Piechotta-Henze / Dibelius | Menschenrechtsbasierte Pflege | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Piechotta-Henze / Dibelius Menschenrechtsbasierte Pflege

Plädoyer für die Achtung und Anwendung von Menschenrechten in der Pflege

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-456-95913-9
Verlag: Hogrefe AG
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Wie kann man Menschenrechte in der Pflege achten und anwenden? Ein Plädoyer für Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte in der Pflege und durch die Pflegenden. Wie kann man Menschenrechte in der Pflege achten und anwenden? - Das Fachbuch zur menschenrechtsbasierten Pflege analysiert, welche Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie -verpflichtungen in Menschenrechten und Menschenwürde für die nationale und internationale pflegerische Versorgungspraxis liegen. Exemplarisch stellen die Autorinnen dies an den Themen Arbeitsmigration, Fachkräftemangel, Personalbesetzung, Ökonomisierung und Privatisierung dar. Sie beschreiben, wie förderlich oder hinderlich bestimmte Arbeitsbedingungen sind, um Menschenrechte und -würde achten zu können. All das unter Bedingungen von Pflegeausbildung und -praxis und im Kontext von Digitalisierung und Migration sowie von Diskriminierung und moralischer Desensibilisierung. Im direkten Umgang von Mensch zu Mensch plädieren die Herausgeberinnen und Autorinnen dafür, Menschenrechte in der Pflege zu achten und anzuwenden. Sie zeigen dies exemplarisch an Themen der Autonomie, Beziehungsgestaltung und Humanität und an Beispielen der Pflege alter Menschen, der Palliative Care und in der Sorge um den Erhalt sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Das Fachbuch wendet sich an Pflegefachpersonen, Pflegestudierende, -lehrende und Pflegeleitende.

Aus dem Inhalt
I. Globalisierung, Arbeitsmigration und Flucht
II. Strukturelle Einbindung von Pflege in globalisierten und ökonomisierten Gesundheitswesen
III. Menschenwürde, Menschenbilder und Interaktionen in der Pflege.
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Zielgruppe


Pflegestudierende, Pflegelehrende, Pflegefachpersonen, Pflegeleitende.

Weitere Infos & Material


1;Inhaltsverzeichnis, Geleitwort, Vorwort;7
2;1 Globaler Markt, lokale Konsequenzen (Monika Habermann);25
2.1;1.1 Ungedeckter Bedarf an Pflegefachkräften;26
2.2;1.2 Begrifflichkeiten und Daten;27
2.3;1.3 Rekrutierung von Pflegekräften – menschenrechtliche Aspekte;29
2.3.1;1.3.1 Globale Gerechtigkeit;29
2.3.2;1.3.2 Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, Vermittlungsagenturen;31
2.3.3;1.3.3 Das Individuum – Pflegekräfte, Patient*innen und Pflegebedürftige;31
2.3.4;1.3.4 Empirische Befunde zu internationalen Fachkräften;32
2.4;1.4 Handlungsempfehlungen und Schlussfolgerungen;33
3;2 Care Work in Deutschland (Olivia Dibelius und Gudrun Piechotta-Henze);37
3.1;2.1 Care Worker*innen als die bessere Alternative;38
3.2;2.2 Historische Sicht und aktueller Kontext;39
3.2.1;2.2.1 Postkolonialismus und Globalisierung;39
3.2.2;2.2.2 Hintergründe und Situationen in Deutschland;40
3.3;2.3 Menschenrechtsbasierte Perspektiven;43
4;3 Menschenrechte von jungen geflüchteten Kindern in Unterkünften (Anne Wihstutz);47
4.1;3.1 Rechte asylbegehrender Kinder;48
4.2;3.2 Care als Versorgungssystem;50
4.3;3.3 Care als Haltung und Handlung;51
4.4;3.4 Care Verhältnisse von jungen begleiteten geflüchteten Kindern;52
4.5;3.5 Care in Massenunterkünften für Geflüchtete;53
4.6;3.6 Elternrechte und Elternpflichten;53
4.7;3.7 Spielen und Rückzug;53
4.8;3.8 Gesellschaftliche Teilhabe;54
4.9;3.9 Schutz;55
4.10;3.10 Adultismus;56
4.11;3.11 Versorgender schützender Staat;57
4.12;3.12 Perspektiven und Neuorientierungen;58
5;4 Mahnung und Umdenken: Menschenrechte von Älteren (Claudia Mahler);65
5.1;4.1 Von der Unsichtbarkeit älterer Menschen;66
5.1.1;4.1.1 Entwicklungen im Menschenrechtsschutzsystem;66
5.1.2;4.1.2 Ein menschenrechtlicher Ansatz;68
5.2;4.2 Konkrete Empfehlungen durch die UN-Vertragsausschüsse;68
5.3;4.3 Die Lage in Deutschland;69
5.3.1;4.3.1 Diskriminierungsfreiheit, Autonomie, Inklusion und Zugang zum Recht;70
5.3.2;4.3.2 Menschenrechte Älterer;71
5.3.3;4.3.3 Recht auf einen angemessenen Lebensstandard;71
5.3.4;4.3.4 Recht auf Freiheit von Gewalt;71
5.4;4.4 Die Menschenrechte der Pflegenden;72
5.5;4.5 Perspektive: Menschenrechte als Messlatte für gute Pflege;73
6;5 Menschenrechte, Pflege und die Pflegeversicherung (Thomas Klie);77
6.1;5.1 Professionelle Pflege und Menschenrechte;78
6.2;5.2 Bedeutungszuwachs von Menschenrechten in der Pflege;78
6.3;5.3 Menschenrechtsverletzungen und Pflege;81
6.4;5.4 Problemorientierte Bilanz und Handlungsfelder;82
6.4.1;5.4.1 Professionalisierung der Pflege und Menschenrechte;82
6.4.2;5.4.2 Assessment und Rechtswahrnehmung;83
6.4.3;5.4.3 Technik und Verrechtlichung;83
6.4.4;5.4.4 Menschenrechte und Qualitätssicherung;84
6.4.5;5.4.5 Pflegeversicherung und Menschenrechte;84
6.4.6;5.4.6 Menschenrechte in geteilter Verantwortung;85
6.5;5.5 Schlussbemerkung;85
7;6 Mobilisierung von Recht in der Pflege (Judith Dick);89
7.1;6.1 Menschenrechte in der Diffusionsspirale mit Bumerang;90
7.2;6.2 Soziale Menschenrechte gerichtlich durchsetzen;91
7.3;6.3 Rechtschutzpotentiale trotz Pflegebedürftigkeit;92
7.4;6.4 Whistleblowing als Kontrolle angesichts des Pflegenotstands;94
7.5;6.5 Machtfragen von Medizin und Pflege;95
7.6;6.6 Menschenrechtsschutz vor Gewalt in der häuslichen Pflege;95
7.7;6.7 Beratung und gegenseitige Kontrolle;96
7.8;6.8 Fazit;97
8;7 Wettbewerb als Leitmotiv (Martin Büscher);101
8.1;7.1 Ökonomisierung. Eine Bestandsaufnahme im Gesundheitswesen;103
8.2;7.2 Ökonomisierung: Vorgaben neo-liberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik;104
8.3;7.3 Die Wiedereinbettung von Managementkonzepten;106
8.4;7.4 Ordoliberale Gesundheitspolitik als Vorgabe des Gesundheitswesens;108
8.5;7.5 Ein ordnungspolitischer Rat für das Gesundheitswesen;110
9;8 Zwischen Klasse, Profession und Betrieb – Interessenorganisation in der Altenpflege (Michaela Evans und Christine Ludwig);115
9.1;8.1 Zukunft der Altenpflege als Humanisierungsprojekt;117
9.2;8.2 Chancen für bedarfsorientierte Versorgung und bessere Arbeit;118
9.3;8.3 Aushandlungsprozesse jenseits der Professionsgrenze;120
9.4;8.4 Ausdifferenzierung der Interessenorganisation und -vermittlung in der (Alten-)Pflege;121
9.5;8.5 Ausblick: Stolpersteine und Herausforderungen;125
10;9 Personalmangel in der Pflege: Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten (Uwe Bettig);129
10.1;9.1 Fachkräftemangel in der Pflege;131
10.2;9.2 Ansatzpunkte zur Lösung;132
10.2.1;9.2.1 Die Rolle der Unternehmen;133
10.2.2;9.2.2 Die Rolle der Politik;135
10.2.3;9.2.3 Die Rolle der Hochschulen;136
10.3;9.3 Realer Mangel und mögliche Perspektiven;136
11;10 Personelle Besetzung im Pflegebereich von Krankenhäusern (Inga Meyer-Kühling und Sandra Mehmecke);139
11.1;10.1 Strukturelle Rahmenbedingungen und subjektive Belastungsfaktoren;140
11.2;10.2 Menschenrechtsbasierte Versorgung in diesem Kontext;142
11.3;10.3 Personalbedarf in der Pflege;144
11.4;10.4 Personalbindung und Personalgewinnung;145
11.5;10.5 Fazit;146
12;11 Generalistische Pflege auf Augenhöhe (Claudia Winter);151
12.1;11.1 Generalistisch denken und handeln;152
12.2;11.2 Die generalistische Pflegeausbildung: Hürden und Chancen;152
12.3;11.3 Emotionale Herausforderungen während der praktischen Pflegeausbildung;154
12.3.1;11.3.1 Entstehungskontext und Untersuchungsanlage;154
12.3.2;11.3.2 Empirische Ergebnisse;154
12.4;11.4 Der Feindseligkeit Pflegender ausgesetzt sein;156
12.4.1;11.4.1 Verständnis von Feindseligkeit in der Pflege;156
12.4.2;11.4.2 Häufige Muster von Feindseligkeit gegenüber Auszubildenden;157
12.5;11.5 Entwurf eines persönlichkeitsstärkenden Praxisbegleitungskonzepts;158
12.5.1;11.5.1 Bildungs-, Pflege- und Lernverständnis;158
12.5.2;11.5.2 Methodische Implikationen zur Gestaltung von Begleitungsthemen;160
12.6;11.6 Die Generalistik – eine Herausforderung;160
13;12 Digitalisierung und Roboterisierung in der Pflege (Arne Manzeschke und Julia Petersen);163
13.1;12.1 Das Menschengerechte in der Digitalisierung bedenken;164
13.2;12.2 Technikeinsatz in der Pflege;164
13.3;12.3 Ethisch-anthropologische Überlegungen;166
13.4;12.4 Exkurs über Menschenrechte und Menschenwürde;167
13.5;12.5 Menschliche Würde und Technikeinsatz in der Pflege;169
13.6;12.6 Robotik in der Pflege – ethische und anthropologische Aspekte;170
13.7;12.7 Beziehungen als Ausgangs- und Zielpunkt der Pflege;171
13.8;12.8 Implikationen;171
14;13 Würde des Alters – Ausdruck der Humanität einer Gesellschaft (Andreas Kruse);179
14.1;13.1 Vielschichtigkeit von Alternsprozessen;180
14.2;13.2 Perspektiven jenseits der eigenen Person;180
14.3;13.3 Vermeidung einseitiger Belastungsdiskurse;181
14.4;13.4 Integration von Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive;182
14.5;13.5 Zugang zum Erleben der Person mit Demenz;183
14.6;13.6 Allgemeine Menschenwürde und spezifische Würde des Menschen;184
14.7;13.7 Würde im Kontext von Grundbefähigungen und Verwirklichungschancen;186
14.8;13.8 Mitverantwortung (Sorge) für andere Menschen;187
15;14 Pflege im Alter: Fürsorge-Herausforderungen des Autonomieprinzips (Monika Bobbert);191
15.1;14.1 Autonomie als Phänomen und Anspruch;192
15.1.1;14.1.1 Selbstständigkeit und das Autonomieprinzip in Gerontologie und Altenhilfe;192
15.1.2;14.1.2 Autonomie und Theorien des Alterns;193
15.1.3;14.1.3 Handlungsautonomie als Fähigkeit und Aufgabe;193
15.1.4;14.1.4 Zum Begriff der Autonomie;194
15.1.5;14.1.5 Autonomie: Deskription, Evaluation und Präskription;194
15.2;14.2 Drei Typen von Autonomiekonzepten im ethischen Diskurs;194
15.2.1;14.2.1 Libertäre Autonomie;194
15.2.1.1;14.2.1.1 Abwesenheit äußeren Zwangs;194
15.2.1.2;14.2.1.2 Fürsorge angesichts libertärer Autonomiekonzepte;195
15.2.1.3;14.2.1.3 Fehlende Berücksichtigung struktureller Freiheitseinschränkungen;195
15.2.2;14.2.2 Hierarchische Autonomiekonzepte;195
15.2.2.1;14.2.2.1 Authentischer, wohlüberlegter Wille;196
15.2.2.2;14.2.2.2 Sozialisation und Interaktion zwischen Person und sozialem Umfeld;196
15.2.2.3;14.2.2.3 Philosophische Lebensberatung;197
15.2.2.4;14.2.2.4 Wohlüberlegte Wünsche durch Erzählen und Erinnern;197
15.2.3;14.2.3 Autonomie als moralische Selbstverpflichtung;198
15.2.3.1;14.2.3.1 Autonomie als übergeordnetes Moralprinzip;198
15.2.3.2;14.2.3.2 Moralische Rechte und Pflichten;199
15.2.3.3;14.2.3.3 Ethische Beratung und Entscheidungsfindung;199
15.3;14.3 Informierte Zustimmung: zwischen libertären und hierarchischen Autonomiekonzepten;200
15.4;14.4 Autonomiekonzepte im Diskurs: Ergebnisse;201
15.4.1;14.4.1 Wissen um unterschiedliche Autonomieprinzipien;201
15.4.2;14.4.2 Autonomiekonzepte: Voraussetzungen und etwaiger Förderbedarf;201
15.4.3;14.4.3 Autonomie von Menschen im Alter;202
15.4.4;14.4.4 Teilreziprozität bei Fürsorge für das Autonomieprinzip;202
15.4.5;14.4.5 Autonomieprinzip und Verletzbarkeit des Menschen;202
16;15 Gewalt in der Pflege (Uta Oelke);205
16.1;15.1 Die Menschen stärken und die Sachen klären;206
16.2;15.2 Grundzüge szenischer Bildungsarbeit;206
16.2.1;15.2.1 Menschrechtsbasiertes Bildungsverständnis;206
16.2.2;15.2.2 Lernverständnis und Haltungsarbeit;207
16.3;15.3 Kernannahmen zum Thema „Gewalt in der Pflege“;208
16.4;15.4 Das Seminar „Gewalt in der Pflege“;210
16.4.1;15.4.1 Alltägliche Gewalt;210
16.4.2;15.4.2 Nachhaltig erinnerte Gewaltszenen;212
16.5;15.5 Das Schweigen brechen;214
17;16 Gleichbehandlung in der Pflege? (Aleksandra Lewicki);217
17.1;16.1 Demografischer Wandel und Vielfalt – synergetische Entwicklungen?;218
17.2;16.2 Reformbemühungen von Caritas und Diakonie;218
17.3;16.3 Die qualitative Erhebung;219
17.3.1;16.3.1 Fachkräfte in der Pflege;219
17.3.1.1;16.3.1.1 Die Rechtslage;219
17.3.1.2;16.3.1.2 Reformbemühungen;220
17.3.1.3;16.3.1.3 Auswirkungen auf die Pflegepraxis;222
17.3.2;16.3.2 Pflegeempfänger*innen;222
17.3.2.1;16.3.2.1 Die Rechtslage;222
17.3.2.2;16.3.2.2 Reformbemühungen;223
17.3.2.3;16.3.2.3 Auswirkungen auf den Alltag in der Pflege;224
17.4;16.4 Schlussfolgerungen und Reformvorschläge;226
18;17 Pflegefachlicher Anspruch und moralische Desensibilisierung (Karin Kersting);229
18.1;17.1 Widerspruch in den Anforderungen an Pflegende;230
18.2;17.2 Versprochene Patient*innenorientierung und die Versorgungsrealität;230
18.3;17.3 Dialektik von Sollen und Sein in der Pflege;232
18.4;17.4 „Bürgerliche Kälte“ und Reaktionsmuster auf Kälte;235
18.5;17.5 Der Stellenwert von Reflexion;238
19;18 Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt – menschenrechtsorientierte Pflege im Alter? (María do Mar Castro Varela und Ralf Lottmann);243
19.1;18.1 LSBTIQ+ im Alter: Wenig Forschung, bedenkliche Tendenzen;245
19.2;18.2 Methodisches Vorgehen zur Studie mit LSBTIQ+ Senior*innen;246
19.3;18.3 Wiederholtes Coming Out: Verletzlichkeit und Handlungsmacht im Fokus;247
19.4;18.4 Schlussfolgerungen;250
20;19 Bis zum Lebensende und darüber hinaus: Palliative Care (Elisabeth Reitinger und Katharina Heimerl);255
20.1;19.1 Wie und was zu tun ist;256
20.2;19.2 Wurzeln und Entwicklungsstränge;256
20.3;19.3 Sich an Betroffenen und ihren Bedürfnissen orientieren;259
20.4;19.4 Achtsame und würdigende Beziehungen;261
20.5;19.5 Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Sorgekultur;263
20.6;19.6 Palliative Care als Menschenrecht;265
21;Anhang;269
21.1;Herausgeberinnen- und Autoren*innenverzeichnis;271
21.2;Sachwortverzeichnis;279


|13|Geleitwort
Die Vorstellung einer Würde des Menschen ist in theologischen, philosophischen und verfassungsrechtlichen Traditionen überliefert. Sie kommt allen Menschen in gleichem Maße zu und kann nicht verloren gehen oder aberkannt werden. Gleichwohl wird Menschenwürde durch eigene oder durch Handlungen anderer Menschen sowie durch strukturelle Rahmenbedingungen verletzt. Durch Gewalt, aber auch durch Eingriffe in Freiheitsrechte können Menschen derart geschädigt werden, dass „… die nicht bloß dem Ehrliebenden (der auf Achtung anderer Anspruch macht, was ein jeder bloß tun muss) schmerzhafter sind als der Verlust der Güter und des Lebens, sondern auch dem Zuschauer Schamröte abjagen, zu einer Gattung zu gehören, mit der man so verfahren darf.“ (Kant, 1797, zit. nach Ludwig, 2017, S. 111). Was Immanuel Kant in der Zeit der beginnenden Aufklärung zu staatlicher Willkür und unmenschlichen Strafen bemerkte, wurde zum Wegbereiter für die Menschenrechte. Würde ließ sich nicht länger nur als eine Eigenschaft von Menschen auffassen, die sie deshalb besitzen, weil sie Menschen sind. Vielmehr ging es nun auch darum, dass diese Würde das Anrecht verlieh, in einer bestimmten Art und Weise geachtet und behandelt zu werden. Kants Zitat bekam für mich Anfang der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts eine neue Bedeutung. Pflege kam als Studiengang in unterschiedlichen Formaten an die Hochschulen. Mit der Akademisierung erlebte auch die Ethik in der Pflege einen Aufschwung und wurde zu einem wichtigen, aber nicht unumstrittenen Thema. Pflegende hatten es zu allen Zeiten mit vulnerablen Menschen zu tun, sei es bei Versorgung von Kranken, in der Betreuung von Alten oder in der Begleitung von Sterbenden. Das Berufsethos der Pflege vermittelte eine sensibilisierte Haltung zu asymmetrischen Pflegebeziehungen und übte diese durch Sozialisationsprozesse im Berufsalltag ein. Mit der Akademisierung und der Pflegeethik sollte sich dieser Zugang verändern. Nun galt es, das eigene pflegerische Handeln kritisch in den Blick zu nehmen, es an Maßstäben ethischer Überlegungen und Traditionen zu reflektieren und rechenschaftsfähig insbesondere in Konfliktsituationen zu sein. Ein internalisiertes Pflegeethos konnte dabei zwar eine für den Berufsstand angemessene Handlung hervorbringen, reichte aber für die zunehmend komplexer werdenden Herausforderungen des Gesundheitswesens nicht mehr aus. Mein Weg führte mich zu dieser Zeit als Ethikprofessorin in einen der neu entstandenen Studiengänge der Pflege, namentlich in die Pflegewissenschaft. In Seminaren und bei Vorlesungen arbeitete ich nun mit Studierenden zusammen, die über hohe Pflegeexpertise und lange Berufspraxis verfügten. Es waren die besten Fachkräfte der Pflege, die die Möglichkeiten eines einschlägigen Studiums mit großem Engagement wahrnahmen. Nur der Zugang in der Pflegeethik gestaltete sich schwierig. Denn schließlich: Was konnte besser sein als eine gefestigte pflegerische Haltung? Über Moral und Ethik wurde nicht diskutiert, denn eine für die Pflege am Menschen angemessene Gesinnung war vorhanden. Oder sie war es halt nicht. Was gab es darüber hinaus zu sagen? Ein intensiver Austausch über ethische Fragen gelang über das Kant-Zitat. Es brach die Sprachlosigkeit auf. Über Situationen, die Schamröte ins Gesicht treiben, konnten die Studierenden der Pflegewissenschaft reichlich berichten. Obwohl die Geschehnisse z.?T. viele Jahre zurück lagen, wurden die Geschichten unter Kopfschütteln, Betroffenheit und Tränen erzählt. Vor dem Hintergrund von Menschenwürde und Menschenrechten war ein intuitives Verständnis von Moral in den geschilder|14|ten Erlebnissen erkennbar, aber auch die Schwierigkeit, Entscheidungen ethisch begründet treffen, Situationen als unangemessen zurückweisen oder sich einer Anordnung verweigern zu können. In einer Geschichte ging es um das Zimmer einer Krebspatientin im fortgeschrittenen Stadium, die vor Schmerzen schrie und die nicht ausreichend therapiert werden konnte. Pflegende mieden in stiller Übereinkunft diesen Raum, wenn es ihnen nur irgendwie möglich war. Eine andere Episode handelte von einer stark übergewichtigen Patientin, die über viele Tage zum allgemeinen Spott auf einer Station wurde. Durch Blicke und Gesten machten sich Pflegende in ihrer Gegenwart lustig. Die Patientin wurde dann in ein anderes Krankenhaus verlegt, weil sich die erhofften Genesungsfortschritte nicht einstellen wollten. An Patient*innen mit apallischem Syndrom wurden in einer Pflegeeinrichtung mit großem Forschungsinteresse, aber ohne eingeholte Einwilligung neue Pflegematerialien „ausprobiert“ und die Ergebnisse für eigene Studien verwertet. In der ambulanten Pflege entstanden am Monatsende Versorgungssituationen, in denen Pflegebedürftigen in ihrer häuslichen Umgebung kein Frühstück gereicht werden konnte, weil aus Geldnot nichts Essbares mehr verfügbar war. Pflegende standen dann vor der Frage, ob sie Nahrungsmittel aus eigenen Vorräten mitbringen oder ob sie eine Behörde mit der Konsequenz informieren sollten, dass daraus weitreichende Veränderungen für das Leben der Betroffenen anstehen könnten. Ausländische Hilfskräfte für die häusliche Betreuung von Patient*innen mit dementiellen Erkrankungen wurden auf Parkplätzen hinter Supermärkten angeworben; sie lebten und arbeiteten dann wochenlang ohne Privatsphäre auf der Ausziehcoach im Wohnzimmer einer mit der Pflege überforderten Familie. Die Berichte über Verletzungen von Menschenwürde und Menschenrechten sind zahlreich, denn menschenrechtsbasierte Pflege stellt eine dauerhafte Herausforderung in der Pflege dar. Meine Aufgabe in der Pflegeethik war und ist es noch heute, Pflegende mit einer Sprache und mit Denkansätzen vertraut zu machen, die aus der emotionalen Betroffenheit heraushelfen und sie sprach- und handlungsfähig werden lassen. Denn darum geht es: ethische Probleme in schwierigen Situationen wahrzunehmen, sie zu benennen und mit anderen Beteiligten über eine Lösung ins Gespräch zu kommen. Wichtig dabei sind ein reflektierter Standpunkt, der gegebenenfalls auch gegen Widerstände vertreten werden kann, sowie der Mut, beherzt zu handeln. Pflege ist wie kaum eine andere Profession untrennbar mit der Frage verbunden, wie berufsbezogene Situationen menschenwürdig und menschengerecht gestaltet werden können. Aus der Würde jedes einzelnen Menschen ergeben sich normative Konsequenzen im Blick auf Selbstverpflichtungen und Tugendpflichten gegenüber anderen. Menschen können ihre eigene Würde aufs Spiel setzen durch die Art und Weise, wie sie mit sich selbst oder mit anderen umgehen. Entfremdung von der Arbeit kann beispielsweise dazu führen, dass die Würde in Gefahr gerät. Zur Wahrung der Würde gehört ein „Schutzraum“ für das eigene Leben, in dem eigene Bedürfnisse und Vorstellungen von einem guten Leben umgesetzt werden können. Menschen, die zu Arbeitsmaschinen in der Pflege degradiert werden und sich im ständigen Einsatz befinden, verlieren das Gefühl für das eigene Subjekt sein. In der Gefahr stehen nicht nur Hilfskräfte in ungeschützten Arbeitsverhältnissen, sondern auch Pflegende in Zeiten des Pflegenotstands. Würde entsteht ferner als Tugendpflicht in der Begegnung. Menschen schulden sich gegenseitig Wohlwollen und sollten Formen der Missachtung sowie der üblen Nachrede und Verhöhnung unterlassen, wenn sie die Würde anderer Menschen wahren wollen. Gegen gelegentliche Späße ist nichts einzuwenden. Doch wird über einen Menschen im Zustand von Krankheit als Ganzes gespottet, etwa über sein äußeres Erscheinungsbild, entsteht Ohnmacht und damit Würdeverlust. Die betroffene Person |15|kann sich nicht dagegen wehren. Die auferlegten Tugendpflichten gegenüber anderen Menschen werden somit in grober Weise verletzt, dadurch verlieren diejenige ihre Würde, die so handeln. Dies ruft die bei Kant erwähnte Schamröte hervor. Aus der Menschenwürde erwachsen auch Rechtspflichten. Sie sind im Ethos der Menschenrechte verankert, einer äußeren Gesetzgebung unterworfen und werden jedem Menschen als natürliches Recht anerkannt. Im politisch-institutionellen Raum eines demokratischen Verfassungsstaates umgesetzt bilden sie ein System koexistierender Freiheiten. Zu Zeiten Kants ging es zunächst darum, Abwehrrechte gegenüber einem übermächtigen Staat zu erwirken. Heute noch kann es für Pflegende in dieser Hinsicht zu konflikthaften Situationen kommen, wenn beispielsweise behandlungsbedürftige Asylbewerber*innen...


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