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E-Book, Deutsch, Band 14, 255 Seiten

Reihe: Historische Einführungen

Rau Räume

Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen

E-Book, Deutsch, Band 14, 255 Seiten

Reihe: Historische Einführungen

ISBN: 978-3-593-43778-1
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Was versteht man in der Geschichtswissenschaft unter "Räumen"? Und wie kann man sie historisch untersuchen? Dieses Buch gibt einen hervorragenden Überblick über die Geschichte abendländischer Raumkonzepte und die Geschichte des Begriffs "Raum". Mit ihm liegt erstmals eine Einführung in die Theorie und Praxis der historischen Raumanalyse vor.

"Susanne Rau gelingt es, einen Leitfaden für Historikerinnen und Historiker zu entwerfen, der sicher über die verschlungenen Wege des ›spatial turn‹ führt." Sehepunkte

"Das Buch eignet sich gut für die Lehre und ermöglicht einen schnellen Zugriff auf den aktuellen Forschungsstand - mehr kann eine Einführung kaum leisten." H-Soz-und-Kult
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Inhalt

Was ist historische Raumforschung? Eine Einleitung 7

1. Historische und systematische Annäherung 17
1.1 Vorgeschichte 18
Zur Geschichte abendländischer Raumkonzepte 18
Raum: Zur deutschen Karriere eines Konzepts 27
Europäische Alternativwege: Febvre - Braudel - Lefebvre 39
1.2 Begriffe 52
Alltagsweltliche und wissenschaftliche Raumkonzepte: Kein Widerspruch 53
Begriffsgeschichte 55
Analytische Begriffe 60

2. Disziplinäre Zugänge 70
2.1 Geographie 70
2.2 Kulturanthropologie, postkoloniale Studien 81
2.3 Soziologie 90
2.4 Räume und Räumlichkeiten als neues ägeschichtswissenschaftliches Thema 106

3. Raumanalyse 121
3.1 Raumkonstitution und Konfigurationen 133
Makrohistorische Prozesse 135
Raumtypen, Raumformationen 141
Analytische Leitdifferenzen 144
Global Spaces: räumliche Transformationen im Zuge von Globalisierungsprozessen 152
Die Stadt: Eine räumliche Konfiguration im Wandel 154
Der Handel: Interaktionsbeziehungen, die Räume hervorbringen 158
3.2 Raumdynamiken: Entstehung - Wandel - Auflösung 164
3.3 Die subjektive Konstruktion von Räumen: Wahrnehmungen - Erinnerungen - Repräsentationen 172
Vorstellungs- und andere Räume 174
Spatial stories - spatial media - mental maps 178
3.4 Raumpraktiken - Raumnutzungen 182

4. Fazit und Ausblick 192

Auswahlbibliographie 197
Glossar 239
Dank 245
Nachwort zur 2. Auflage 247
Personen- und Sachregister 250


Was ist historische Raumforschung Eine Einleitung

Versuche ich Freunden, Bekannten oder Verwandten mein derzeitiges Forschungsfeld zu beschreiben, und verwende dabei, der Einfachheit halber, den Begriff der Raumforschung, dann reichen die Reaktionen vom Staunen bis zum Schmunzeln. Das sei doch das Feld der Architekten oder Stadtplaner, wird mir entgegengehalten. Ob dies etwas mit Weltraumforschung zu tun habe, wird gefragt. Diese Art von Begriffstest an einer nicht-akademischen, jedenfalls nicht sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Öffentlichkeit hat einiges für sich. Daran wird einerseits deutlich, dass diese neuere Richtung in unseren Disziplinen in einer breiteren Öffentlichkeit zumindest im ersten Moment eher nicht mit Anthropologie, Geschichte oder Kultur verbunden wird. Andererseits lässt sich erkennen, dass Raum vor allem dreidimensional begriffen wird: Räume werden primär auf Landschaften, Städte, Häuser, Wohnungen etc. bezogen, gelegentlich auch auf die gesamte Welt oder das Weltall. Diese Assoziationen mögen im Zeitalter von satellitengestützter Kommunikation naheliegend sein; und auch die Stadt- und Raumplanung ist ja eine längst etablierte Disziplin, die den Raumbegriff in ihrer Bezeichnung trägt und für die es Studiengänge wie auch Landes- und Bundesinstitutionen gibt, beispielsweise das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).
Die einseitige Verortung des wissenschaftlichen Feldes zwischen Stube und Weltall ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich: Sie zeugt von der Mehrdeutigkeit des Raumbegriffs, zugleich aber von der Notwendigkeit, diese anderen Dimensionen, die bei Räumen berücksichtigt werden müssten, nämlich ihre Konstruiertheit, ihre Wandelbarkeit, ihre Imaginiertheit, ihre Virtualität und ähnliche Modalitäten, deutlicher herauszuarbeiten und sie über die Fachdisziplinen hinaus in einen breiteren Diskurs einzuführen. Weil es verschiedene Modi gibt, die Räume - gleichzeitig oder zeitlich nacheinander - annehmen können, und weil Räume letztlich nur als soziale Konstruktionen individuelle oder gesellschaftliche Relevanz besitzen, sollte man nur mit Vorsicht von (historischer) Raumforschung sprechen. Mein Vorschlag wäre, die etwas umständlich klingende Formulierung der ›Analyse räumlicher Dimensionen der Gesellschaft‹ zu wählen. Sie kann sich auf gegenwärtige wie auf historische Gesellschaften beziehen. Dabei geht es um die Vermittlung einer Einsicht, die uns alle betrifft: nämlich dass wir zugleich in dreidimensionalen und anderen, nicht-euklidischen, beispielsweise virtuellen Räumen leben.


Warum die historische Raumforschung nicht neu ist

Dass Geschichte in Zeit und Raum stattfindet, ist gewiss keine Einsicht, die wir dem sogenannten spatial turn, also der ›Raum-Wende‹ des späten 20. Jahrhunderts zu verdanken haben. Von den schon älteren Gattungen der Kosmographien oder Topographien, deren Texte nach geographischen oder ortsbezogenen Gesichtspunkten organisiert sind, einmal abgesehen, meldeten sich in der Geschichtswissenschaft und in angrenzenden Fächern seit dem späten 19. Jahrhundert Stimmen zu Wort, die sich immer wieder auch für eine Erforschung der räumlichen Aspekte von Geschichte einsetzten. Das Auftauchen dieser frühen Stimmen wird in diesem Buch nachgezeichnet, nicht zuletzt, um die bisweilen politische Instrumentalisierung zu verfolgen, die in deterministischen Ansätzen dieser Zeit angelegt ist. Auch andere ältere Ansätze werden in Erinnerung gerufen, etwa die der Annales-Schule, die der Sozialgeographie seit der Nachkriegszeit sowie die Arbeiten einiger raumanalytisch denkender Stadtforscher, insbesondere Henri Lefebvres. Sie spielen in der derzeitigen Debatte über Raum erstaunlicherweise kaum eine Rolle. Wer diese Arbeiten kennt, darf über den in den letzten rund 20 Jahren permanent ausgerufenen spatial turn seinerseits schmunzeln - wobei das Verschweigen älterer und keineswegs einflussloser Traditionen durchaus ein wissenschaftliches Ärgernis ist.
Allerdings sind nicht alle älteren Arbeiten in gleichem Maße brauchbar. Häufig werfen sie geographische, kulturell konstruierte und metaphorische Raumbegriffe durcheinander und stellen kein Instrumentarium zur Raumanalyse bereit. Der uneinheitliche und zuweilen etwas unreflektierte Begriffsgebrauch setzt sich freilich in manchen neueren Arbeiten fort, wenn zum Beispiel einfach nur Ereignisse, Institutionen oder soziale Gruppen lokalisiert werden, über den Zusammenhang von Orten, Menschen und Handlungen hingegen nicht weiter nachgedacht wird. Deshalb scheint es an der Zeit, die in den letzten Jahren herausgearbeiteten analytischen Zugriffe und Reflexionen zusammenzutragen und etwas Ordnung in dieses Feld zu bringen.


Warum die historische Raumforschung doch neu ist

Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem ›Raum‹ in den letzten Jahren auch in der Geschichtswissenschaft zuteilwurde (Schlögel 2007: 33; Bachmann-Medick 2007: 288), lässt sich unter anderem an Großkongressen sowie einer Reihe von Zeitschriften-Sonderheften ablesen, die sich der räumlichen Thematik und der Frage ihres innovativen Potentials gewidmet haben: der Historikertag in Trier (1986), der sich unter dem Motto "Räume der Geschichte - Geschichte des Raums" versammelte und starke Impulse aus der mediävistischen Landesgeschichte bekommen hatte; dann derjenige in Kiel (2004) mit dem Obertitel "Kommunikation und Raum"; ferner der Kongress des französischen Mediävistenverbandes (2006) zur "Konstruktion von Raum im Mittelalter: Praktiken und Repräsentationen". Zeitschriften wie Geschichte und Gesellschaft, die Quaderni storici, das German Historical Institute Bulletin, die Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, die Revue d'Histoire des Sciences Humaines, die Social Science History, die online-Zeitschrift MOSAIKjournal, History, die online-Zeitschrift MOSAIKjournal, History and Theory, Historical Social Research oder Material Religion haben raumbezogene Themenhefte herausgebracht. Hinzu kommen Tagungen und Tagungsbände mit häufig interdisziplinärer Ausrichtung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert ein raumwissenschaftliches Exzellenz-Cluster, das den Titel "TOPOI. The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations" trägt, in dem Vertreter verschiedener Disziplinen (Archäologen, Geographen, Historiker, Philologen, Philosophen etc.), vor allem jedoch aus den Altertumswissenschaften, kooperieren (Märtin 2012); außerdem Sonderforschungsbereiche wie etwa den 2016 neu eingerichteten SFB "Verräumlichungsprozesse unter Globalisierungsbedingungen" in Leipzig.
Das Spektrum der Bedeutungen, die mit dem Begriff spatial turn bezeichnet werden, ist relativ breit. Die Definitionen reichen vom Etikett zur Legitimierung einer neuen Forschungsfrage und der schon angesprochenen gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber den räumlichen Dimensionen gegenwärtiger wie historischer Gesellschaften über die Positionierung der Geographie als Leitwissenschaft einer neuen gesellschaftskritischen Raumwissenschaft (Soja 1989; Lévy 1999) bis zum Plädoyer für die Ausbildung eines kritischen wissenschaftlichen Raumverständnisses (Bachmann-Medick 2007: 289). Andere möchten die "Ortlosigkeit der Geschichtsschreibung" überwinden (Dipper/Raphael 2011: 40) oder halten den spatial turn für ein Paradigma der Sozialwissenschaften (Jacob 2014). Nach wie vor aber lässt sich beobachten, dass es sich bei der theoretisch-methodischen Neuorientierung nicht nur um eine, sondern um mehrere ›Wenden‹ handelt und dass verschiedene Disziplinen recht unterschiedliche Dinge darunter verstehen und unter diesem Label erforschen (vgl. Tiller/Mayer 2011). Schließlich reagieren die nationalen Wissenschaftskulturen in unterschiedlicher Weise darauf (und bisweilen auch überhaupt nicht).
Selbst innerhalb der Disziplinen variieren die Zugänge, was auch für die Geschichtswissenschaft gilt. Angesichts der Reichweite des thematischen Feldes ist dies nicht weiter verwunderlich. Und die Methodenvielfalt ist grundsätzlich auch zu begrüßen. Allerdings gibt es auch Studien, die in einem theoretischen Gegensatz zu dem kritischen Trend stehen, der durch die Sozial- und Kulturgeographie, die Kulturanthropologie und die Soziologie in den letzten Jahren neu in Gang gebracht wurde. Es lassen sich nämlich auch schon die ersten Re-Essentialisierungen, Reifizierungen und Re-Territorialisierungen beobachten: Räume werden dort als gegeben betrachtet, der Raum wird eher als Objekt statt als Methode begriffen, und politische oder kulturelle Räume beziehungsweise Regionen werden allzu reduktionistisch nur im Hinblick auf ihre territoriale Komponente untersucht. Angesichts dieser Situation ist der Aussage zweier Kollegen, es sei eine falsche Vorstellung, dass der spatial turn in der Geschichtswissenschaft inzwischen Fuß gefasst habe, voll zuzustimmen (Dipper/Raphael 2011: 28). Eine kritische historische Raumforschung sollte sich nicht darauf beschränken, Räume als Orte oder Rahmungen von Ereignissen oder gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. Ferner sollte sie Räume auch nicht verabsolutieren, weil sie uns weder den einzigen noch einen wirklicheren Zugang zur Geschichte verschaffen, wie dies die schönen, essayistischen Stadtporträts Karl Schlögels manchmal suggerieren. Ein Missverständnis wäre es ferner anzunehmen, mit dem spatial turn sollten die ältere Landesgeschichte, die Erdkunde oder die historische (Städte-)Bauforschung mit ihrem dreidimensionalen, territorialen Raumbegriff für die Geschichte wiederbelebt werden. Dies brächte uns nicht wirklich weiter.
Die Chance einer historischen Raumforschung, die mit einem analytischen Raumbegriff arbeitet, besteht darin:

- die Prozesse der Produktion und Konstruktion von Räumen zu beleuchten,
- auf räumliche Praktiken einzugehen,
- Differenzen und Koexistenzbeziehungen von Raumvorstellungen herauszuarbeiten,
- Verortungen und Verräumlichungen sozialer Beziehungen zu beobachten,
- räumliche Selbstbilder und Ordnungsarrangements von Gruppen und Gesellschaften zu analysieren und ihre Auswirkungen zu verfolgen
- sowie auf die raumzeitlichen Veränderungen sozialer Prozesse hinzuweisen.

All dies lässt sich nur mit einem begrifflich reflektierten und methodisch kontrollierten Zugang zum Raum erreichen - und dafür soll mit diesem Buch ganz entschieden plädiert werden.
Wenn also der spatial turn mehr sein soll als nur ein Label, eine wissenschaftspolitische Strategie zur Legitimierung einer neuen Forschungsfrage, dann muss auch eine genaue Methode beschrieben werden. Es muss aufgezeigt werden können, worin der Mehrwert liegt: gegenüber den älteren Raumbegriffen, aber auch der mögliche neue Erkenntnisgewinn. Das Ziel dieser Einführung ist es daher, analytische Raumkonzepte und Methoden zur Untersuchung von Räumen beziehungsweise Räumlichkeiten vorzustellen und sie dadurch in der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Dazu müssen wir verschiedene Raumbegriffe (physikalische, astronomische, theologische, psychologische, kulturelle etc.) unterscheiden lernen und die Vorteile des interdisziplinären Arbeitens erkennen und umsetzen. Wir dürfen dabei das Aufeinander-bezogen-Sein von Zeit und Raum, von Zeitlichkeit und Räumlichkeit ebenso wenig vergessen wie die Historizität (also Kontingenz und Vergänglichkeit) der Raumtheorien und Raumkonzepte. Genau in diesen Aspekten besteht auch der Mehrwert einer historischen Betrachtung und Analyse von Raum und Räumlichkeit, die in anderen Büchern mit einführendem Charakter nicht immer zu finden sind. Die Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie von Löw/Steets/Stoetzer (2007) ist eine gute Einführung für Soziologen und Urbanisten beziehungsweise (angehende) Raumplaner. Für Historiker/innen jedoch, die zu früheren Epochen arbeiten, stellt sie sich schnell als unzulänglich heraus. Bei dem Raumtheorie-Buch des Suhrkamp-Verlags handelt es sich de facto um eine Anthologie mit Auszügen - mehr oder weniger klassischer - literarischer, philosophischer oder historischer Texte über Raumbegriffe und Raumkonzepte (Dünne/Günzel 2006), die zum Einstieg auch für Historikerinnen und Historiker eine wunderbare Lektüre darstellen. Für das wissenschaftliche Arbeiten mit den Texten aber sollte man den Blick ins Original oder - besser noch - in eine kritische Edition nicht scheuen. Das Dictionnaire de la géographie et de l'espace des sociétés (Lévy/Lussault 2003) ist ein äußerst hilfreiches Lexikon, primär von und für Geograph/innen, das eine Reihe von Artikeln enthält, die auch für die Geschichts- und Kulturwissenschaftler/innen interessant sind: espace, espace public, lieu, spatialité, urbain, urbanisation etc. Jedoch handelt es sich um ein Lexikon (eine Art Synthese), das weithin gegenwarts- oder allenfalls zeitgeschichtsorientiert ist und andere Ziele als eine monographische Einführung verfolgt. Mit dem Dictionary of Human Geography (Johnston u. a. 2009) liegt ein weiteres Lexikon in erster Linie von und für Humangeographen und Kulturanthropologen vor, muss aber in seiner fünften Auflage konsultiert werden. Jüngeren Datums sind das Handbuch Raum des Metzler-Verlags (Günzel 2010) sowie das Lexikon der Raumphilosophie (Günzel 2012). Bei dem Handbuch handelt sich um eine Einführung in die wichtigsten Konzepte und Theorien vor allem der Philosophie und Soziologie durch entsprechende Expertinnen und Experten. Es ist aber ebenfalls wenig historisch ausgerichtet und geht kaum auf Umsetzungsmöglichkeiten oder Untersuchungsbeispiele ein. Schließlich ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften vor allem in den letzten rund zehn Jahren eine Reihe von Sammelbänden mit raumbezogenen Einzelstudien erschienen (Dartmann u.a. 2004; Hochmuth/Rau 2006; Döring/Thielmann 2009; Glasze/Mattissek 2009; Stock/Vöhringer 2014; Friedrich 2014), welche häufig in ihren Einleitungen Raumkonzepte diskutieren oder dann in den Beiträgen vorführen, wie sich diese operationalisieren lassen.
Die vorliegende Einführung beginnt mit einer kleinen Geschichte der Raumkonzepte (Kap. 1.1). Im Anschluss daran werden alltagsweltliche, wissenschaftliche und analytische Raumbegriffe diskutiert (Kap. 1.2). Kapitel 2 gibt einen Überblick über ausgewählte Ansätze in Geographie, Kulturanthropologie, Soziologie und in der Geschichtswissenschaft. Den Hauptteil der Einführung bildet das dritte Kapitel. In ihm spiegelt sich das vorgeschlagene Raster wider, nach welchem sich Räume und räumliche Praktiken analysieren lassen:

- Bestimmung von Raumtypen und Konfigurationen (Kap. 3.1)
- Analyse der Raumdynamiken wie Entstehung, Wandel und Auflösung (Kap. 3.2)
- Analyse der subjektiven Konstruktion von Räumen: Wahrnehmungen, Erinnerungen und Repräsentationen (Kap. 3.3)
- Analyse der Raumpraktiken, insbesondere der Raumnutzungen (Kap. 3.4).

Sowohl die dynamischen Aspekte als auch die subjektbezogenen Ansätze weisen auf die notwendige Berücksichtigung des Zeitfaktors bei der Raumanalyse hin: Erst dadurch lassen sich Konstitutionsprozesse, Dauer, Nutzungsrhythmen und Veränderungen verstehen und erklären. Nicht jedes geschichtswissenschaftliche Thema wird sich anhand dieses Rasters analysieren lassen; nicht immer werden die Quellen zu allen Aspekten vorhanden sein, nicht immer interessiert man sich für all diese Aspekte, sondern vielleicht bewusst nur für einen. Insofern soll das Raster auch eine Hilfe zur Differenzierung der verschiedenen Ebenen und Modi von Raum sein.
Der Anwendungsbereich der historischen Raumanalyse ist demnach weit: Er reicht von der Geschichte der Körper, die durch ihre Bewegungen Räume konstituieren, über die Geschichte öffentlicher oder sakraler Räume oder die Geschichte der Siedlungen und Regionen (beziehungsweise areas) bis zur Geschichte der Globalisierungen; er schließt Religionsgeschichte, politische Geschichte, Mediengeschichte, Wissensgeschichte, Handels- oder Wirtschaftsgeschichte ebenso ein wie Agrargeschichte, Stadtgeschichte oder Globalgeschichte. Es lässt sich nach der Konstitution von Räumen - ob Mikro-Räumen (wie Zimmer und Kaffeehäuser) oder Makro-Räumen (wie Territorien und Regionen) - fragen, aber auch danach, wie sich Menschen durch Räume bewegen und wie sich Räume selbst bewegen oder verändern. Sich für die räumlichen Dimensionen historischer Gesellschaften zu interessieren, heißt ferner, danach zu fragen, welche Bedeutung die Menschen ihrer räumlichen Umwelt beimessen, ob sie eine gute oder schlechte Beziehung zu den erfahrenen Räumen aufbauen und welche Auswirkungen die sozial konstruierten Räume wiederum auf die Konstituierung von Subjekten oder Gruppen haben. Von der Metaebene aus lässt sich fragen, mit Hilfe welcher Medien (etwa in Texten, Bildern, Karten, Atlanten) Räume repräsentiert werden, was diese uns über die Selbstbilder von Gesellschaften sagen oder welche Machtinteressen hinter ihrer Fertigung oder ihrem Einsatz stecken. Schließlich kann sich auch die Geschlechtergeschichte der Kategorie Raum bedienen, indem sie nach der Rolle der Akteurinnen und Akteure im Prozess der Konstitution und Nutzung von Räumen fragt; nach Mechanismen der Inklusion und Exklusion (in der Verschränkung nicht nur von Raum und Rasse oder Klasse, sondern eben auch von Raum und Geschlecht); oder nach geschlechtlich konnotierten Allegorisierungen räumlicher Repräsentationen, etwa bei der Darstellung des Kontinents Europa als Reichskönigin im 16. Jahrhundert (vgl. hierzu die Quelle Nr. 20 unter www.campus.de ). Der einzelne Begriff Raum spiegelt also in analytischer Hinsicht ein breites heuristisches Spektrum und eine Vielfalt an Untersuchungsmöglichkeiten wider.
Wenn wir die semantische Unterbestimmtheit des Raumbegriffs sowohl durch ein theoretisches und methodisches Instrumentarium als auch durch die genaue Beobachtung und Beschreibung sozialer Praktiken überwinden könnten, kämen wir nicht nur von einem simplen erdräumlichen Raumverständnis weg, sondern würden Differenzen, Überlagerungen, Gleichzeitigkeiten und Brüche erkennen, die die Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge sichtbar machen. In der differenzierten Analyse räumlicher Ordnungen und zeitlicher Verläufe gleichermaßen, in der Analyse der damit verbundenen Diskurse wie Praktiken liegt das Potential einer Geschichtswissenschaft als kritischer Gesellschaftswissenschaft.

1. Historische und systematische Annäherung

Um die Argumente der gegenwärtig diskutierten Raumtheorien und die theoretische Basis der räumlich orientierten historischen Studien verstehen und beurteilen zu können, ist es ratsam, einen Blick in die Geschichte der Raumkonzepte und -theorien zu werfen. In dem Kapitel über die "Vorgeschichte" werden ganz kurz die wichtigsten abendländischen Raumtheorien seit der Antike angesprochen, weil auf sie auch später immer wieder Bezug genommen wurde und wird. Beleuchtet werden muss außerdem die heikle Vergangenheit mancher Raumbegriffe: insbesondere biologistische und deterministische Konzepte, die politisch instrumentalisiert wurden und damit diskreditiert sind. Da diese Konzepte in neuem Gewand bisweilen auch in den aktuellen Diskurs über Raum zurückkehren, sollte man eine Sensibilität dafür entwickeln, sie zu erkennen. Die Raumtheorien, die im Laufe der Geschichte gedacht wurden, sind so vielfältig und verschieden, dass eine Bündelung sinnvoll erscheint, deren Bezeichnungen teilweise von den historischen Raumtheoretikern selbst vorgeschlagen wurden (Kap. 1.1). Wie sind wissenschaftliche und alltagsweltliche Raumkonzepte vereinbar Und was bedeutet genau absolutes, relatives oder relationales Raumkonzept (Kap. 1.2) Diese Fragen sollen im ersten Kapitel geklärt werden. Aufgrund der gewählten Perspektive wird hier vor allem auf die philosophischen und physikalischen Theorien eingegangen. Die vormodernen Geographien oder Kartographien - und deren Welt- und Raumverständnis - wären einer eigenen Betrachtung wert (vgl. dazu Brodersen 1995; Dueck 2012; Harley/Woodward 1987-2007; Lestringant 1994; Besse 2003a; Schleicher 2014).

1.1 Vorgeschichte

Zur Geschichte abendländischer Raumkonzepte

Die Vielfalt der Raumbegriffe in der Antike, die von mythischen Vorstellungen über Definitionsversuche bis zu ausgereifteren theoretischen Ansätzen reichen, zeigt sich allein schon an der relativ großen Anzahl von Termini, die das Altgriechische für Ort und Raum bereithält. Das Historische Wörterbuch der Philosophie führt immerhin sechs verschiedene Wörter dazu auf. Die Reduktion der griechischen Raumdenker auf Platon (427-347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) ist also eine radikale Verkürzung, aber insofern gerechtfertigt, als sie die am meisten zitierten antiken Theoretiker waren, bis sich im Laufe der Neuzeit die Vorstellung durchsetzte, der Kosmos sei unendlich und der physikalische Raum vielleicht gar nicht so homogen und gleichförmig wie lange angenommen. Auch in der Antike haben viele über Raum geredet und geschrieben, aber nur wenige haben eine konsistente Theorie entwickelt. Laut Aristoteles soll Platon der Erste gewesen sein, der eine klare Begriffsbestimmung geliefert habe (Zekl/Breidert u.a. 1992: 68). Eingebettet sind Reflexionen zum Raum in der Antike meist in allgemeinere Übungen zum Kosmos oder in Welterklärungsmodelle.
Aristoteles, der seine Überlegungen zum Raum vor allem in der Kategorienlehre und in der Physik darlegte, setzte sich mit Platons Raumverständnis auseinander, welches er im Timaios darlegte und auf den Überlegungen Pythagoras' und Demokrits aufbaute. Zudem bekam der Raum eine Stelle in Platons Ideenlehre zugewiesen: Als "dritte Gattung" zwischen Idee und Empirie vermittelt der Raum (…) zwischen diesen beiden Feldern.
Der Raum ist, Platon zufolge, die "Amme des Werdens". Sie erst lässt Veränderung zu. Mit Platon teilte Aristoteles weiterhin einige Ansichten wie zum Beispiel, dass es sich um eine Kategorie1 handeln müsse, dass es keinen leeren Raum gebe und dass die Himmelsgestalt einer Kugel ähnele, weil diese die vollkommenste Form darstelle. Aristoteles führte die Frage, ob die Welt unendlich oder endlich ist, auf die physikalische Ebene zurück, weil sie ihm hier beantwortbar erschien. Da der Versuch, Körper unbegrenzt ausdehnbar zu denken, an Grenzen stoße, sei der Raum im physikalischen Bereich endlich. Dagegen konnte er in der atomistischen Physik, vertreten durch Leukipp und Demokrit, durchaus unendlich sein (Zekl/Breidert u.a. 1992: 72-75). Das Universum bestand ihnen zufolge aus kleinsten Teilchen, die sich im unbegrenzten Raum bewegen.
Aristoteles' Raumtheorie ist genau genommen eine Ortstheorie, denn seine Frage zielt auf die "natürlichen Örter"2 der Körper und deren Bewegungen ab. Dabei geht er davon aus, dass sich nur Lebewesen aus eigenem Antrieb bewegen und dass für Bewegung eine bewegende Kraft - oder ein Widerstand dagegen - notwendig sei (Gosztonyi 1976, Bd. 1: 90-110). Gegen diese eindeutige Definition wandte sich kürzlich der Theologe Ulrich Beuttler, der der Ansicht ist, Aristoteles habe kein geschlossenes Lehrsystem einer Raumtheorie vorgelegt (Beuttler 2010: 74-82, bes. 76). Wie auch immer man dies sehen mag, Aristoteles hat einige differenzierende Kategorisierungen vorgenommen, die die weitere Debatte mit bestimmt haben und die mit einer gewissen Abstraktion vom damaligen Kontext bis heute nützlich sind:
1. Aristoteles unterschied zwischen Ort und Körper. (Dies impliziert: Die Dinge können ihren Platz wechseln, und derselbe Platz kann - nebeneinander oder nacheinander - von verschiedenen Dingen eingenommen werden.)
2. Er unterschied zwischen Raum und Ort. (Ort steht für die Lokalisierbarkeit von Dingen oder Körpern. Dagegen ergibt sich der Raum aus der Bewegung dieser Körper von einem Ort zu einem anderen. Wäre Raum identisch mit den Körpern, so würde Raum bei der Bewegung mit bewegt. Die Kontinuität des Raums wird durch die Kontinuität der Körper garantiert, denn nach Aristoteles kann es leeren Raum ja nicht geben.)
Das Konzept der unbegrenzten Ausdehnung des Raums, das es in der Antike durchaus auch gab (zum Beispiel bei den Atomisten Leukipp und Demokrit), kollidierte allerdings mit dem biblischen Schöpfungsbericht. Diesen berücksichtigend hielt Augustinus (354-430 n.Chr.) fest, dass es außerhalb der Welt keinen anderen Raum, also keine andere Welt gebe. Wenngleich Philosophen der christlichen wie der arabischen Welt weitere Unterscheidungen einführten und die mittelalterliche Theologie über viele verschiedene Fragen nachdachte (zum Beispiel über die Beziehung des Raums zu Dingen, seine Veränderbarkeit und Beweglichkeit, seine geometrische Struktur oder auch seine Wahrnehmbarkeit und Wirkungsfähigkeit), blieb die Unmöglichkeit der unendlichen Ausdehnung doch weitgehend cutting edge der mittelalterlichen Raumvorstellung. Untermauert wurde das christliche Denken zudem durch die spätmittelalterliche Rezeption der Theorien des Aristoteles, der dem Raum keine Ausdehnung zuerkannte und der die Leere in der Natur wie auch logisch für unmöglich hielt (Zekl/Breidert u.a. 1992: 82-88; Breidert 1995).
Diese Situation änderte sich erst allmählich durch einige Aristoteles-Kritiker, die im leeren Raum keine logische Unmöglichkeit mehr sahen. Einer von ihnen war Hasdai Crescas (um 1340 - um 1410), ein spanischer Jude, der auf die Rolle und Notwendigkeit eines Vakuums hinwies, den physischen Raum über dessen Volumen definierte (und nicht über die Begrenzung eines Körpers) und der aufgrund der Möglichkeit der Ausdehnung den Raum sogar unendlich denken konnte. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Verbindung von Gott und unendlichem Raum gerade von einem jüdischen Gelehrten formuliert wurde. Denn im Hebräischen ist das Wort für Ort (makôm) auch eine der vielen Gottesbezeichnungen; insofern ist es bis zu dem Gedanken, dass sich die Allgegenwart Gottes auch im Raum ausdrücken kann, kein weiter Weg mehr. Ein anderer wegweisender Kritiker war Nicole Oresme (um 1325-1382), der die Existenz eines außerkosmischen, ausgedehnten Raumes mit der Allmacht Gottes begründete, welche in der Vorstellung eines geschlossenen Raumes (wie in der aristotelischen Theorie) eingeschränkt wäre (Jammer 1980; Breidert 1995; Wertheim 2000: 102-125). Diese beiden und andere Kritiker wurden jedoch nicht sofort rezipiert. Bis zur Überwindung der Vorstellung, das Universum sei gefüllt, unbeweglich und begrenzt, und bis zur Anerkennung einer dreidimensionalen Leere verging noch viel Zeit. Auch der italienische Physiker und Astronom Galileo Galilei (1564-1642) hatte es mit seinen Überlegungen, dass die Bewegungen der Körper nur in Relation zu anderen festgestellt werden können, schwer und fand für seine Ansicht vom physikalischen Raum als formloser dreidimensionaler Leere nicht viel Beifall.


Susanne Rau ist Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt.


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