Ruff | Lovecraft Country | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Ruff Lovecraft Country

Roman

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-446-25944-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Atticus Turners Gefühle für seinen Vater waren schon immer zwiespältig. Doch als der verschwindet, macht Atticus sich wohl oder übel auf die Suche. Auch wenn die Spur nach „Lovecraft Country“ in Neuengland führt, Mitte der 50er Jahre ein Ort der schärfsten Rassengesetze in den USA. Mit Hilfe seines Onkels George, Herausgeber des „Safe Negro Travel Guide“, und seiner Jugendfreundin Letitia gelangt Atticus bis zum Anwesen der Braithwhites. Hier tagt eine rassistische Geheimloge, mit deren Hilfe Braithwhite junior nichts weniger als die höchste Macht anstrebt. Matt Ruff erzählt mit überbordender Phantasie und teuflischem Humor die wahnwitzigen Abenteuer einer schwarzen Familie.
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LOVECRAFT COUNTRY   JIM-CROW-MEILE – Eine Maßeinheit speziell für farbige Kraftfahrer, die sowohl geografische Distanz als auch plötzlich auftretende Anwandlungen von Angst, Paranoia, Frustration und Empörung umfasst. Ihre vielgestaltige Natur lässt keine exakte Berechnung der Reisedauer zu, und ihre Heftigkeit gefährdet ständig Gesundheit und psychisches Wohlergehen des Reisenden. The Safe Negro Travel Guide, Ausgabe Sommer 1954     Atticus war schon beinahe zu Hause, als der State Trooper ihn rechts heranfahren ließ. Vor zwei Tagen war er in Jacksonville mit einem gebrauchten 48er Cadillac Coupé aufgebrochen, den er von seinem letzten Sold gekauft hatte. Am ersten Tag fuhr er vierhundertfünfzig Meilen, verpflegte sich aus einem Korb, den er vorsorglich eingepackt hatte, und hielt nur an, um zu tanken. Bei einer Tankstelle war das Klo für Schwarze außer Betrieb, und als der Tankwart ihm den Schlüssel für die Toilette für Weiße verweigerte, war Atticus gezwungen, in die Büsche hinter der Tankstelle zu pinkeln. Er übernachtete in Chattanooga. The Safe Negro Travel Guide hatte vier Hotels und ein Motel aufgeführt, alle im gleichen Stadtteil. Atticus entschied sich für das Motel, zu dem ein Vierundzwanzig-Stunden-Diner gehörte. Das Zimmer kostete drei Dollar, genau wie im Guide angegeben. Am anderen Morgen schaute er sich im Diner den Straßenatlas an. Bis Chicago waren es noch einmal sechshundert Meilen. Auf halbem Weg dorthin lag Louisville, Kentucky, wo es nach Angaben des Guide ein Restaurant gab, in dem er zu Mittag essen konnte. Atticus überlegte einen Moment, doch obwohl er gern seine Heimkehr noch hinausgezögert hätte, war der Wunsch, den Süden hinter sich zu lassen, noch stärker. Also holte er nach dem Frühstück seinen Korb aus dem Wagen und ließ sich vom Koch Sandwiches, Cokes und ein kaltes Brathähnchen geben. Gegen eins erreichte er den Ohio, die Grenze zwischen Kentucky und Indiana. Als er über eine Brücke fuhr, die den Namen eines toten Sklavenhalters trug, kurbelte er die Scheibe herunter und zeigte Jim Crow zum Abschied den gereckten Mittelfinger. Ein weißer Autofahrer kam ihm entgegen, sah die Geste und rief irgendetwas Unflätiges, aber Atticus lachte nur, trat aufs Gaspedal und war im Norden. Nach einer Stunde Fahrt an ausgedehnten Feldern vorbei hatte er eine Reifenpanne. Atticus fuhr vorsichtig bis zu einer Bucht am Straßenrand, wo er gefahrlos halten konnte, und stieg aus, um den Ersatzreifen aufzuziehen, aber der war ebenfalls platt. Das ärgerte ihn, denn er hatte das Reserverad vor der Abfahrt überprüft und geglaubt, es sei in Ordnung, doch wie drohend er es auch ansah, der Reifen war und blieb beharrlich platt. Ein Reifen aus dem Süden, und Atticus dachte: Jim Crows Rache. Zehn Meilen weit hinter ihm waren nichts als Felder und Wald, aber vor sich sah er in einer Entfernung von etwa zwei Meilen eine Ansammlung von Gebäuden. Er nahm den Safe Negro Travel Guide und machte sich zu Fuß auf den Weg. Auf der Straße herrschte reger Verkehr, und zunächst versuchte er, Autos anzuhalten, die in seine Richtung fuhren, aber entweder ignorierten ihn die Fahrer, oder sie drückten extra aufs Gas, und schließlich gab er den Versuch auf und konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er gelangte zum ersten Gebäude. Auf dem Schild an der Fassade stand JANSSENS AUTOREPARATURWERKSTÄTTE, und Atticus dachte schon, er habe Glück, aber dann sah er die Konföderiertenflagge über der Einfahrt. Das hätte ihn fast dazu gebracht, einfach weiterzugehen, aber er sagte sich, er müsse es versuchen. In der Werkstatt waren zwei weiße Männer, ein kleiner Kerl mit flaumigem Schnauzer, der auf einem hohen Hocker saß und in einer Zeitschrift blätterte, sowie ein deutlich größerer Mann, der sich unter die geöffnete Motorhaube eines Pick-up beugte. Als Atticus hereinkam, blickte der Kleine von seiner Zeitschrift auf und gab ein unanständiges Schmatzgeräusch von sich. »Verzeihung«, sagte Atticus. Erst jetzt wurde der Große auf ihn aufmerksam. Als er sich aufrichtete und sich ihm zuwandte, sah Atticus eine Tätowierung auf seinem Unterarm, die wie ein Wolfskopf aussah. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Atticus, »aber ich habe ein Problem. Ich brauche einen neuen Reifen.« Der große Mann sah ihn einen Moment grimmig an und sagte kurz angebunden: »Nein.« »Ich sehe, Sie sind sehr beschäftigt«, sagte Atticus, als sei dies das Problem. »Es geht nicht darum, dass Sie mir den Reifen wechseln, Sie brauchen ihn mir nur zu verkaufen, und ich …« »Nein.« »Wollen Sie denn kein Geld verdienen? Sie brauchen gar nichts zu machen, bloß …« »Nein.« Der Mann verschränkte die Arme. »Soll ich es noch hundertmal sagen? Das können Sie haben.« Jetzt geriet Atticus in Rage: »Das ist eine Wolfshund-Tätowierung, stimmt’s? Siebenundzwanzigstes Infanterieregiment?« Er berührte das Dienstabzeichen auf seinem Revers. »Ich war im vierundzwanzigsten Infanterieregiment. Wir kämpften direkt neben dem Siebenundzwanzigsten, praktisch in ganz Korea.« »Ich war nicht in Korea«, sagte der große Mann, »ich war auf Guadalcanal und Luzon. Und da gab’s keine Nigger.« Damit beugte er sich wieder unter die Motorhaube, sein Rücken war abweisend und zugleich eine Aufforderung. Die Deutung blieb Atticus überlassen. Die ganzen Demütigungen der vergangenen sechs Monate in Florida machten die Entscheidung schwieriger, als ihm lieb war. Der kleine Mann auf dem Hocker schaute immer noch zu ihm hin, und wenn er irgendetwas gesagt oder auch nur gegrinst hätte, wäre Atticus in Fahrt gekommen. Aber der Kleine spürte wohl, wie schnell es ihm an den Kragen gehen konnte, selbst wenn ihn der Große beschützte, und er sagte nichts und grinste auch nicht. Atticus stapfte hinaus, die Fäuste in den Hosentaschen. Auf der anderen Straßenseite war ein Kramladen mit einem Münztelefon auf der Veranda. Atticus sah in seinem Guide, dass es in Indianapolis, etwa fünfzig Meilen entfernt, eine Werkstatt gab, die einem Neger gehörte. Er wählte die Nummer und erklärte dem Mechaniker am anderen Ende der Leitung seine Notlage. Der Mann war hilfsbereit, warnte aber, es würde eine Weile dauern, bis er kommen könne. »In Ordnung«, sagte Atticus, »ich warte hier.« Er legte auf und bemerkte, dass ihn die alte Frau im Laden nervös durch die Fliegengittertür beobachtete. Auch diesmal beschloss er, zu seinem Wagen zurückzugehen. Im Kofferraum lag neben dem unbrauchbaren Ersatzreifen eine Pappschachtel voll zerlesener Taschenbücher. Atticus wählte Ray Bradburys Mars-Chroniken, setzte sich in den Cadillac und las etwas über den »Raketensommer« von 1999, als infolge der Abgase eines Raumschiffs vom Mars der Schnee schmolz. Er stellte sich vor, er sei selbst an Bord, auf dem Weg gen Himmel in einem Feuerstrahl, und lasse Norden und Süden für immer hinter sich. Vier Stunden vergingen. Er las das komplette Buch, trank warmes Cola und aß ein Sandwich, aber mit Rücksicht auf begehrliche Blicke vorbeikommender Autofahrer rührte er das Brathähnchen nicht an. Er schwitzte in der flimmernden Junihitze. Als der Druck auf die Blase nicht mehr zu ignorieren war, passte er eine Flaute im Verkehr ab und stellte sich an eine Platane am Straßenrand. Als der Abschleppwagen kam, war es nach sieben Uhr. Der Fahrer, ein grauhaariger, ziemlich hellhäutiger Neger, stellte sich als Earl Maybree vor. »Einfach Earl«, sagte er, als Atticus ihn mit Mr Maybree anredete. Dann holte er den Ersatzreifen hinten von seinem Lieferwagen herunter. »Gleich kriegen wir Sie wieder flott.« Gemeinsam brauchten sie keine zehn Minuten. Beim Gedanken daran, wie einfach das gewesen war und wie er wegen nichts und wieder nichts den Nachmittag hatte vergeuden müssen, geriet Atticus erneut in Rage. Um sich zu beruhigen, entfernte er sich ein paar Schritte vom Wagen und tat, als betrachte er die tiefstehende Sonne am Horizont. »Wie weit haben Sie’s noch?« »Bis Chicago.« Earl hob eine Augenbraue. »Heute Nacht?« »Na ja, so war’s geplant.« »Wissen Sie was«, sagte Earl. »Ich bin fertig für heute. Warum kommen Sie nicht mit zu mir? Meine Frau soll Ihnen ein anständiges Essen machen, und Sie können sich ein bisschen ausruhen.« »Nein, Sir, das geht nicht.« »Freilich geht das. Das liegt auf Ihrer Strecke. Und ich möchte nicht, dass Sie aus Indiana wegfahren und denken, das sind alles böse Menschen.« Earl wohnte im Farbigenviertel in der Nähe der Indiana Avenue, nordwestlich vom State Capitol. Sein Haus war ein schmales einstöckiges Gebäude aus Holz mit einem winzigen Rasenstück davor. Als sie ankamen, war die Sonne gerade untergegangen, Wolken trieben von Norden her, sodass es noch schneller dunkel wurde. Auf der Straße war ein Stickballspiel im Gange, aber jetzt riefen die Mütter ihre Kinder ins Haus. Auch Earl und Atticus gingen ins Haus. Mavis, Earls Frau, begrüßte Atticus herzlich und zeigte ihm, wo er sich frischmachen konnte. Als er sich an den Küchentisch setzte, war ihm trotz des freundlichen Empfangs nicht ganz wohl, weil er über viele der naheliegenden Gesprächsthemen – seinen Militärdienst in Korea, den Aufenthalt in Jacksonville, die Ereignisse des heutigen Tages und vor allem seinen Vater in Chicago – eigentlich nicht sprechen wollte. Doch nach dem Tischgebet überraschte ihn Earl mit der Frage, was er von den Mars-Chroniken hielt. »Ich hab sie bei Ihnen im Auto gesehen.« Und so redeten sie über Ray Bradbury, über Robert Heinlein...


Ruff, Matt
Matt Ruff, 1965 in New York geboren, wurde bereits mit seinem ersten Roman Fool on the Hill (Hanser, 1991) zum Kultautor. Bei Hanser erschienen außerdem G.A.S. (Die Trilogie der Stadtwerke. Roman, 1998), Ich und die anderen (Roman, 2004), Bad Monkeys (Roman, 2008) und Lovecraft Country (Roman, 2018). Matt Ruff lebt in Seattle, Washington.


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