Qiu | Tod einer roten Heldin | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

Qiu Tod einer roten Heldin

Roman

E-Book, Deutsch, 464 Seiten

ISBN: 978-3-552-05806-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Oberinspektor Chen ermittelt in einem mysteriösen Mordfall: Das Opfer, Guan Hongying, war Leiterin einer Kosmetikabteilung und Modellarbeiterin - als Heldin der Arbeit ein politisches Vorbild. In ihrem Wäscheschrank findet Chen bürgerlich-dekadente Reizwäsche und ein Bündel erotischer Fotos. Keine Frage: ein brisanter Fall, der bis in die höchsten poitischen Kreise führt.
Shanghai 1990, eine Stadt an der Schwelle zwischen Kommunismus und Kapitalismus: Qiu Xiaolongs spannender Kriminalroman führt den Leser mitten in das chinesische Alltagsleben - eine fesselnde Krimi-Sensation.

Qiu Xiaolong wurde 1953 in Shanghai geboren. Er arbeitete als Übersetzer, veröffentlichte Lyrik und Literaturkritiken. Seit 1988 lebt er in den USA, wo er seit 1994 chinesische Sprache und Literatur lehrt. Seine Krimis um Oberinspektor Chen erscheinen bei Zsolnay, zuletzt Blut und rote Seide (2009), Tödliches Wasser (2011) und 99 Särge (2014).2016 ist der neue Band Schakale in Shanghai erschienen.
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1   Die Tote wurde am 11. Mai 1990 um 16.40 Uhr im Baili-Kanal gefunden, einem abgelegenen Kanal etwa 35 Kilometer westlich von Shanghai. Gao Ziling, Kapitän der Vorhut, stand neben der Leiche und spuckte dreimal kräftig auf den feuchten Boden – ein halbherziger Versuch, die bösen Geister jenes Tages abzuwehren. Eines Tages, der mit dem lang ersehnten Wiedersehen zweier Freunde begann, deren Wege sich vor über zwanzig Jahren getrennt hatten. Die Vorhut, ein Patrouillenboot der Shanghaier Wasserwacht, war eher zufällig um etwa halb zwei auf dem Baili-Kanal unterwegs; normalerweise kam das Boot nicht einmal in die Nähe dieser Gegend. Die ungewöhnliche Route war von Gaos altem Freund Liu Guoliang vorgeschlagen worden, den Gao seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auf der Mittelschule waren sie eng befreundet. Nach der Schule, Anfang der sechziger Jahre, hatte Gao angefangen, in Shanghai zu arbeiten, Liu hingegen hatte noch eine Hochschule in Peking besucht und danach in einem atomaren Testzentrum in der Provinz Qinghai zu arbeiten begonnen. Während der Kulturrevolution verloren sie sich aus den Augen. Nun hatte Liu geschäftlich in Shanghai zu tun – es ging um ein Projekt, an dem eine amerikanische Firma beteiligt war – und nahm sich einen Tag frei, um Gao zu treffen. Beide freuten sich sehr darauf, sich nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen. Sie hatten sich an der Waibaidu-Brücke verabredet, wo der Suzhou Creek in den Huangpu fließt. Im Sonnenlicht war die Stelle, an der die beiden Flüsse sich treffen, deutlich zu erkennen. Allerdings war der Suzhou Creek noch stärker verschmutzt als der Huangpu; gegen den klaren blauen Himmel wirkte er wie eine schwarze Plane, und trotz der angenehmen Sommerbrise roch er faulig. Gao entschuldigte sich mehrmals. Er hätte für diese besondere Gelegenheit einen hübscheren Ort vorschlagen sollen, meinte er, zum Beispiel das Teehaus im Herzen des Sees in der Altstadt von Shanghai. Bei einer guten Tasse Tee und den klassischen Klängen von Pipa- und Sanxian-Musik im Hintergrund hätte man sich dort über vieles unterhalten können. Doch er mußte auf der Vorhut bleiben, denn niemand hatte seine Schicht übernehmen wollen. Als Liu auf das trübe Wasser mit all dem Müll blickte – Plastikflaschen, leere Bierdosen, flachgepreßte Kartons, Zigarettenschachteln –, schlug er vor, mit dem Boot an eine andere Stelle zu fahren und dann dort zu angeln. Der Fluß hatte sich so stark verändert, daß die beiden alten Freunde ihn kaum noch wiedererkannten. Sie selbst hatten sich dagegen nicht so stark verändert – das Angeln war eine Leidenschaft, der beide schon in ihrer Schulzeit frönten. »In Qinghai habe ich den Geschmack von Karauschen schrecklich vermißt«, gestand Liu. Gao ging sofort auf Lius Vorschlag ein. Einen Ausflug flußabwärts wollte er mühelos als ganz normale Fahrt ausgeben. Außerdem konnte er seinem Freund zeigen, wie gut er mit seinem Boot umgehen konnte. Also schlug er als Ziel den Baili-Kanal vor, einen Seitenkanal des Suzhou Creek, etwa vierzig Kilometer südwestlich der Waibaidu-Brücke. Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen hatten sich bislang noch nicht auf diesen Kanal ausgewirkt, denn er lag weitab der Hauptstraßen, und auch das nächste Dorf war einige Kilometer entfernt. Allerdings war der Wasserweg dorthin nicht ganz einfach. Sobald sie die Östliche Raffinerie hinter sich gelassen hatten, die direkt am Wusong in den Himmel ragte, wurde der Fluß immer schmaler, und manchmal war er so seicht, daß er kaum befahrbar war. Sie mußten tiefhängende Äste beiseite schieben, doch nach einigen Mühen gelangten sie schließlich wieder in tieferes Gewässer, das von langen Gräsern und allerlei anderen Gewächsen getrübt war. Zum Glück war der Baili-Kanal genauso schön, wie Gao versprochen hatte. Er war zwar nicht breit, doch da es im letzten Monat heftig geregnet hatte, führte er genügend Wasser. Und Fische gab es hier auch reichlich, da das Wasser relativ sauber war. Sobald sie ihre Köder ausgeworfen hatten, spürten sie schon, wie die Fische bissen. Bald konnten sie die Leinen wieder einholen. Fische über Fische sprangen aus dem Wasser, landeten auf dem Boot, zuckten, schnappten nach Luft. »Sieh dir den mal an!« sagte Liu und deutete auf einen Fisch, der sich zu seinen Füßen wand. »Mehr als ein Pfund schwer!« »Phantastisch!« sagte Gao. »Du bringst uns heute Glück!« Gleich darauf zog auch Gao den Haken aus dem Maul eines Barsches, der sicher ein halbes Pfund wog. Erfreut warf er die Schnur mit einem geübten Schwung seines Handgelenks wieder aus. Er hatte sie noch nicht halb eingeholt, als es heftig ruckte. Die Angel bog sich, und ein riesiger Karpfen funkelte im Sonnenlicht. Sie kamen kaum zum Reden. Die Zeit lief rückwärts, während silberne Schuppen im goldenen Sonnenlicht tanzten. Zwanzig Minuten oder zwanzig Jahre – die beiden fühlten sich in ihre Jugend zurückversetzt. Zwei Schüler, nebeneinander sitzend, redend, trinkend, angelnd, und die ganze Welt baumelte an ihren Angelschnüren. »Was bekommt man denn für ein Pfund Karauschen?« fragte Liu, der schon wieder einen stattlichen Fisch in der Hand hielt. »Für einen von dieser Größe?« »Mindestens dreißig Yuan, würde ich sagen.« »Ich habe hier gut vier Pfund, die sind also etwa hundert Yuan wert, stimmt’s?«, sagte Liu. »Wir sind jetzt erst eine Stunde hier, und ich habe schon mehr hereingeholt, als ich in einer Woche verdiene.« »Ist das dein Ernst?« fragte Gao und holte einen Sonnenfisch von seinem Haken. »Ein Atomingenieur mit deinem Ruf?« »Tja, ist aber so. Ich hätte lieber Fischer werden und südlich des Yangzi zum Angeln gehen sollen«, sagte Liu kopfschüttelnd. »In Qinghai bekommen wir oft monatelang keinen Fisch zu sehen.« Liu arbeitete seit zwanzig Jahren in dieser Wüstengegend. Einer alten Tradition folgend servierten die dort lebenden Bauern zum Frühlingsfest einen hölzernen Fisch, denn das chinesische Schriftzeichen für Fisch bedeutet auch Überfluß, also Glück für das kommende Jahr. Vielleicht vergaß man dort mit der Zeit, wie Fisch schmeckte, doch die Tradition war nicht in Vergessenheit geraten. »Das ist doch nicht zu fassen«, empörte sich Gao. »Der große Wissenschaftler, der Atombomben herstellt, verdient weniger als ein fliegender Händler mit seinen Tee-Eiern. Eine Schande!« »Das ist die Marktwirtschaft«, sagte Liu. »Das Land ändert sich, die Richtung stimmt, die Menschen haben ein besseres Leben.« »Aber es ist doch ungerecht, zumindest dir gegenüber.« »Na ja, eigentlich kann ich momentan nicht klagen. Das war vor einiger Zeit nicht so. Du kannst dir sicher denken, warum ich dir während der Kulturrevolution nicht geschrieben habe.« »Nein, warum denn nicht?« »Ich wurde als bürgerlicher Intellektueller kritisiert und ein Jahr lang eingesperrt. Nach meiner Freilassung galt ich noch immer als Rechtsabweichler, und da wollte ich nicht, daß ein Verdacht auf dich fällt.« »Das tut mir wirklich leid«, sagte Gao. »Aber du hättest mir trotzdem Bescheid geben sollen. Allerdings hätte ich mir das auch denken können, als meine Briefe immer wieder zurückkamen.« »Nun, das ist jetzt vorbei«, sagte Liu. »Jetzt sitzen wir hier und angeln nach unseren verlorenen Jahren.« »Das eine sage ich dir«, meinte Gao, der das Thema wechseln wollte, »wir haben inzwischen genug für eine hervorragende Fischsuppe.« »Eine wunderbare Suppe – he, da ist ja noch so ein Prachtbursche!« Liu zog einen gut dreißig Zentimeter langen, zuckenden Flußbarsch aus dem Wasser. »Meine Frau ist keine Intellektuelle, aber sie kann eine ziemlich gute Fischsuppe kochen. Ein paar Scheiben Jinhua-Schinken, eine Prise Pfeffer, eine Handvoll Frühlingszwiebeln, und schon hast du eine phantastische Suppe.« »Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen.« »Sie kennt dich bereits. Ich habe ihr oft das Foto von dir gezeigt.« »Ja, aber das ist zwanzig Jahre alt«, sagte Liu. »Wie soll sie mich heute noch aufgrund eines Hochschulfotos erkennen? Erinnerst du dich noch an He Zhizhangs berühmte Zeilen? Mein Dialekt ist noch derselbe, doch meine Haare sind ergraut.« »Meine auch«, sagte Gao. Es wurde Zeit, den Heimweg anzutreten. Gao ging wieder ans Steuer. Doch der Motor stotterte und knirschte. Er versuchte es mit voller Kraft, der Auspuff spuckte schwarzen Rauch aus, aber das Boot bewegte sich kein bißchen. Kapitän Gao kratzte sich am Kopf. Schließlich wandte er sich entschuldigend an seinen Freund. Er war ratlos. Der Kanal war zwar schmal, aber nicht seicht. Die Schiffsschraube war durch das Ruder geschützt. Sie konnte nicht auf Grund gelaufen sein. Vielleicht hatte sich etwas darin verwickelt, ein zerrissenes Fischernetz oder eine Schnur. Ersteres war allerdings eher unwahrscheinlich – der Kanal war zu schmal für die Fischer, sie würden hier kaum ihre Netze auswerfen. Doch falls sich tatsächlich eine Schnur darin verfangen hatte, würde es schwierig sein, die Schraube wieder freizubekommen. Er stellte den Motor ab und sprang ans Ufer. Noch immer konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen. Also begann er, mit einem langen Bambusstab in dem trüben Wasser herumzustochern. Den Stab hatte er von daheim mitgebracht, seine Frau pflegte daran auf dem Balkon die Wäsche aufzuhängen. Nach einigen Minuten stieß er unter dem Boot auf etwas. Es fühlte sich weich an und war ziemlich groß. Er zog Hemd und Hose aus und stieg ins Wasser. Problemlos bekam er das Ding zu fassen, doch es kostete ihn einige Mühe, es durchs Wasser ans Ufer zu...


Qiu, Xiaolong
Qiu Xiaolong wurde 1953 in Shanghai geboren. Er arbeitete als Übersetzer, veröffentlichte Lyrik und Literaturkritiken. Seit 1988 lebt er in den USA, wo er seit 1994 chinesische Sprache und Literatur lehrt. Seine Krimis um Oberinspektor Chen erscheinen bei Zsolnay, zuletzt Blut und rote Seide (2009), Tödliches Wasser (2011) und 99 Särge (2014).2016 ist der neue Band Schakale in Shanghai erschienen.

Qiu Xiaolong, 1953 in Shanghai geboren, Übersetzer, Lyriker und Kritiker. 1988 reiste er in die USA und kehrte nach dem Massaker am Tiananmen-Platz nicht nach China zurück. Seit 1994 lehrt er an der Washington University St. Louis chinesische Literatur und Sprache.


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