Raab | Erving Goffman | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie

Raab Erving Goffman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie

ISBN: 978-3-7445-0685-4
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Diese erste deutschsprachige Einführung zu Erving Goffman (1922–1982) unterstreicht dessen zentrale Bedeutung als Theoretiker: Seine Bücher zählen zu den meistgelesenen soziologischen Werken überhaupt. Sie umfassen ein weit ausgreifendes Themenspektrum, das sich von der Selbstdarstellung im Alltag, dem Überleben in totalen Institutionen, der Bewältigung von Stigmata, dem Verhalten auf öffentlichen Plätzen bis hin zur Analyse von Redeweisen als kommunikative Formen erstreckt. Leitmotivisch variieren diese Gegenstände dabei ein durchgängiges Interesse Goffmans: Die Analyse der Formen von Interaktion in sozialen Situationen sowie der Rolle, welche die Handelnden darin spielen. Diese Theorieanlage findet ihren Ausdruck in der Interaktionsordnung und der Rahmenanalyse. Goffmans Arbeiten haben die Soziologie in nachhaltiger Weise angeregt und beeinflusst. Die Potenziale seines Werkes sind trotz seiner außerordentlichen Popularität bislang nicht annähernd erschöpfend genutzt. Erschwert wird die Rezeption vor allem durch die Doppelbödigkeit seiner Schriften selbst. Jürgen Raab eröffnet hier einen Zugang, der den Blick auf die tiefgründigeren Schichten von Goffmans Werk freilegt und damit neue Impulse für die soziologische Forschung und Theorie Setzt. Raabs Buch ist mittlerweile zu einem viel rezipierten Referenzwerk geworden. Die zweite Auflage erweitert den Band um ein Kapitel, das Goffmans methodologische Grundhaltung und seine methodischen Zugangsweisen darlegt.
Raab Erving Goffman jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Einleitung
Zu Lebzeiten waren Erving Goffmans Status als soziologischer Theoretiker und der Stellenwert seines Œuvres durchaus umstritten. Doch schon bald nach seinem Tod im Jahre 1982 galt er vielen als »one of the leading post-World War II American sociologists« (Manninghart 2000: 285). Im Rückblick erkennen manche in ihm sogar »one of the twentieth century’s most remarkable practioniers of social sciences« (Smith 2006a: 1), wenn sie ihn nicht gleich in den Rang des »most significant American social theorist of the twentieth century« erheben (Fine & Manning 2000: 481). Das Interesse an Goffmans Werk überschritt schon früh nicht nur die Grenzen der USA, sondern auch diejenigen der Fachdisziplin und darüber hinaus – was wohl am meisten erstaunt – die für gewöhnlich kaum zu überwindenden Gräben und Sperranlagen zwischen den soziologischen Paradigmen. So präsentiert sich Goffman heute, »auch wenn er zwangsläufig ›nur‹ ein Klassiker der zweiten Generation sein kann«, doch unübersehbar als »Soziologe von klassischer Statur« (Hettlage 1991a: 437). Kaum eine breit angelegte Einführung in die Soziologie, kaum eine Überblicksdarstellung zu ihren Hauptvertretern oder Hauptwerken, die es sich leisten könnte, Goffman zu übergehen. Auch seine Schriften erfreuen sich anhaltender Popularität: Sie sind in viele Sprachen übersetzt, erscheinen in wiederholten Auflagen und führen weltweit die soziologischen Bestsellerlisten an. Was kaum verwundert, werden sie doch, wie die Texte nur weniger anderer Fachvertreter, auch außerhalb der Disziplin – und sogar von einem breiten nicht-wissenschaftlichen Publikum – mit großem Interesse wahr- und aufgenommen (vgl. Didra 2010). Zudem gibt es kaum Sozialwissenschaftler, gleich welcher theoretischen Couleur oder methodischen Ausrichtung, die nicht von Goffmans scharfer Beobachtungsgabe, von den luziden Beschreibungen und originellen Begriffsbildungen, von seiner geradezu außerordentlichen analytischen Begabung oder doch wenigstens vom ausgesprochen hohen Anschauungs- und Unterhaltungswert seiner Darstellungen angetan sind. Zum Anlass dieser Einführung
Die unaufhörlich steigende Zahl der um eine systematische Aufarbeitung von Goffmans Œuvres bemühten Überblicks- und Einführungswerke macht gleichwohl auf ein nach wie vor virulentes Problem aufmerksam (vgl. Castel et al. 1989, Fine & Smith 2000, Hettlage & Lenz 1991, Bovone & Rovati 1992, Lemert & Branaman 1997, Jakobsen & Kristiansen 2002, Treviño 2003, Nizet & Rigaux 2005, Smith 2006a, Österreichische Gesellschaft für Soziologie 2007, Jacobson 2010): Goffman ist wegen seiner theoretisch unbelasteten, klaren Sprache zwar eingängig zu lesen und scheint aufgrund seiner stets anschaulichen Beispiele leicht verständlich. Seine Schilderungen und Einsichten lassen sich häufig anhand eigener Beobachtungen unmittelbar nachvollziehen und in der Alltagserfahrung überprüfen – mit dem oft überraschenden Effekt, dass das Vertraute plötzlich ein anderes Gesicht bekommt: Goffmans außergewöhnliche Fähigkeit, das Nichtgesehene und Undurchschaute vor Augen zu führen und es dabei zugleich zu ›ordnen‹, lässt uns augenblicklich das Vertraute und Gewöhnliche ungewohnt erscheinen, und es schleicht sich die Ahnung ein, dass auch das vermeintlich Selbstverständlichste im menschlichen Zusammenleben offenbar nur wenig selbstverständlich ist. Aber nicht nur angehenden Sozialwissenschaftlern, auch eingeübten Vertretern der Fachdisziplin gibt sich der größere Zusammenhang des Werkes oft nur schwer zu erkennen. Manchem erweist sich der Zugang zur inneren Systematik als derart holprig und sperrig, dass sie nicht selten von vornherein in Abrede gestellt und Goffman als unsoziologisch, wenn nicht gar unwissenschaftlich disqualifiziert wird (vgl. Joas 1978: 38) – ein Schicksal, das Goffman mit Georg Simmel teilt, einem seiner einflussreichsten Vordenker. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Schon innerhalb der einzelnen, vornehmlich essayistisch angelegten Schriften wirken die Ausführungen häufig ausschweifend, gelegentlich ausufernd und die Kategorien und Konzepte scheinen impressionistisch gewonnen. Dieser Wahrnehmung mag sich verstärken – und um den Eindruck der Inkompatibilität und Inkohärenz ergänzen –, wenn über die Einzeluntersuchungen hinweg die sozialen Kontexte, aus denen die empirischen Fallbeispiele gewählt sind, scheinbar beliebig wechseln, und wenn Goffman ausnehmend selten auf zuvor von ihm entwickelte Begriffe und Konzeptionen zurückgreift. Darüber hinaus bemüht er sich nicht einmal im Ansatz darum, auf die Traditions- und Entwicklungslinien seiner Arbeiten zu reflektieren, um mögliche Verbindungen wenigstens anzudeuten, die ihn zu seinen theoretischen Überlegungen und empirischen Arbeiten anregten. Hinzu gesellt sich ein zumindest vordergründiges Desinteresse an makrosoziologischen Themen wie etwa Macht, Ungleichheit und Sozialstruktur, mit denen dem Leser wenigstens grobe Wegweisungen durch das Werk an die Hand gegeben wären. Dieses Bild vervollständigt schließlich Goffmans zeitlebens bekundetes Widerstreben, sich den disziplinären Paradigmen zuzurechnen. Vor diesem Hintergrund versteht sich das vorliegende Buch als Einladung und Hinführung zu den Schriften Erving Goffmans. Es kann und will deren Einzellektüre nicht ersetzen, sondern soll zum Verständnis vor allem des inneren und äußeren Zusammenhangs seiner wichtigsten Arbeiten beitragen. Aus diesem Anspruch leitet sich die hier verfolgte Darstellung und Argumentation ab. Der Band setzt nicht die Ende der 1980er-Jahre entfachte und noch bis weit in die 1990er-Jahre hineingetragene Diskussion um die Zurechenbarkeit Goffmans zu den soziologischen Schulen und Paradigmen fort (vgl. Drew & Wootton 1988, Riggins 1990, Hettlage & Lenz 1991, Hitzler 1991, Burns 1992, Manning 1992, Reiger 1992, Chriss 1995b). Auch betrachtet er keine seiner Schriften als Schlüsselwerk, durch das alle anderen gleichsam wie durch eine Folie zu lesen und zu verstehen wären (vgl. Hazelrigg 1992, Willems 1997a, Reckwitz 2000). Vielmehr wird ein Zugang gewählt, den Goffman selbst nahe legt, der bislang jedoch erst in Ansätzen für eine systematische Darstellung seines Werkes genutzt wurde. Die Interaktionsordnung als Leitmotiv und Generalthema
Die hier vorgeschlagene Lesart nimmt das zum Leitmotiv, woran sich Goffmans Interesse zu Beginn seiner akademischen Laufbahn entzündete und was er dann in einer über 30 Jahre währenden, überaus regen und produktiven wissenschaftlichen Tätigkeit entfaltete: jenes Forschungsfeld und Forschungsprogramm, das er selbst die ›Interaktionsordnung‹ (the interaction order) nannte. Der Terminus erscheint erstmals im zusammenfassenden Schlusskapitel seiner Dissertationsschrift (Goffman 1953a, vgl. Lenz 1991a: 27, Manning 2000: 284, Smith 2003: 646), und er wird schließlich jenem Text den Titel geben, an dem Goffman bis kurz vor seinem Tod arbeitete und der posthum zur Veröffentlichung kam: die vielen Interpreten heute als sein Vermächtnis geltende Antrittsrede zur Präsidentschaft der American Sociological Association (ASA) (Goffman 1983b, dt. 1994b). Bemerkenswerterweise verwendet Goffman den Begriff ›Interaktionsordnung‹ ausschließlich an diesen beiden, das Werk einklammernden und rahmenden Stellen. Doch die weit gediehene Goffman-Forschung vertritt inzwischen fast einhellig die Meinung, dass Goffman auf diese Weise gleichsam die Klammern seines Forschungsprogramms setzte und die innere Geschlossenheit seiner Arbeit markierte (vgl. Drew & Wootton 1988, Hettlage 1991a, 2000, Lenz 1991a, Knoblauch 1994, 2000, 2006, Knoblauch et al. 2005 und Willems 1997a: 27ff.). Deshalb spreche ich im Folgenden von Goffmans Theorie- und Forschungsprogramm als der »Soziologie der Interaktionsordnung«. Das Generalthema prägte sein Arbeitsprogramm. Fast ein Dutzend Monografien sind Ausdruck und Beleg einer geradezu erstaunlichen Beständigkeit und Beharrlichkeit in der letztlich doch unvollständig gebliebenen Anstrengung, das Regelwerk sozialer Interaktionen aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Brennweiten zu erforschen. Dabei richtet die Soziologie der Interaktionsordnung ihr Augenmerk auf jene Sphären zwischenmenschlichen Alltagshandelns, in denen wir körperlich kopräsent und mit potenziell all unseren fünf Sinnen füreinander wahrnehmbar sind. Solche sozialen Situationen werden aufgrund der in der sozialen Wahrnehmung vorherrschenden Prävalenz des Auges häufig als Begegnungen von Angesicht zu Angesicht, als Face-to-face-Situationen oder Vis-à-vis-Interaktionen bezeichnet. Ihr Spektrum erstreckt sich von flüchtigen Begegnungen, in denen wir in der Regel kaum mehr als kurze Blicke zur gegenseitigen Identifikation und Orientierung untereinander wechseln – wie etwa beim Durchqueren einer Fußgängerzone – bis hin zu mehr oder minder umfassenden Konversationen, die sich durch größere zeitliche Ausdehnung auszeichnen und verbunden sind mit einer stärkeren räumlichen Dichte, einem entsprechend intensiveren Austausch von Blicken, Berührungen, Worten und Gesten sowie straffere rituelle und zeremonielle Regelungen aufweisen – wie etwa Familienfeste, Business-Meetings und Gerichtsprozesse, wissenschaftliche Kongresse oder die Treffen von Außenministern. Goffman erkannte die gesellschaftliche Bedeutung dieses noch weitgehend unbearbeiteten Gegenstandsbereichs soziologischer Forschung und Theoriebildung. In Anschluss an Émile Durkheim begriff er ihn sogar als ›Realität sui generis‹. Denn als Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei die Interaktionsordnung ein gesonderter Erfahrungs- und Untersuchungsbereich neben anderen gesellschaftlichen Wirklichkeiten, wie etwa der...


Jürgen Raab ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Koblenz-Landau und Mitglied im Vorstand der DGS-Sektion Wissenssoziologie.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.