Rosanvallon | Die Prüfungen des Lebens | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Rosanvallon Die Prüfungen des Lebens

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-86854-471-8
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Staat als Garant von Sicherheit: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger westlicher Demokratien teilen dieses Verständnis nicht mehr. Was ist der Grund dafür? Woher kommt die Wut vieler Menschen, die sich im Netz oder auf der Straße formiert?
Im Zentrum von Pierre Rosanvallons neuem Buch stehen die Prüfungen des Lebens, persönliche Erfahrungen mit Geringschätzung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Ungewissheit. Er richtet den Blick dabei auf so unterschiedliche Bewegungen wie Black Lives Matter, #MeToo oder die »Gelbwesten« und befasst sich mit den Folgen der Verunsicherung durch den Klimawandel und die Covid-19-Pandemie.
Rosanvallons präzise Gegenwartsbeschreibung mündet in ein Plädoyer für eine »neue Regierungskunst«, eine Politik des Respekts, der Würde und der Aufmerksamkeit für die erlebten Realitäten. Das sei die einzige Alternative zu den »Gefahren, die mit dem Populismus auf der einen Seite und dem Technoliberalismus und der Politik der Abschottung auf der anderen Seite verbunden sind«.
Dieses Buch eröffnet eine neue Etappe in der Arbeit des renommierten Demokratieforschers, die sich der subjektiven Dimension der Gesellschaft, einer Neudefini­tion der sozialen Frage und den Bedingungen für eine Konsolidierung des demokratischen Lebens widmet.
Rosanvallon Die Prüfungen des Lebens jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Einführung

I Die Prüfung der Missachtung

II Die Prüfung der Ungerechtigkeit

III Die Prüfung der Diskriminierung

IV Die Prüfungen der Unsicherheit

Schluss


I
Die Prüfung der Missachtung
Eine Person zu verachten bedeutet, sie geringzuschätzen, sie der Aufmerksamkeit und des Interesses nicht wert zu befinden. Missachtung war ein sehr typisches Merkmal aristokratischer Gesellschaften mit einer strikten Hierarchie der Rangstufen. Die revolutionären Kräfte des Jahres 1789 verkündeten, dass die Gesellschaft auf nichts anderem gründen könne als auf dem Naturrecht und der gesellschaftlichen Einheit, und schafften per Dekret die alte Welt der getrennten Stände ab. Sie definierten die Nation als »eine Körperschaft, die unter einem gemeinsamen Gesetz lebt«. Die revolutionären Sitten brachten das unmittelbar zum Ausdruck, indem das Duzen allgemein üblich wurde und für alle die Anrede »Bürger« und »Bürgerin« gelten sollte. Die Nation war damit zu einer Gemeinschaft der Stolzen geworden. Das Gewicht der Realität bewirkte im Weiteren einen Rückschritt. Die riesigen Unterschiede zwischen den Berufen und die Verteilung des Besitzes führten dazu, dass wieder soziale Hierarchien entstanden, und die Schranken zwischen den Klassen verbanden sich mit neuen Formen, der Missachtung Ausdruck zu verleihen. Daran scheiterte das Projekt, eine Gesellschaft von Gleichen zu schaffen. Die Rückkehr der Missachtung zeigte sich in unterschiedlichen Formen.1 Zuerst und vor allem ganz klassisch als »Missachtung von oben«, die sich nun nicht mehr in den alten Formen einer institutionalisierten sozialen Distanz ausdrücken konnte. Aber sie zeigte sich auch in der Entstehung von »Missachtungskaskaden«, die es unterlegenen Personen erlaubten, ihre niedrigere Position dadurch zu kompensieren, dass sie wiederum Menschen oder Gruppen verachteten, die vermeintlich noch unter ihnen standen. Auf diese Weise spielten die Vorherrschaft eines Geschlechts, die Ablehnung von Fremden oder auch die Stigmatisierung bestimmter rassistisch dargestellter Gruppen eine bedeutende historische Rolle beim Funktionieren der demokratischen Gesellschaften. All diese Formen der »Missachtung von unten« dienten häufig als »Sicherheitsventile«, um Klassenkonflikte zu kanalisieren und teilweise umzulenken. Missachtung von oben
In Frankreich wurde allein schon der Begriff einer Gesellschaft von Gleichen, wie ihn die drei modernen Revolutionen (die Amerikanische, die Französische und die Haitianische) propagierten, durch die Einführung des Zensuswahlrechts infrage gestellt. Ab der Restauration spielte die Kritik an diesem Bruch eine zentrale politische und soziale Rolle. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es große Demonstrationen und Kampagnen für Petitionen gegen das Zensuswahlrecht2 (anzumerken ist auch, dass sich der Begriff Proletariat zunächst hauptsächlich darauf bezog, dass bestimmte Gruppen kein Wahlrecht hatten). Aber die Mobilisierung fand vor allem in den Städten statt. In der bäuerlichen Welt lebte die Ehrerbietung gegenüber den Honoratioren und dem alten Adel weitgehend fort.3 Die Bediensteten, die zweitgrößte Gruppe der arbeitenden Bevölkerung, waren ebenfalls weiter in der besonderen Nähe zu ihren Herren gefangen. In beiden Fällen kann man nicht von Missachtung einer Klasse gegenüber einer anderen sprechen. In der Wahrnehmung der Missachtung schwang immer das Gefühl mit, dass die Gleichheit damit verhöhnt wurde. Beide Bevölkerungsgruppen hatten den gesellschaftlichen Abstand zu den Besitzenden und den Herren mehr oder weniger verinnerlicht, er besaß eine funktionelle Dimension. Insofern hatte der Bedienstete des 19. Jahrhundert nichts mit dem Butler gemein, wie ihn Joseph Losey in seinem Film Der Diener (1963) porträtiert hat.4 Ganz anders sahen die Beziehungen der höheren Klassen zur Welt der Arbeiter und der kleinen städtischen Gewerbetreibenden aus. In diesem Fall kann man nicht von Missachtung sprechen, sondern eher von Angst. Es war die Angst vor der großen Zahl, vor einer gesichtslosen und bedrohlichen Masse, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgestaut hatte: Es galt die Parole: »Arbeitende Klasse, gefährliche Klasse«.5 Man hatte es mit einem »Maschinenvolk« zu tun, das durch die Fabrikarbeit diszipliniert werden sollte,6 einem »rebellischen Volk«, das man fürchtete, einer aufrührerischen Macht, die man zu Beginn der 1830er Jahre in Lyon und Paris erlebt hatte.7 Die herrschenden Klassen fühlten sich mit einem neuen radikalen Gegenüber, gleichgesetzt mit der Gestalt des »Barbaren«, konfrontiert. Ein berühmter Beitrag im Journal des débats über den Arbeiteraufstand in Lyon im November 1831 drückte diese Angst exemplarisch aus. Darin heißt es: Der Aufstand von Lyon hat ein schwerwiegendes Geheimnis enthüllt, nämlich das des inneren Kampfs, der in der Gesellschaft zwischen der besitzenden Klasse und der Klasse, die nichts besitzt, stattfindet. Unsere von Handel und Industrie geprägte Gesellschaft hat eine Wunde: Diese Wunde sind ihre Arbeiter. Keine Fabriken ohne Arbeiter, und mit einer stetig wachsenden und stets notleidenden arbeitenden Bevölkerung gibt es keine Ruhe für die Gesellschaft […]. Jeder Fabrikant lebt in seiner Fabrik wie die Plantagenbesitzer in den Kolonien inmitten ihrer Sklaven, einer gegen hundert; und der Aufstand von Lyon ist so etwas wie der Aufstand von Santo Domingo […]. Die Barbaren, die die Gesellschaft bedrohen, befinden sich nicht im Kaukasus und nicht in den Steppen der Tartarei: Sie befinden sich in den Vororten unserer Fabrikstädte.8 Verachtung für eine Klasse im eigentlichen Sinn wird erst mit dem Aufkommen des allgemeinen Wahlrechts (der Männer) manifest, als die Forderung nach Gleichheit, die mit einer starken symbolischen Unterstützung daherkam, eine Art von instinktivem Rückzug bei den herrschenden Klassen hervorgerufen hatte, die in der neuen Welt der politischen Gleichheit unbedingt den Abstand zu den unteren Klassen wahren wollten. An die Stelle der alten Ängste war somit eine quasi physische Missachtung durch Abstand getreten. In den Augen des Großgrundbesitzers gehörte der »Bauerntrampel« einer anderen menschlichen Spezies an als er selbst, ebenso der Arbeiter in seiner winzigen Behausung, dessen bescheidene Lebensumstände der Bürger für normal hielt. Manchmal ging die Wahrnehmung der Kluft sogar noch weiter. In Der Weg nach Wigan Pier sprach George Orwell vom »Geheimnis der Klassenunterschiede« und sagte, er verspüre bisweilen eine Art körperlichen Widerwillen gegenüber den unteren Klassen. »Die unteren Klassen stinken«, schrieb er in den 1930er Jahren.9 Eine solche Bemerkung wurde unaussprechlich, aber etwas davon blieb hängen. Ganz besonders in einem Land wie England, wo die Klassenunterschiede ausgeprägter sind als in Frankreich.10 Die Missachtung durch Abstand wurde auf subtile Weise erst überlagert und dann abgelöst von Missachtung durch Abgrenzung. Missachtung durch Abgrenzung
Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert ist für die Gesellschaft der Individuen das Streben nach Abgrenzung charakteristisch, etwa bei den Künstler*innen oder den gehobenen Klassen. Die Modalitäten und Mechanismen der Abgrenzung wurden in Romanen von Stendhal bis Proust penibel kartografiert. Freud gab eine psychoanalytische Erklärung und sprach vom »Narzissmus der kleinen Unterschiede«. Später erweiterte und »demokratisierte« sich diese Dynamik der Abgrenzung. Aber das geschah auf eine zwiespältige Weise. Einerseits erfolgte die Abgrenzung durch ein positives Streben nach Einzigartigkeit, andererseits entfaltete sie sich in Form einer Positionsrivalität und knüpfte damit (natürlich auf einem sehr viel bescheideneren Niveau) in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären an das alte System der höfischen Gesellschaft11 an. Ein Schulhof, um ein ganz banales Beispiel zu nehmen, ist natürlich nicht vergleichbar mit einem Königshof, aber er weist durchaus einige Ähnlichkeiten auf. Aus diesem Grund lesen wir auch heute noch mit Interesse Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Zur Fixierung auf Rangstufen, wie sie für den Hof Ludwigs XIV. typisch war, kam hinzu, dass unzählige Details der Kleidung, des Auftretens, der Kunst der Konversation, der Verwandtschaftsbeziehungen genauestens beobachtet wurden. Heute sehen wir Kopien davon, materiell zwar sehr viel weniger auffällige, aber die psychologischen Hintergründe und soziologischen Mechanismen sind sehr ähnlich. In Versailles konnte der geringste Verstoß gegen die Etikette oder gegen die höfischen Sitten durch den Ausdruck schärfster Missachtung sanktioniert werden, unter Umständen ging das so weit, dass es den sozialen Tod bedeutete. Der Film Ridicule – Von der Lächerlichkeit des Scheins (1996) von Patrice Leconte bringt die Triebkräfte und die Grausamkeit perfekt zum Ausdruck, während Francis Veber in Dinner für Spinner (1998) die Mechanismen entlarvt, indem er...


Pierre Rosanvallon ist emeritierter Professor fu¨r Neuere und Neueste Politische Geschichte am Collège de France in Paris. Er ist einer der international renommiertesten Forscher zur Geschichte der Demokratie und zu Fragen sozialer Gerechtigkeit. 2016 erhielt Rosanvallon den Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.