspina

Roman

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

ISBN: 978-3-7099-3570-5
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Martin Pichler, Jahrgang 1970, lebt in Bozen. "Lunaspina" ist sein erster Roman. Mit suggestiv-kraftvollen Bildern zieht er den Leser in den Sog einer alltäglich-abgründigen Familiengeschichte. Ausgezeichnet mit dem Prosapreis der Städte Brixen und Hall.
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1
Als Magda Stofner die Vorhänge der Terrassentür zur Seite schiebt, leuchtet die Morgenwelt im kalkweißen Licht. Beim Öffnen der Glastür gleiten die Strahlen über sie hinweg und reizen ihre Augen, daß sie blinzeln muß, gerade so, als hätte sie ausgiebig und tief geschlafen. Eine frische Brise weht ihr ins Gesicht, vermischt mit dem pelzigen Geruch der Geranienstöcke, die heuer besonders schön blühen. In dichten Büscheln überragt ihr üppiges Rot das Geländer. Ihre Brennenden Lieben. Im Rückenkreuz löst sich eine Verspannung, die von der vergangenen Nacht herrühren muß, obwohl sie von schlechten Träumen nichts weiß. Vielleicht hat sie in einer unbequemen Schlafstellung im Bett gelegen, oder es rächt sich jetzt das allzu eifrige Arbeiten vom Vortag, von dem sie einen dumpfen Schmerz zurückbehalten hat. Erst im Laufe des Tages wird er sich aus ihrem Körper zurückziehen, sie kennt das ja. Sie muß sich schonen, denkt sie, aber da wird sie an die Arbeit erinnert, die auf sie wartet, unerledigt wie ein Vorwurf, weil sie gestern abend leichtfertig alles auf den nächsten Tag geschoben hat. Niemand zwingt dich zur Eile, meint Karl und weist sie auf ihre Verantwortung hin: du mußt halt selbst schauen, daß du dich nicht überforderst. Aber sie kann es nicht sehen, wenn die Dinge herumstehen, wenn der Dreck sich auf dem Boden sammelt und der Staub zwischen den Regalen, sie liebt es so sehr, wenn alles aufgeräumt und blitzblank am richtigen Platz steht, daß es eine Augenweide ist, und sie ein paar Mal daran vorbeigehen muß, um sich an diesem Anblick zu ergötzen: Schaut hin, wie ich alles geputzt habe! Habt ihr gesehen, wie alles glänzt? Und die Blumen, sind die nicht schön? Ihre Männer haben für so was keine Augen. Nur wenn sie sie manchmal mit der Nase darauf stößt, nicken sie ohne Begeisterung, murmeln zufrieden hmm, aber es geschieht selten, daß sie ihr ein Kompliment aussprechen, das sagt ihnen einfach nichts, obwohl sie versucht, ihnen diese Schönheit zu erklären: Wie sich hinter ihrer eifrigen Hand die Ordnung wieder herstellt und der klare Zauber der Dinge offenbar wird, daß es bei jedem Vorbeigehen ein einfaches Glück ist oder ein Herzzuschnüren und nicht anzusehen, wenn alles drunter und drüber, staubfangend herumsteht wie in einer Rumpelkammer. Manchmal glaubt sie sich in den großen Zimmern des Hauses zu verlieren, soviel Raum ist da, der geputzt, geordnet werden will, daß die Sonne mit einem weiterwandert im Schrubben und Wischen. Noch kommen die Sonnenstrahlen unschuldig daher, erst später werden sie in einem leichten Brennen auf die Haut fallen wie kleine Nadelstiche. Magda wird die Jalousien zuklappen und die Küche in dämmriges Licht tauchen. Schon durchzieht die Luft ein Flirren, die Ränder der Geranienblätter an dem Balkongeländer rollen sich ein, verlangen nach Wasser. Michael ist noch nicht auf. Es ist schon nach acht. Magdas Blick streift am Berghang entlang, wo sich auf dem vorgelagerten Hügelmassiv verschiedene Dörfer hinziehen, hell umrissene Häuser macht sie auf der Sonnenseite aus, der Zwiebelturm einer Kirche scheint ein abgerissenes Streichholz, darüber die baumbestandenen Hänge, zusammengezurrt wie dicker, sich fältelnder Stoff. Magda läßt die Terrassentür offen, noch genießt sie das verschwenderische Licht, das die Küche erhellt, die frische Luft, die hereinweht, vom Rascheln des Kirschbaums begleitet, der schon kleine, blaßgelbe Früchte trägt: Weißkirschen. Vom Balkon aus kann man sie sich pflücken. Nach so vielen Jahren blüht er im Frühling immer noch in einer buschigen Blütenpracht auf und ist im Frühsommer dann voller Kirschen, daß sie einen Obstladen auf dem Platz beliefern können und damit einige Lire dazuverdienen. Magda stellt den Kaffee auf, schaltet das Radio ein, schiebt sich den Stuhl etwas abseits des Windzugs, Handgriffe, wie viele andere auch, die sie jeden Morgen verrichtet und auf die sie um nichts in der Welt verzichten möchte. Am schönsten hat man es ja doch zu Hause. Als Michael noch klein war, fuhren sie ein paar Jahre lang für eine Woche ans Meer nach Bibione, länger hielten sie und Karl es nicht in völliger Untätigkeit aus, obwohl für Magda die wenigen freien Tage keine richtige Erholung bedeuteten. Wenn sie auch die Zeit unter ihrem Sonnenschirm genoß, den Geruch des Meeres liebte und dankbar war für die kühlenden Windböen, die über den Strand strichen, so merkte sie dem Urlaub den Unterschied zu ihrem Arbeitsalltag kaum an, weil ihr letztendlich auch hier das Putzen, Kochen, Aus- und Einräumen im Appartementhaus nicht erspart blieb, das sie jedes Jahr mieteten, weil dies für sie erschwinglicher war als der sündhaft teure, einwöchige Aufenthalt in einem Hotel. Andere Familien riefen am letzten Tag ihrer Ferien eine Putzfirma, die das Reinemachen für sie erledigte, aber die hunderttausend Lire waren halt doch erspartes Geld, ansonsten bloß zum Fenster hinaus geworfenes, wo Magda im Flug alles selbst wieder in Ordnung bringen konnte. Der schmerbäuchige Mann von der Agenzia, der in seinem Dreirad herangebraust kam und den Gasanschluß schließlich wieder abmontierte, war immer voll des Lobes, wenn er im blitzblank geputzten Wohnungsflur stand und anerkennend bemerkte, daß nicht einmal die Putzfrauen der Reinigungsfirma so sauber und gründlich arbeiteten wie die Signora Stofner. Es erfüllte sie jedesmal mit Freude, wenn Karl dabei stand und das Kompliment mitanhörte. Schon ewig liegen ihre beiden Badeanzüge in irgendeiner Schublade im Schlafzimmerkasten, oder vielleicht sind sie längst zusammen mit anderen Kleidungsstücken, die abgetragen, ausgewaschen oder aus der Form geraten waren, auf Nimmerwiedersehen in einen Caritas-Sack gewandert. In Bibione traute sie sich nie weit ins Wasser hinein, weil sie sich, auf allen Vieren gegen die Wellen rudernd, wie ein plumper Frosch vorkam, und deshalb immer gleich zum Strand zurückkehrte, sobald das Wasser ihre Oberschenkel erreichte. Wenn ihr auch alle versicherten, daß das Meer weiter draußen sauberer wäre, so bedeutete ihr das nichts, und wie zum Trotz tauchte sie ihre Unterarme in die sanddurchwirbelten, niederen Wellen, als reiche ihr das zur Abkühlung vollkommen. Während die Hitze des Nachmittags ihr das salzige Meerwasser von der Haut fraß, daß es angenehm kribbelte und sie die Sonne nicht mehr als so stechend empfand, betrachtete sie ihre feisten Oberschenkel, bleich und blaugeädert, wie sie waren, mit den zerkratzten Waden und den paar Schrammen, die sie sich in ihrer Arbeitswut zu Hause zugezogen hatte. Manchmal zeigte sie darauf und stieß Karl oder Michael an: Schau, wie groß!, als wäre jede Beule und jeder Blaue eine Auszeichnung. Ihr langes Leibchen, das kühl auf der Haut auflag, zog sie nur in Ausnahmefällen aus, weil es bequem zu tragen war, auch am Abend, wenn sie an Verkaufsständen entlang flanierten und Karl immer den Kopf schüttelte über die maßlos überteuerten Preise, in seinem Mischmasch aus Dialekt und italienischen Wortfetzen zu feilschen begann, daß Magda sich vor Lachen kaum halten konnte und der arme Verkäufer, des Deutschen zwar mächtig, einen Schweden oder Holländer vor sich zu haben glaubte. Nur manchmal träumte sie von den Vorzügen eines Urlaubs im Hotel und malte sich aus, wie es wohl wäre, das Essen dreimal am Tag serviert zu kriegen, bedient zu werden von Kellnern und Zimmermädchen, und nicht mit dem halben Hausrat angefahren zu kommen in einem vollbepackten Auto. In einem Sommer öffnete sich auf der Rückfahrt nach Bozen plötzlich der Deckel des Kofferraums, der all das hineingepreßte Gepäck nicht mehr tragen wollte, sondern stückeweis auf die Straße rumpeln ließ, bis Karl endlich durch das entsetzte Hupen anderer Fahrer auf das Unheil aufmerksam wurde. Ein andermal drang irgendwo durch das übereinander gestapelte Frachtgut ein beißender, säuerlicher Geruch, der sie über eine weite Strecke der Hinfahrt begleitete, bis sie schließlich nach anstrengendem Umpacken und Durchwühlen ein gesprungenes Gurkenglas zutage förderten, aus dem der Essig ausgeronnen war. Zum Glück ist nie etwas Ernsthaftes passiert. Sie ruckt etwas von der Lehne ab und rutscht tiefer in ihren Stuhl, genießt diese wenigen Minuten, die sie nur für sich hat, bevor in die Küche hektisches Leben wirbelt, das zwischen Tischknarren, Tassenklappern und Badetürschlagen sich erschöpft, um hinter ihrem Rücken wieder das Weite zu suchen, ohne ein Wort an die Frau zu richten, die stillhält und stumm wie ein Schattenriß vor der Terrassentür hockt, als wollte sie sich selbst fortdenken aus dem Raum, um niemandes Bewegungen noch mehr zur Eile zu treiben. Sie ist eben da, läßt die Zeit verstreichen und bettet die Hände in den Schoß, wartet zu, bis das gereizte Schweigen eines jeden...


Martin Pichler, geboren 1970 in Bozen, studierte Germanistik, Romanistik und Religionspädagogik an der Universität Innsbruck. Von 1994 bis 1997 Lehrer für Deutsch und Religion an der Mittelschule der Franziskaner in Bozen, seit 1998 Mitarbeiter der Zeitschrift "kulturelemente". Pichler ist künstlerischer Leiter der ersten Literaturwoche im Kellertheater "Carambolage" in Bozen. Seit 2000 unterrichtet er an der Mittelschule Mariengarten von St.Pauls/Eppan. 1989 Preisträger des Jugendwettbewerbs "Zukunft heute gestalten"; 1990 und 1992 Preisträger des Literarischen Wettbewerbs der Südtiroler Sparkasse in der Sparte Prosa; 1998 Stipendium des Amtes für Schule und Kultur der Provinz Bozen zur Fertigstellung des Romans "Stachelmond/Lunaspina"; 1999 Prosapreis der Städte Hall und Brixen. martinpichler.com


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