Pichler | Störgeräusch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Pichler Störgeräusch

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7099-7699-9
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nichts ist mehr wie es war in der Familie Reider. Ein Störgeräusch hat sich eingeschlichen und überlagert mit seinem fremden Rauschen den gewohnten Alltag. Das Vertraute ist in Frage gestellt, neue Lebensentwürfe sind zwangsläufig Reisen ins Ungewisse. Martin Pichler erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte zweier Männer, Vater und Sohn, die nach dem Tod der Mutter diesen Aufbruch wagen. Der eine macht vorsichtige erste Schritte, die zu einer um vieles jüngeren Frau und einer nicht mehr für möglich gehaltenen Liebe führen. Der andere entflieht der Monotonie einer festen Beziehung mit einem anderen Mann, um sich auf ein nur scheinbar unverbindliches Spiel um Lust und Leidenschaft einzulassen.
Mit großem Einfühlungsvermögen beobachtet der Autor seine Figuren auf ihrem Weg. In konzentrierter, poetischer Sprache beschreibt er ihren Versuch, sich loszusagen von alten Sicherheiten und zu neuen tragfähigen Beziehungen zu finden, jenseits herkömmlicher Rollenmodelle und festgeschriebener Konventionen.
Pichler Störgeräusch jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


2
Er wirft einen Blick auf das Display seines Handys, kontrolliert, ob es einen Anruf anzeigt, denn plötzlich hat er ihre Stimme im Ohr, Vorfreude und Erwartung, Ja, Reider?, doch seine Sorge ist unbegründet, denn Margareth nimmt längst nicht mehr seine Anrufe entgegen, umsonst betätigt er die Tastensperre, als er das Café betritt. Sie hört nicht mit, als die Tür hinter ihm zuschnappt und das laute Gewimmel der Passanten aussperrt, sie merkt nicht, dass sein Schritt ganz samten geworden ist und die Schuhsohlen nicht mehr auf den Pflastersteinen klacken, sie glaubt nicht, plötzlich einzutauchen in ein abgedichtetes Aquarium, in welchem alle Geräusche gedehnt werden und sich durch einen Widerstand kämpfen bis an ihr Ohr, das Tassenklirren an den im Raum verteilten Tischchen, die Rufe der Bedienerinnen, welche die Bestellungen aufgeben, und die verhaltenen Stimmen der Gäste. Er bleibt auf dem zweiten Treppenabsatz stehen, lässt seinen Blick suchend im Raum umherschweifen. Sie haben kein Erkennungszeichen vereinbart, kein Kleidungsstück, keinen besonderen Sitzplatz, kein auf das Tischchen abgelegtes Indiz, das ihm jetzt über eine Verlegenheit hinweghelfen könnte, gerade so, als sähen sie sich das erste Mal. Er erinnert sich an die junge Frau, so wie er sie vor zehn Jahren kennen gelernt hat, und diese Erinnerung hat sich in den letzten Tagen unlösbar in seine traurigen Gedanken gemischt, dass er sie nicht aufgeben möchte, auch nicht für die Wirklichkeit: Maria, hier, zehn Jahre älter, an einem Tischchen. Aber wahrscheinlich ist sie schon weg, wurde sie es leid, bei jedem Bimmeln zur Tür zu schauen in der Hoffnung, er wäre es, wahrscheinlich hat sie das Warten aufgegeben und das Café wieder verlassen. Er legt sich eine Entschuldigung zurecht: Maria, ich konnte nicht eher weg. Margareth, horchend am Hörer, hätte ihn sofort durchschaut, den übereifrigen Ton in seiner Stimme bemerkt und ihn zu deuten gewusst: Wie verlogen deine Entschuldigung ist! Wenn nicht aus Versehen, so gab es früher wenig Gründe, die Heimnummer zu wählen: Verspätungen und glückliches Ankommen irgendwo, die immer gleiche, nur zwischen den Zeilen ausgesprochene Botschaft, sich keine Sorgen zu machen. Er fasste sich kurz, um nicht ins Stottern zu geraten, in peinliche Pausen zu tappen, die sich am Telefon mit falscher Bedeutsamkeit aufladen konnten. Mit Kunden und Vertretern lief er solche Gefahren nicht, nur bei ihr drohte diese Verlegenheit, die ihn überstürzt wieder auflegen ließ. Wenn er anrief und Margareths Stimme am anderen Ende Anlauf nehmen hörte, fröhlich und mit Schwung, um gerüstet zu sein für ein längeres Gespräch, sah er sich für einen kurzen Augenblick in die Rolle eines x-beliebigen Anrufers versetzt, im Geiste trat er aus dem innersten Kreis seiner Familie und hielt ein Ohr in diese Privatheit hinein, deren Sprecherin Margareth war. So erstrebenswert war das Bild, das sie abgaben. Franz wünschte sich, dazuzugehören, und erkannte dann erst, dass sein Wunsch bereits erfüllt war. Und, Margareth, wie schaut es aus?, eröffnete er sein Gespräch meistens mit einer Frage, um ihr den Ball zuzuspielen, den sie sofort aufnahm: Philipp und Lea sind schon da, Peter kommt später dazu. Wo bleibst du denn so lange? Nun gibt es keinen Grund mehr, die Heimnummer zu wählen. Der gewohnte Ablauf ihres Alltags ist außer Kraft gesetzt, hat dem Zuwarten Platz gemacht, das ohne geregelten Rhythmus bleibt: Zeit, die nicht verstreicht und es doch tut, vielleicht für die anderen, die hier im Café sitzen, in ihre Gespräche vertieft. Franz schaut verwirrt vor sich hin, er kann nicht glauben, dass sie keinen ihrer abgesprochenen Sätze mehr wechseln werden am Telefon, dass diese winzigen Rituale endgültig der Vergangenheit angehören sollen und er nie wieder Margareths Stimme hören wird. Damals, in der alten Zeitordnung, saßen sie alle miteinander am Mittagstisch, und Margareth rief nach dem ersten Läuten sofort: Das ist für dich, Franz!, als hätte sie den Anrufer und sein Begehren bereits am Klingelton erkannt. Fast jedes Mal wurde der Richtige von ihr zum Telefon geschickt: Lea, Philipp oder er. Sie führte Buch über ihr aller Leben, notierte selten etwas auf dem Notizzettel und vergaß nie, Anliegen oder Grüße auszurichten. Dann heiratete Lea und Philipp zog in die Wohnung im Erdgeschoss. Eine Weile lag das Cordless auf ihrem Nachtkästchen, sie konnte es vom Bett aus leicht erreichen und so ihre Stellung halten, wie sie es selbst formulierte. Auch in diesen Zeiten der Not stellte sie die telefonische Verbindung sicher und gab allen freimütig Auskunft über Rückschläge und Fortschritte. Eines Tages jedoch blieb der erste Anrufer in einer langen Kette ohne Glück, versuchte er es auch erneut zu einer günstigeren Zeit, zu Mittag oder zum Abendbrot, es hob niemand ab. Der Anrufer zählte die langgedehnten Signaltöne, damit sein Abwarten ein Maß erhalte und seine Hoffnung genügend Raum, und zog schließlich den traurigen Schluss: Margareth hatte ihre Stellung räumen müssen. Zu spät löst er sich aus seiner starren Haltung. Franz merkt, dass er sie die ganze Zeit von seiner Treppenstufe aus angestarrt hat wie ein Gespenst, das für ihn allein erkennbar mitten unter den anderen Gästen sitzt: Sie hat sich nicht verändert. Du hast mich erschreckt, Franz, sagt Maria, so wie du mich gerade eben angeschaut hast. Vielleicht war mein Vorschlag keine gute Idee. Sie spricht die Wörter mit der nötigen Härte aus, blickt ihm dabei direkt ins Gesicht. Sein Herz zieht sich zusammen. Bevor wir uns begrüßen können, tu ich dir schon Unrecht, entschuldigt er sich und bleibt in seiner Winterjacke vor ihr stehen, als hätte er sich soeben das Recht verwirkt, auf dem Bänkchen ihr gegenüber Platz zu nehmen. Dabei freue ich mich, dich zu sehen, nach so langer Zeit. Aber momentan geschieht mir das dauernd, sagt er und fingert ungeschickt an den Knöpfen seiner Jacke herum, ich setze ein Gesicht auf, das nicht zu meinen Gefühlen passt, ich will etwas sagen, und die Wörter fallen mir in den Rücken. Auch die Knöpfe, sagt sie und bringt ein Lachen zustande. Sie schüttelt den Kopf, steht auf und hilft ihm aus der Jacke. Setz dich, ich erledige das schon!, beruhigt sie ihn und macht die wenigen Schritte quer durch das Café, vielleicht froh darüber, dass sie ihm kurz entwischen kann, und sei es nur, um am Eingang den Bügel vom Kleiderständer zu nehmen und seine Jacke aufzuhängen in eine Reihe mit den anderen. Marias Geste ist ihm nur allzu vertraut: So ist ihm seine Frau immer zu Hilfe gekommen, alte Selbstverständlichkeiten, die er bereits vermisst. Maria setzt sich wieder und er gibt die Bestellung auf, mehr zur Aufrechterhaltung des Scheins, denn eigentlich verlangt ihn nach nichts. Als ihm die heiße Schokolade gebracht wird, will er sofort bezahlen: Rechnen Sie den Tee der Dame auch dazu. Er zeigt auf Maria und schämt sich dafür, wie plump ihm das herausgerutscht ist. Er taugt nicht zum Kavalier, er ist seit Jahrhunderten nicht mehr mit einer Frau in einem Café gesessen. Er ist auf Improvisation angewiesen. Unter anderen Umständen hätte er Zeit gehabt, sich auf einen Dialog vorzubereiten, ihn bis zur Schwindelfreiheit zu repetieren, sodass er sich den schmalen Grat entlanghangeln konnte, ohne einen falschen Tritt zu setzen in den zu beiden Seiten drohenden Abgrund: Margareths Sterben, dem er gerade den Rücken zugekehrt hat, und Marias stilles Angebot des Vergessens, von dem er nicht weiß, wie weit es reicht, und das er eben noch zurückgewiesen hat mit seinem vernichtenden Blick. Er denkt: Sie will nichts von mir, sie will nur, dass ich ihr die Geschichte erzähle, in welcher sie kurz ihren Auftritt hat. Es sind nicht nur die Jackenknöpfe, der Ausdruck seines Gesichts, seine Gefühle. In den letzten Tagen ist etwas mit den Wörtern passiert, jede noch so harmlose Wendung kehrt ihm, einmal gedacht oder ausgesprochen, ihre sarkastische Fratze zu: Du suchst also Abwechslung? Es gibt kaum einen Gedanken, über den er nicht stolpert. Wie soll er da einfache Konversation betreiben? Seine Unzulänglichkeiten werden ihm schlagartig bewusst, er hätte nicht kommen sollen und den richtigen Zeitpunkt abwarten. Den richtigen Zeitpunkt – wieder die Fratze! Margareth hielt dieser irrsinnigen Logik stand, sie war seit jeher stärker. Welche Zeitform verwendest du?, meldet sich die von Groll erfüllte Stimme in ihm. Ihrem Kopf zwei Polster untergeschoben, presste sie das Cordless ans rechte Ohr und versuchte, durch die vielen Nebelschichten der Schmerzmittel hindurch Mitgefühl zu bezeugen. Die Freundin ließ auf Margareth eine Lawine von Klagen los, die deren Seufzer zusehends unter sich begrub und, einmal in Bewegung gesetzt, ständig auf neue Felder übergriff, bis das Ohr ihrer Zuhörerin rot glühte. Margareth blendete die Unverhältnismäßigkeit einfach aus: Sie selbst, die das Liegen im Bett nur unter stärksten Dosen von Morphium ertrug, und ihre Freundin, die ein...


Martin Pichler geboren 1970 in Bozen, Studium der Germanistik, Romanistik und Religionspädagogik in Innsbruck. Lebt als Schriftsteller und Lehrer in Bozen. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Lunaspina. Roman (Skarabaeus 2001), bei Haymon: Nachtreise (2005).


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.