Rumiz | Die Seele des Flusses | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 138, 354 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Rumiz Die Seele des Flusses

Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien

E-Book, Deutsch, Band 138, 354 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-079-7
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: Kein



Der Po, eine unbekannte Welt, ein grandioses Abenteuer: Kulturgeschichte von Italiens größtem Fluss. Italiens König der Flüsse ist einer der letzten blinden Flecken auf der Landkarte. Paolo Rumiz hat ihn zu Wasser erkundet: mit Kanu, Barke, Segelboot, von den Gebirgen des Piemont bis zur Mündung ins Adriatische Meer. Den selbsternannten Argonauten rund um Rumiz erschließt sich eine Welt ungeahnter Freiheiten. Wo oben, hinter dem Damm, der Verkehr tost, regiert auf dem Wasser die Stille, nur die Stimme des Flusses spricht. Die Reisenden lagern an verlassenen Ufern, nachts kreuzen Schmuggler und Piraten ihren Weg, Fischer erzählen von ihren Fängen und die Speisepläne spiegeln die Vielfalt von Natur und Mensch wider.

Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, ist der erfolgreichste Reiseschriftsteller Italiens. Er berichtete für die Tageszeitung 'La Repubblica' über den Afghanistan- und den Jugoslawien-Krieg. Zahlreiche Preise für sein journalistisches Engagement. Unzählige Essays, Romane und Erzählungen über seine Reisen durch Italien und an die entlegensten Orte Europas. Bei Folio erschienen: Der Leuchtturm (2017).
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Die unendliche Landkarte
Hinter Cremona hob kräftiger Wind an; Paolo Lodigiani machte den Motor aus und hisste das Segel. Eine plötzliche, verzauberte Stille umfing uns. Wir befanden uns im Bauch der italienischen Industrielokomotive; hinter dem Damm klirrten Stahlwerke, furzten Schweine und donnerten Lkws, doch auf dem Fluss herrschte absolute Stille, es ergab sich wie von selbst, dass wir leise sprachen. An Bord herrschte Schweigen. Valentina und Alex waren an Land geblieben, und wir waren weit weg von allem, zwischen mauerhoher Vegetation wie auf dem Mekong oder dem Mississippi. Das Besansegel hatte sich auf Dreiviertel gedreht, der Wind wehte quer zur Strömung. Paolo sagte: „Rückenwind nützt uns nichts, er ist genauso schnell wie das Wasser.“ Ich begriff, so entstand kein Auftrieb, deshalb starten Flugzeuge immer gegen den Wind. Ich setzte das Gaffelsegel, es füllte sich, drückte uns gegen den Damm links und einen Bauernhof namens Bandera. Man hatte uns gewarnt: Mit einem Motorboot auf dem Fluss zu fahren ist, als würde man mit dem Motorroller durch die Uffizien brausen. Eine Schande, ein Sakrileg. So hört man nicht die Stimme des Gottes, der ihn bewohnt. Jeder Fluss hat einen eigenen Gott mit einer ganz individuellen Stimme und Strömung. Der Euphrat hat dasselbe Timbre wie die Seine. In der Kurve zwischen den Bergen, zwischen Esztergom und Budapest, brüllt die Donau, doch schon zweihundert Meter später wird sie zu einer flüsternden Panflöte, zu einem leisen Gesang, der sich im Gebiet zwischen Ungarn, Serbien, Kroatien und Rumänien, wo Drau, Mures, Save, Theiß und March ein Meer bilden, verliert. Und der Nil, dessen Stimme ich ein Jahr davor eines Abends, zur Stunde der Löwen, in dem weitläufigen Gebiet zwischen Uganda und der Karthoum-Oase gelauscht hatte, war reine Polyphonie, eine Partitur, bei der jedes Rinnsal ein Notensystem war. Ganges, der Fluss der Hindus, trägt den Gesang bereits in seinem Namen, der auf das Fließen verweist. Ich musste lange warten, bis ich die Stimme des Po hörte, obwohl ich ihn oft befahren hatte. Ich befand mich in der Gegend von Ficarolo, mehrere Gewitter über den Alpen hatten ein Hochwasser verursacht. Ich hatte ein Zimmer in einem ungefähr hundert Meter vom Ufer entfernten Gasthaus gefunden, in der Nacht hatte mich ein lang anhaltender Donner aus dem Schlaf gerissen, und ich war uf den Damm gerannt. Jenseits dieser Grenze feierte man die Epiphanie des Grauens. Millionen Bisons galoppierten im Mondlicht, witterten Blut, ein Schlachthaus, trampelten alles nieder. Der Schwerpunkt des Nordens, der labyrinthische Padus, der sogar römische Legionen in die Falle gelockt hatte, war ein Kanal geworden, ein geradliniger Abfluss, ein endloser Niagarafall. Ich beobachtete, wie das Übernatürliche sich für die Plünderung des Wassers rächte, die ganze Ebene verstummte infolge der schrecklichen Veränderung. In den Dörfern, den Ställen, entlang der Straßen und in den Wäldern schwiegen Menschen und Tiere vor Angst. Am Damm allerdings wimmelte es vor Lebewesen. In Mäntel gehüllte, argwöhnische Menschen, einem fernen Jahrhundert entsprungen. „Keiner schlafe“, hatte der Po mit Baritonstimme befohlen, und kilometerweit hatte die Menschheit schweigend gewacht, eingeschüchtert vom planetarischen Donner. Nach zwei, höchstens drei Kilometern ließ die Bora das Segel des Gatto chiorbone, der sturen Katze, knattern. Inzwischen wussten wir: Aus geheimnisvollen Gründen weht die Brise auf dem Po untertags immer stromaufwärts, und in diesem Augenblick blies sie uns ins Gesicht. Die Geschwindigkeit des Wassers summierte sich zu der des Windes, der sofort auffrischte. Wir setzten auch das Klüversegel, das Boot bebte, schwoll an, vom äußersten Punkt des kurzen Spriets bis zum Steuer, und der Fluss und das Rahsegel machten ein Tänzchen, wir hüpften von einem Damm zum anderen, was uns in noch bessere Laune versetzte. Das Wasser sang und wälzte sich unter dem Holz des Kiels, und der Gatto miaute wie noch nie zuvor, die fünfeinhalb Meter lange Verschalung vibrierte. Inmitten dieser Symphonie verwandelte sich der zurückhaltende Paolo: Er strömte über vor Glück, er lebte das „hier und jetzt“ mit dem freudigen Fatalismus einer Initiation, überließ sich dem graugrünen, zwischen den Weiden dahinfließenden Teppich. Dummerweise versuchten wir die Position zu bestimmen, als wüssten wir nicht, dass ein Fluss nicht das Meer ist. Wir hatten ein Dutzend Karten an Bord, und die zuverlässigsten waren die des Touring Clubs und die der Aipo, der überregionalen Po-Agentur. Doch seltsamerweise gaben sie unterschiedliche Distanzen an: 382 und 395 Kilometer Entfernung von der Quelle. War das möglich? Wir verloren nicht allzu viel Zeit, um uns den Kopf über diese Differenz zu zerbrechen: Der Campanile von Cremona lag ja hinter uns und der von Polesine Parmense vor uns. Was brauchten wir mehr? Alles war genau dort, wo es hingehörte. Die Insubrischen Alpen im Norden und der Apennin bei Parma im Südosten. Wir begriffen, dass die Positionsbestimmung eine lächerliche Hysterie der technologiesüchtigen Moderne ist, und überließen uns der köstlichen Ungewissheit der Pioniere. In diesem Augenblick offenbarte sich der Po als das, was er ist: eine Schlange, die hinkriecht, wo es ihr passt, sich mal klein und mal groß macht, auf ihrem Kiesbett ständig die Richtung ändert. Und dass es überflüssig und eitel ist, ihre Länge zu messen. Aus meiner Jugend weiß ich, dass genaue Landkarten nicht dazu dienen, sich zu orientieren, sondern von Wegen zu träumen und sich vielleicht nach vollendetem Abenteuer daran zu erinnern. Für das Abenteuer auf dem Po hatte ich eine mit Hand gezeichnet, wie schon öfters bei wichtigen Reisen: eine drei Meter lange und sechzig Zentimeter breite, gefaltet wie eine Ziehharmonika. Ich hatte mehrere Wochen daran gearbeitet und wie besessen Notizen eingefügt, doch die Karte wurde nie fertig, weil ich noch immer Namen und Orte hinzufügte, vielleicht in dem Versuch, auch sie zu einem Fluss im Maßstab eins zu eins zu machen. Marlow aus Herz der Finsternis hatte mich dazu inspiriert. „Da war ein riesengroßer Fluss“, sagt Joseph Conrads Held, „auf der Karte sah er aus wie eine riesige, gelenkige Schlange, mit dem Kopf im Meer, der Körper schlängelte sich durch die weitläufige Ebene, und der Schwanz grub sich tief in den Boden. Ich stand vor der Karte in der Auslage des Ladens, so gebannt wie eine Schlange vor einem Vogel.“ Unterwegs öffneten wir oft die Karte, aber öfter noch am Abend, wie nebenbei auf einem Wirtshaustisch. Je nach Situation oder dem untersuchten Gebiet verwandelte sie sich in eine Seezunge, einen Aal oder eine Lamprete. Zwischen Tellern mit Lasagne und mit Bonarda gefüllten Gläsern wurde die perfekte Winkelhalbierende ein saftiger Servierteller, ein Fisch mit Rückgrat und dem doppelten Kamm der seitlichen Gräten, von denen jede einen Namen trug: Oglio, Adda, Panara. Sie war mein Teppich von Bayeux, mein verrückter topografischer Talmud, die chinesische Schlange, mein Jahrmarktsbuden-Loch-Ness, ein nebeliges Wesen, das man den Ufervölkern auf dem Seziertisch darbot. Beim Abendessen wurden die Notizen und Zeichnungen darauf immer dichter, und sie zog die Aufmerksamkeit von Gästen und Passanten auf sich, forderte die staunenden Einheimischen zu Ausrufen, Erinnerungen und Notizen heraus, und das stachelte mich an, noch mehr Kommentare hinzuzufügen. Ach, die Osterie, die wunderbaren Stationen des Flusspilgers! Auf dem Meer gibt es keine. Das ist der erste Unterschied zwischen den beiden Wasserreichen. Deshalb fürchten sich die Menschen der Ebene vor dem Meer, gar nicht so sehr wegen dessen Unendlichkeit. Und deshalb sehnen sich die Matrosen auf dem Meer mehr noch nach den Osterie als nach ihren Frauen und nach Bordellen. In mezo al mare xe un’osteria, xe l’alegria del marinar. Mitten im Meer steht eine Osteria, das ist die Freude des Matrosen, singt man am östlichen Adriaufer, von Triest bis Montenegro, und beschwört etwas offensichtlich Unmögliches herauf. Tatsächlich ist die Adria, die Verlängerung des Po, das einzige Meer auf der Welt, auf dem man innerhalb eines Tages eine Osteria erreichen kann. Giacomo De Stefano, ein Veneter, der sein Leben in einem Boot ohne Motor verbringt und ohne Motor über den Po und die Donau gefahren ist, erzählt gern die Legende von den Trabaccoli, alten venezianischen Schiffen, die nie den Atlantik befahren haben, und zwar nicht aus dem banalen Grund, weil dieser groß und gefährlich ist, sondern einfach, weil sie, bei den Herkulessäulen angelangt, die riesige Fläche des Atlantiks sahen, begriffen, dass es im Atlantik keine Osterie gab, und umkehrten. Die Reise ist nun seit geraumer Zeit vorüber, doch ich stelle fest, dass ich noch immer Details auf dem komplizierten Pergament hinzufüge. Das Wasser ist ein perfekter Erzählfaden, und da sich Reisen in der Erinnerung endlos fortsetzen, ist auch die Karte wie von selbst zu einer unendlichen Geschichte geworden. Aufgrund von Aktualisierungen ist daraus ein eigenständiges zu erforschendes Labyrinth geworden, mehr als die Darstellung einer geografischen Realität. Was für...


Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, ist der erfolgreichste Reiseschriftsteller Italiens. Er berichtete für die Tageszeitung "La Repubblica" über den Afghanistan- und den Jugoslawien-Krieg. Zahlreiche Preise für sein journalistisches Engagement. Unzählige Essays, Romane und Erzählungen über seine Reisen durch Italien und an die entlegensten Orte Europas. Bei Folio erschienen: Der Leuchtturm (2017).


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